210802 Pandemie

Pandemie als Neuland

Wir führen merkwürdige Debatten in diesem Sommer. Da entscheiden Plagiatsfundstellen in – vermutlich von Ghostwritern verfassten – Büchern über die Glaubwürdigkeit von Kanzlerkandidaten, die im Falle ihrer Wahl mit ganz anderen, seriöseren Herausforderungen konfrontiert werden würden. Da experimentieren Briten mit der Frage, ob individuelle Freiheit staatlicher Fürsorge vorzuziehen ist, und lockern die Corona-Maßnahmen, während – wie zum Beispiel in Deutschland – über Maßnahmen zur Stärkung der Impfbereitschaft nachgedacht wird. Da zeigen wir erneut äußerste Anstrengungsbereitschaft NACH der Unwetterkatastrophe, aber vernachlässigen wieder einmal den Schutz VOR einer Katastrophe. Der Jahrhundertstarkregen beweist, dass wir im Grunde aus der Corona-Pandemie noch nichts gelernt haben. Wir sind immer nur schlau genug für den bereits vergangenen Tag.

Und man wird ja auch nicht schlau aus den Corona-Zahlen in Europa. In den drei Ländern, in denen sogenannte Multispreader-Events die Verbreitung der Delta-Variante beflügelt haben – nämlich in den Niederlanden bei einem Outdoor-Festival, in Großbritannien mit der Fußball-Europameisterschaft, in Portugal durch das Champions-League-Finale und die nachfolgende Meisterschaftsfeier – sinken derzeit die Inzidenzen, wenngleich auf hohem Niveau. In Frankreich, Italien, Deutschland und der Schweiz steigen sie, wenngleich auf niedrigem Niveau.

Gibt es sowas wie die Relativitätstheorie der Inzidenzen? Die Inzidenz in einem Land ist mit der Inzidenz in einem anderen Land nicht zu vergleichen, weil beide nicht das gleiche Bezugssystem haben? Ist der Inzidenzwert, wie RKI-Präsident Stefan Wieler beharrt, wirklich der entscheidende Richtwert? Oder ist es einfach nur die Impfquote, die gerade in Großbritannien besonders hoch ist und deshalb zum Versuch am lebenden Volkskörper verleitet, indem alle Corona-Maßnahmen gelockert werden. In Deutschland mit derzeit 52 Prozent vollständig Geimpften glaubt man hingegen, dass die vierte Welle mit der Impfquote allein nicht flach gehalten werden kann. Zusätzliche Basismaßnahmen werden deshalb vorbereitet, um einer Inzidenz von 800 im Herbst zu verhindern, vor der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn jetzt warnte.

Auch im Jahr Zwei von Corona, ist die Pandemie für die Entscheider in Bund und Land immer noch Neuland, um ein Kanzlerinnenwort zu missbrauchen. Dabei zeichnen sich jetzt bereits grausige Wiederholungen ab: Zuerst werden bei Kontakten und Mobilität Zurückhaltung angeraten und Beschränkungen  auferlegt, Reiserückkehrern droht Testpflicht und Quarantäne. In fünf von 16 Bundesländern beginnt in diesen Tagen wieder der reguläre Schulbetrieb – aber wird er auch regulär bleiben?

Die Bildungseinrichtungen im Land wirken ähnlich unvorbereitet auf einen Distanzunterricht wie vor einem Jahr. Noch immer streiten Datenschützer über die Unbedenklichkeit von ansonsten hervorragend funktionierender Software. Noch immer wird über die Anschaffung von Luftfiltern gerungen. Noch immer gibt es kein vollständiges Angebot an für den Distanzunterricht geeigneten Lehrmitteln. Noch immer wissen wir nicht, wie Eltern beim Home Schooling entlastet werden können. Und noch immer wissen wir nicht genau, ob wir Schüler nun  eigentlich impfen sollten oder nicht.

Und gleichzeitig entwickelt sich neben den Corona-Leugnern, Querdenkern und Impfverweigerern eine vierte Gruppe – die der Sorglosen. Die Zahl der Erstimpfungen geht zurück, die Impfbereitschaft sinkt ausgerechnet jetzt, wo genügend Impfstoff vorhanden ist. Es will scheinen, dass immer mehr Menschen zu einer Risikoeinschätzung zurückkehren, wie sie schon zu Beginn der Pandemie im Februar 2020 zu beobachten war: Corona ist für sie auch nichts anderes als eine Grippe-Welle – nur mit höherem Aufmerksamkeitswert.

Irgendwie ähnelt die Corona-Stimmung in Deutschland der Einstellung zur Digitalisierung. Auch dort gibt es Leugner, Verweigerer, Gleichgültige und solche, die die notwendigen Entscheidungen verschleppen. In dieser Stimmung führen wir einen Bundestagswahlkampf durch und lähmen die Entscheidungsfähigkeit der Politik bis zum Wahlgang und dem Ende von vermutlich langanhaltenden Koalitionsverhandlungen. In der Zwischenzeit schläft weder das Virus noch der digitale Fortschritt – beides ist bekanntlich immer noch Neuland.

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