190128 Reichtum1

Digital ist noch lange nicht digital

Es gibt zahllose Studien über den Stand der Digitalisierung im deutschen Mittelstand. Die meisten Befragungen bei mittelständischen Unternehmen sind geprägt von Schulterklopfen und Selbstbeweihräucherung. Die meisten internationalen Vergleiche allerdings sprechen eine andere Sprache. Sie signalisieren eine deutsche Wirtschaft, die geprägt ist vom digitalen Mittelmaß, von Beckmesserei und Bedenkenträgertum.

Man fühlt sich an die fiktive Figur Claus Hinrich Wöllner erinnert, den Vico von Bülow, alias Loriot in den siebziger Jahren verkörperte und der in der ebenso fiktiven Wahlsendung „Der Wähler fragt“ als Vertreter der FDP den legendären Satz formuliert: „Im liberalen Sinne heißt liberal nicht nur liberal.“ Man könnte also die zahllosen Studien zum Stand der Digitalisierung im Mittelstand unter der These zusammenfassen: „im digitalen Sinne ist digital nicht nur digital.“

Das mag daran liegen, dass es keine vernünftige Definition von Digitalisierung an sich oder dem Grad der Digitalisierung gibt. Denn Digitalisierung ist eine nach oben offene Skala, deren unterste Stufe mit der Nutzung von Emails erreicht ist, deren oberes Ende aber nie erreicht werden kann, solang der Mensch als analoges Wesen das entscheidende Produktivkapital ist.

Wie missverstanden Digitalisierung sein kann, beweisen übrigens – schlimm genug – die Behörden auf ihrem Weg ins anspruchsvoll genannte eGovernment. Da gilt nämlich schon als digitales Leuchtturmprojekt, wenn Formulare online als PDF zum Download bereitgestellt werden, vom Kunden aber ausgedruckt und per Hand ausgefüllt werden müssen. Ja, selbst wenn der digitale Durchbruch so weit gelingt, ein editierbares PDF bereitzustellen, darf man getrost davon ausgehen, dass das Dokument „auf dem Amt“ zunächst ausgedruckt und abgeheftet wird.

Da ist der unternehmerische Mittelstand schon weiter, aber nicht allzu viel weiter. Denn eine eCommerce-Schwalbe macht noch lange keinen Digitalsommer. Der Ersatz einer analogen Maschinensteuerung durch eine digitale führt nicht zwangsläufig zu einem agilen Produktionsprozess, in dem interaktiv auf Kundenwünsche eingegangen werden kann. Und auch die Einrichtung von Home Offices in Corona-Zeiten führt noch nicht zwangsläufig zu Team-Zusammenarbeit, zur globalen Kollaboration oder auch nur gemeinsamen Arbeit an einem Online-Dokument. Man arbeitet weiter isoliert in Daten- und Dokumenten-Silos – ohne dass der wahre Mehrwert der Digitalisierung auch nur angekratzt würde.

Dieses niederschmetternde Urteil fällt jetzt eine Fujitsu-Studie, die nur fünf Prozent der Unternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz die Fähigkeit zuspricht, ihre Datenschätze voll ausschöpfen zu können. Die gute Nachricht: nahezu ebenso viele Unternehmen, nämlich vier Prozent, werden von Fujitsu als „Daten Hungerleider“ bezeichnet – das sind Firmen, die ihre Daten vergleichsweise chaotisch ablegen (zum Beispiel in Aktenordnern) und mehr oder weniger im Blindflug durchs Business brausen. Die Mehrheit von 90 Prozent immerhin ist sich des Datenschatzes bewusst, der durch Softwarepakete wie Enterprise Resource Planning oder Warenwirtschaftssysteme angesammelt wurden. Der Mangel an Analysemöglichkeiten jedoch, die aus Data-Hordern daten-getriebene Unternehmen machen würden, hat allerdings seine Ursache in drei einander verstärkenden Minuspunkten:

  • Da ist erstens die mangelnde Bereitschaft, disruptiv zu denken. Digitalisierung wird meist genutzt, um das gleiche Business so weiter zu betreiben wie bisher – nur eben digital. Daraus entsteht aber kein echter Gewinn.
  • Da ist zweitens die geistige Immobilität mancher IT-Abteilungen, in denen der Grundsatz „Never change a running system“ längst zum Dogma umgedeutet wird in: „Never change a system at all.“
  • Und da ist drittens die nur wenig ausgeprägte Bereitschaft der mittelständisch strukturierten Software- und Systemhäuser, das eigene Lösungsangebot fundamental zu erneuern. Statt ebenfalls disruptiv zu denken, wird evolutionär gehandelt, um bestehende Installationsbasen nicht zu gefährden.

Das mag bitter klingen – aber selbst ein so marktmächtiges Unternehmen wie SAP ist Gefangener seiner eigenen Installationsbasis. Und die Anwenderunternehmen sind es mit ihm. Der Versuch, mit Business by Design aus dieser Logik auszubrechen, ist gescheitert. Das zu analysieren wäre einen eigenen Blog wert.

Und schlimmer noch: Während uns die Fujitsu-Studie mangelnde Datenorientierung ausweist, verlieren wir bereits den Digitalisierungswettlauf in Richtung künstlicher Intelligenz, wo aus Analysen Handlungsschemata generiert werden. Digital ist eben im digitalen Sinne noch lange nicht digital, wenn wir nicht auch digital denken. Dazu wird es allerdings höchste Zeit.

Ein Gedanke zu „Digital ist noch lange nicht digital“

  1. Lieber Heinz – Paul

    Schöne Grüße vom Segeln auch von meiner Tone. Wir haben auf dem Segelboot Deinen Blog gehört.

    Leider gehören wir zu Hause auch zu den digitalen Oldtimern und haben noch viele Ordner, die wir lieben und nicht bei allen wissen, was sich darin verbringt.

    LG Toni

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