VW: Virtuelle Welten

Dass man auch zu schnell bloggen kann, hat die vergangene Woche bewiesen, als die Abgas-Manipulationen bei Volkswagen noch als Verdacht im Raum standen, bei Erscheinen des Blogs aber schon längst vom Wolfsburger Konzern eingestanden worden waren. Zwar geben auch die drohenden Milliardenstrafen keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass Volkswagen wie auch die anderen Automobilhersteller mit der Digitalisierung unseres Lebens – ob nun in der industriellen Produktion oder im total vernetzten Leben – den „Erfolg wagen“ werden und alle Chancen für den Wettlauf um die Zukunft haben. Aber die Gegenwart ist für den deutschen Automobilbau und die Marke „Made in Germany“ doch deutlich düsterer. Soviel dazu.

Aber wie steht es um die Reputation der Software-Industrie? Welches Zutrauen dürfen wir in von Menschen veranlasstem und erstelltem Code haben, der unser Leben beeinflusst? Welche Sicherheit haben wir, dass Analysen, die sich auf Algorithmen stützen, auch tatsächlich stimmen?

Dass also nach dem VW-GAU die Zukunft ganz allgemein nicht mehr ganz so strahlend erscheint, liegt an diesem schleichenden Verdacht über den Realitätsbezug virtueller Welten – und von einem Algorithmus wiedergegebene Wirklichkeiten sind immer virtuell. Sie sind bereits interpretiert – und wie wir jetzt sehen können, mitunter auch manipuliert.

Denn was die – immerhin schon satte zehn Jahre alte – Software am Auspuff eines VW Diesel vortäuschen konnte, kann vom Grundsatz her jede Analysesoftware, wenn sie zugleich mit der Absicht konzipiert wurde, die wahren Ergebnisse im Sinne des Erfinders zu beeinflussen. Wenn also die Qualität eines Produkts während eines Tests im Sinne des Herstellers korrigiert werden kann, warum dann nicht auch während eines Fertigungsprozesses? Weniger Ausschuss? – Kein Problem, wir messen einfach unter bestimmten Bedingungen weniger genau!

Mehr Kranke? Kein Problem, wir messen einfach weniger genau und schreiben falsche Werte in die Gesundheitskarte!

Oder der umgekehrte Fall: bessere vermeintliche Wirkung der Therapie. Die EU hatte unlängst unzählige Medikamente vom Markt genommen, weil sich die für ihre Zulassung von einem indischen Unternehmen gefertigten klinischen Studien als gefälscht herausstellten. Wenn hier auch Datenmaterial per Hand manipuliert wurde, ist eine gefälschte Messmethode in ähnlich gelagerten Fällen doch durchaus denkbar.

Läuft der Reaktor heiß? Wer´s nicht weiß, dem wird’s nicht heiß.

Können wir wirklich sicher sein, dass die Überwachungsvereine und Qualitätsmanager tatsächlich jeden Test- und Versagensfall ausgeschlossen haben, wenn eine Software in den produktiven Betrieb geht?

Und selbst wenn: Die Börsencrashs der Vergangenheit haben gezeigt, dass auch Softwaresysteme, die genau das tun, was sie sollen, gerade dadurch, dass alle Broker auf ihre Empfehlungen vertrauen, die gleiche Aktion starten und damit den Crash in Millisekunden sogar noch beschleunigen. Nicht erst der derzeit anhängende Fall zum Schwarzen Montag wirft diese Frage auf.

Wir müssen in immer komplexeren Zusammenhängen denken und Entscheidungen treffen. Dies können wir meist nur, wenn uns Softwaresysteme dabei helfen, die Komplexität zu meistern sowie Zusammenhänge und Konsequenzen zu erkennen. Doch die Ergebnisse, die Softwaresysteme ausspucken, sind immer nur virtuelle Welten, also Abbilder der Wirklichkeit, die wir durch einen Filter sehen, den wir selbst geschaffen haben. Womit und zu welchem Zweck ist uns beim Benutzen dieser Software-Lupen nicht immer klar.

Die folgende Liste ist eine kleine Übersicht von softwareinduzierten Ausfällen und Fehlleistungen der letzten zwei Wochen:

25. September: Sparkassenautomaten lahmgelegt. Angeblicher Grund: Softwarefehler.

14. September: OB-Auszählung in Herne verzögert. Angeblicher Grund: Softwarefehler.

13. September: Falsche Elterngeldbescheide in Pankow verschickt. Angeblicher Grund: Softwarefehler.

Die Liste kann nur unter Vorbehalt gelten, denn ihr liegt eine Google-Auswertung zugrunde. Und ob die vollständig oder ungefiltert ist, dafür mag wohl niemand seine Hand ins Feuer legen.

Der VW-GAU ist nicht allein ein Sündenfall der Automobilindustrie. Er zeigt vielmehr auf, wie anfällig unsere digitale, unsere virtuelle Welt für Manipulationen sein kann. Wir müssen gewarnt sein, sonst stinkt nicht nur der Abgas-Skandal zum Himmel.

 

Erfolg wagen

„Ein Auto ist der beste Datenträger, den man sich denken kann“, sagt Martin Winterkorn, Vorstandsvorsitzender von Volkswagen. Nur, dass diese Datenträger auch Personen befördern können oder Lasten. Und das demnächst sogar selbständig. Dazu braucht es noch mehr Sensoren, die noch mehr Daten liefern, und noch mehr Algorithmen, die daraus die richtigen Aktivitäten ableiten. Bereits heute hat beispielsweise ein VW Golf mehr als 50 Steuergeräte und mehr Rechenleistung als 20 Highend-PCs. Hinzu kommen rund 100 Sensoren, mit denen das Fahrverhalten und der Systemzustand gemessen werden können. Da die Daten auch gespeichert werden, behütet jedes moderne Fahrzeug einen ungeheuren Datenschatz über seine Nutzer und seine Nutzung.

Ein Datenschatz, den die Internetriesen gerne heben würden. Dazu eröffnen sich ihnen zwei Wege: Entweder, sie bauen selbst Autos, wie dies derzeit offensichtlich Google anstrebt, oder sie kooperieren mit den etablierten Automobilbauern – auch da ist Google aktiv. In jedem Fall nähern sich Internetwirtschaft und Automobilbau mit Riesenschritten an. Was dabei herauskommt ist das wahrhaft mobile Internet auf Rädern und das Auto 4.0. Es wird vier neue Disziplinen beherrschen: es kann – zumindest auf der Autobahn – selbständig fahren, einen Parkplatz automatisch ansteuern und einparken, Daten zu Fahrverhalten und Nutzung, zur Sicherheit und zur Navigation sammeln und es wird mit seinen Batterien der Nachtspeicher für die digitalisierte Haustechnik.

Wie einflussreich die Softwareausstattung für den wirtschaftlichen und technischen Erfolg eines Fahrzeugs sein kann, illustriert jetzt der Streit zwischen Volkswagen und der US-amerikanischen Umweltbehörde, die dem Wolfsburger Konzern vorwirft, mit seiner Software getrickst zu haben, um die Umweltwerte in einem besseren Licht dastehen zu lassen. Sollte sich der Vorwurf bewahrheiten, war in knapp einer halben Million Fahrzeugen eine Kontrollsoftware so eingestellt, dass die Autos bei Tests die notwendigen Umweltwerte einhielten, sich aber im laufenden Fahrbetrieb deaktiviert. Die Autos müssen jetzt in die Werkstätten zurückgerufen werden, VW drohen Zahlungen in Milliardenhöhe.

Der Fall illustriert, wie einflussreich Software inzwischen im Automobil geworden ist. Mehr noch aber sind es die Daten, deren Auswertbarkeit die digitale Revolution im Automobilbau befeuern. Neben den bereits fest angestellten rund 11000 Softwerkern hat Volkwagen deshalb ein Data Lab in München gegründet und plant weltweit weitere Zentren. Auch Daimler und BMW investieren heftig in Business Intelligence, um einerseits das vernetzte Auto smarter und andererseits die eigene Produktion noch effektiver, sprich: kostengünstiger, zu machen. So hat VW beispielsweise aus dem eigenen Datenschatz prognostizieren lassen, wie viele und welche Ersatzteile für ausgemusterte Modelle noch bevorratet sein sollten. Zuviel vom falschen Ersatzteil kann Millionen verschlucken.

Diese Labors arbeiten grundverschieden von den Automobil-Hauptquartieren in Wolfsburg, Stuttgart oder München. Deshalb sind die Automobilkonzerne längst zu Inkubatoren für eine Internet-orientierte Startup-Szene geworden. Junge, bestens ausgebildete Informatiker an sich zu binden – wenn auch nicht im eigenen Konzern –, ist ein entscheidender Bestandteil des Wettlaufs um das Automobil der Zukunft. Hier nehmen die Deutschen längst den Wettbewerb mit den US-amerikanischen Internetkonzernen an. Kooperieren ja, aber keine Selbstentleibung bei den wichtigsten Zukunftsthemen.

Der Erfolgswagen der Zukunft ist auf allen Ebenen digital definiert. Bei seiner Entwicklung helfen Supercomputer, bei seiner Produktion wirken die Mechanismen von Industrie 4.0, bei seinen Features nutzt er das Internet der Dinge und als Datenspeicher schafft er die Basis für seine Weiterentwicklung. Dass er auch noch teilautonom fahren lernt, gerät da fast schon zur Nebensache. „In drei Jahren“, so sagt man bei Daimler voraus, fahren die ersten Lastwagen unter menschlicher Beobachtung auf deutschen Autobahnen weitgehend selbständig. Bei allen Ressentiments – auch diesen Erfolg muss man einfach mal wagen.

 

Nicht hilfreich

„Nicht hilfreich“ ist eine extrem dehnbare Formulierung – von unbrauchbar über unnötig oder überflüssig bis zum Vorwurf mangelnder Kooperation lässt sich alles hineininterpretieren. Etwas Positives ist dabei jedoch kaum zu erwarten. Im Berliner Politik-Sprech aber hat „nicht hilfreich“ eine geradezu vernichtende Bedeutung – vor allem, wenn diese Formulierung von der Kanzlerin kommt. Dann darf man sich als Urheber einer „nicht hilfreichen“ Maßnahme oder Äußerung durchaus durch das Kanzleramt  abgekanzelt fühlen.

Nun hat Angela Merkel möglicherweise nicht als deutsche Bundeskanzlerin gesprochen, als sie am Wochenende auf den Veranstaltungen „#cnight“ und „#CDUdigital“ die vom Bundesfinanzministerium zur Diskussion gestellten Pläne zur Besteuerung von Risikokapital als „nicht hilfreich“ bezeichnete. Die Pläne, Erlöse aus Streubesitz auch dann sofort zu besteuern, wenn sie reinvestiert werden, hatten mächtig für Aufregung in der Startup-Szene gesorgt. Denn die bisherige Praxis, die Besteuerung auszusetzen, solange der Erlös aus Risikokapital unmittelbar in weitere Engagements fließt, ist ein wichtiger Motivator für Venture Capitalists, sich immer und immer wieder in der Gründerszene zu engagieren. Deshalb hatte es bei Vertretern der Kapitalbeteiligungsgesellschaften und aus den Reihen der Netzwirtschaft wortreichen Widerstand gegeben. Die Internet-Startups – ohnehin mit dem Bloggen schnell bei der Hand – hatten über ihre Kanäle einen wahren Shitstorm erhoben. Motto: Wer in Deutschland Innovationen und neue Firmengründungen will, darf nicht die Elemente, die zur Belebung der Gründerszene dienen, mutwillig eliminieren. Florian Noell, Vorsitzender des Bundesverbands Deutsche Startups erkannte in den Plänen eine „Verunsicherung der Gründerszene“, was innerhalb des Berliner Politik-Sprech so viel heißt wie „nicht hilfreich“. Auch der Bonnblog hat sich dieser Argumentation angeschlossen.

Und auch die Kanzlerin scheint diesen Argumentationsgang für durchaus hilfreich zu halten. Sie stellte in ihrer Rede exakt den gleichen Zusammenhang zwischen Anreizen zur Risikokapitalisierung und der Innovationsförderung durch Startups her. Denn, so machte sie klar, in Deutschland müsse nun mal von Zeit zu Zeit etwas produziert werden, für das sich Abnehmer im Ausland interessierten. Das sei nur durch einen Mix aus etablierter Wirtschaft (brick and mortar) und der Internetwirtschaft (click and portal) möglich. Die Vertreter des Bundesverbands Deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften und des Bundesverbands digitale Wirtschaft, die ausweislich der CDU-Homepage beide zu den Unterstützern der Veranstaltung gehört hatten, werden es mit Freude zur Kenntnis genommen haben.

Die Kuh scheint in der Tat vom Eis zu sein, wenn nicht sogar bereits erlegt. Die Kanzlerin sprach von diesen Plänen bereits in der Vergangenheitsform – so als hätte das Bundesfinanzministerium das Diskussionspapier bereits stillschweigend kassiert. Der „Tötungsvorgang“, so der O-Ton der Kanzlerin, sei bereits eingeleitet. Stattdessen soll das Startup-Gesetz nachgebessert werden. Deutschland braucht die „Digital Natives“, die mit dem Internet aufgewachsen sind, als Jungunternehmen, um, wie die Kanzlerin warnte, nicht als verlängerte Werkbank der Digitalkonzerne aus den USA und Asien zu enden. Das wäre in der Tat „nicht hilfreich“.

Komplizierte Compliance

Die Geschichte ist so klebrig wie eine viel genutzte Türklinke.

“Der Spiegel“ und „Fakt“ hatten Einsicht in den Schriftverkehr zwischen dem Top-Management der SAP und einem internen Prüfer – und berichteten darüber. Das ist die Aufgabe der Medien.

Der Prüfer war mit einem internen Audit rund um die Entwicklung der InMemory-Datenbank Hana befasst, hatte Missstände festgestellt und dem SAP Vorstand berichtet. Das ist die Aufgabe der Prüfer.

Das SAP Management ist der Sache nachgegangen, hat mehr Details und vor allem Beweise verlangt und sich in einem jahrelangen, sich allmählich verhärtenden Dialog mit dem Prüfer auseinandergesetzt. Das ist die Aufgabe des Managements. Ob es diese Aufgabe gut gelöst hat, sei einmal dahingestellt.

Der Mann, der im „Spiegel“ Sebastian Miller ist, ist kein Whistle Blower vom Schlage Edward Snowdens. Der hatte als Motiv für seine NSA-Enthüllungen höhere, ja hehre Ziele und dafür persönliche Verfolgung und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit in Kauf genommen. „Sebastian Miller“ hat – ob willentlich und wissentlich ist unklar – über seinen Vater und Anwalt Millionenforderungen an seinen Arbeitgeber gestellt. Das Wort Erpressung steht im Raum.

Und SAP, dessen Gegenwart und Zukunft am weiteren wirtschaftlichen Erfolg der Hana-Architektur hängt? Zunächst einmal gilt die Unschuldsvermutung, auf die jede Rechtsperson – und eben auch Unternehmen – ein Recht hat. Das gilt erst recht, nachdem SAP die unselige Geschichte um die eingestandenen fünf Terabyte heruntergeladener Dokumentationen von Oracle und PeopleSoft schiedlich-friedlich beigelegt hatte. Und konkrete Beweise für eine Verletzung von Urheberrechten Dritter – im aktuellen Fall werden IBM, Oracle, RIM und Teradata genannt – scheinen bislang ohnehin nicht vorzuliegen.

Doch der Weg zur blütenweißen Compliance-Weste ist ohnehin ein schmaler Grat, den einzuhalten ständige Aufsicht über Projekte, Prozesse und Personal verlangt. Wo liegt die Grenze zwischen Inspiration und Konspiration, wenn zwei Technologiefirmen – wie im Falle von Teradata und SAP – über einen optimierten Datenaustausch zwischen zwei Datenbank-Architekturen diskutieren und dabei Schnittstellen, Technologien und Techniken offenlegen? Können Verschwiegenheitsverpflichtungen Mitarbeiter wirklich davor bewahren, eine fremde Idee aufzugreifen und so in die eigene Gedankenwelt zu übernehmen, dass kaum noch zu erkennen ist, wessen geistiges Eigentum hier tatsächlich berührt worden war?

Compliance ist kompliziert – deshalb müssen alle Beteiligten hellwach sein und selbstkritisch das eigene Verhalten prüfen, Regeln aufstellen und ihre Einhaltung überwachen. Aber Compliance ist auch deshalb kompliziert, weil die Grenze zwischen legal und legitim von niemandem vorgezeichnet werden kann. Und Urheberrechtsverletzungen sind in einer digitalisierten Welt noch komplizierter. Dies gilt erst recht, seit im Software-Markt Trivial-Patente für den noch so kleinen Code vergeben werden. Zwischen Kapieren und Kopieren ist da kaum noch eine sichere Demarkationslinie zu ziehen. Das Plagiat beginnt bei falsch zitierten Quellen und endet nicht beim Auskundschaften fremden Datenmaterials.

So wenig konkret die Anschuldigungen sein mögen – so konkret ist der Schaden, den ein Unternehmen aus diesen Vorwürfen ziehen kann. Im aktuellen Fall hat der Prüfer selbst den kumulierten Schaden für die SAP, der sich aus Schadensersatzzahlungen, Strafen und Wertverlust ergeben könnte, auf satte 35 Milliarden Euro beziffert. Ein Horrorszenario für jedes Unternehmen. Der aktuelle SAP-Kurs gibt bereits nach.

Der Mann, der im „Spiegel“ Sebastian Miller ist, hat jetzt schon Geschichte geschrieben. Ob diese Geschichte einmal unter seinem Klarnamen geschrieben werden wird, ist fast schon unerheblich. Es ist die Geschichte, wie kompliziert Compliance ist – und wie leicht ein Vorwurf zur Vorverurteilung werden kann. Das Gerücht ist nun mal schneller als das Gericht.