211206 Farbfilm

Ihr habt den Farbfilm vergessen

Mit dem großen Zapfenstreich endete ein wenig voroffiziell die Ära Merkel. Gespielt wurden Songs, mit denen die scheidende Bundeskanzlerin ein wenig selbstironisch ihre Amtszeit skizzierte: Der – zumindest in der damaligen DDR – äußerst beliebte Nina-Hagen-Hit „Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael“ und das in Westdeutschland Ende der sechziger Jahre von Hildegard Knef interpretierte Chanson „Für mich soll´s rote Rosen regnen“ zeugen beide von hohen Erwartungen an das Leben und die Erinnerung daran in Schwarzweiß. Dass am Ende alles gut war, befand die Pfarrerstochter Angela Merkel mit dem Choral „Großer Gott, wir loben dich“. Mit der Entlassungsurkunde durch den Bundespräsidenten endet dann diese Woche nach der voraussichtlichen Wahl von Olaf Scholz die Ära Merkel nach 16 Jahren.

Ein Ende der „Mäkel-Ära“ ist dagegen noch nicht abzusehen und bei ihrem Ende bedarf es auch keines großen Zapfenstreichs, sondern eher einer Beisetzung im Massengrab. Denn gemäkelt wird weiter munter in den Massenmedien. Polit-Talker wie Illner, Maischberger, Will, Lanz oder Plasberg werden wohl auch weiterhin an allem und jedem etwas auszusetzen haben und die politische Elite in Stuhlkreisen vorführen. Während sie selbst sich um ihr Geschwätz von gestern nicht groß kümmern, werfen sie gebetsmühlenartig ihren Gästen die Irrtümer von gestern und vorgestern vor. Sie beobachten nicht mit einem Farbfilm, sondern im unterbelichteten Schwarzweiß: Wie Captain Hindsight wissen sie immer erst im Nachhinein, was besser hätte getan werden müssen. Das Mäkeln bestimmt inzwischen die politische Grundtonart im Wettbewerb der Talker um Aufmerksamkeit.

Dabei leiden sie selbst unter einem erheblichen Aufmerksamkeitsdefizit. Stets unterbrechen sie die Befragten, als gehörte das Dazwischenreden inzwischen zum guten Ton. Dabei müssten sie eigentlich wissen: Wer sich mit komplexen Themen wie Klima, Pandemie, Verkehrswende, Digitalisierung, Innovation, Steuern oder Europa befassen will, muss auch die Ausdauer entwickeln, komplexen Antworten und Lösungsvorschlägen zu lauschen. Doch alles wird unterbrochen und runtergebrochen auf vermeintlich einfache Fragen wie „Lockdown ja oder nein?“ oder „Wer führt denn nun das Gesundheitsministerium?“

Es ist kein Wunder, dass Politiker inzwischen den gleichen Rhetorikkurs im Durchquatschen absolviert haben und auf die Fragen der Talker gar nicht mehr eingehen, sondern erst einmal ihr Statement abgeben. Denn sie wissen ja bereits, dass sie spätestens im dritten Satz unterbrochen werden. Wo zwischen unterschiedlichen Standpunkten gemakelt werden sollte, wird einfach nur noch gemäkelt. Es wird nicht miteinander diskutiert, sondern aneinander vorbei.

Darüber ist uns längst die Streitkultur abhandengekommen. Die Auseinandersetzung mit dem Andersdenkenden endet in Populismus oder Negativismus. Wir können nicht mehr überzeugen, sondern nur noch überreden, wenn nicht gar überbrüllen, weil wir auch nicht mehr zuhören können. Die Talkshows sind nicht die Ursache, aber das Spiegelbild einer sprachlosen und gehörlosen Gesellschaft.

Wir werden auch in nächster Zeit nicht die Querulanten und Querdenker erreichen, um sie vom Impfen zu überzeugen. Es fällt ja schon einsichtigeren Geistern schwer, den verfassungsrechtlich relevanten Unterschied zwischen Impfpflicht und Impfzwang zu verstehen. Auch die komplexen Zusammenhänge von Wetter und Klima sind nur schwer zu vermitteln und müssen auf einfache Slogans verdichtet werden. Und auch ein vertieftes Verständnis von Technologien wie beispielsweise künstlicher Intelligenz fehlt in der Bevölkerung, wie Befragungen immer wieder zeigen. Denn nicht alles, was komplex ist, ist auch gleich KI. Sonst wäre ja der Farbfilm intelligenter als der Schwarzweißfilm, weil er die Wirklichkeit genauer wiedergeben kann. Aber beides ist einfach nur Chemie.

Dabei ist es wichtig, Kritik zu üben, um das Gute durch Besseres zu ersetzen. Nur so gelingt Fortschritt. Schlechte Politik, schlechtes Wirtschaften oder schlechtes Management muss man auch weiterhin anprangern. Denn nur durch den Diskurs kommen wir auf Kurs. Es scheint, dass die Ampel-Koalitionäre das begriffen haben. Denn sie haben in ihren Verhandlungen ganz offensichtlich eine neue Streitkultur versucht. Was daraus werden wird, können wir nur erhoffen. Wir brauchen nach der Merkel-Ära auch das Ende der Mäkel-Ära. Wir brauchen mehr Farbe.

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