Der globale Reissack

Was waren das für Zeiten, als wir noch unbedacht und achselzuckend ausrufen konnten „…oder wenn in China ein Sack Reis umfällt!“ Der chinesische Sack Reis ist uns inzwischen näher als das berühmte Hemd, während wir kaum noch Rock zum Jackett sagen und deshalb auch diese Volksweisheit schon gar nicht mehr richtig deuten können. Dafür fängt jetzt bei uns der frühe Vogel den Wurm – ein aus dem angloamerikanischen Sprachraum eingebürgertes Sprichwort -, während die Morgenstunde schon lange kein Gold mehr im Mund hat, sondern höchstens Elmex.

Die Globalisierung hat auch vor unserem Sprachgebrauch nicht Halt gemacht. Und für viele Sprachpuristen ist das auch schon wieder Anlass, den Untergang des Abendlandes nahen zu sehen. Denn erst, so die Meinung der Populisten, raubt sie uns die Arbeitsplätze und dann die Identität. Dass diese Einschätzung einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhält, hat jetzt die Bertelsmann-Stiftung festgehalten, die Deutschland in ihrem Globalisierungsreport 2016 als einen der Gewinner der Globalisierung identifiziert. Den Deutschen geht es nicht nur besser, seit sich Märkte und Macher international vernetzen. Es gibt auch nur wenige (meist kleinere) Länder, in denen die Bevölkerung noch stärker profitiert hat.

Immerhin den Gegenwert eines Mittelklassewagens – rund 27.000 Euro – hat jeder Deutsche seit der Jahrtausendwende mehr zur Verfügung. Der (ehemalige) Exportweltmeister kann sich unverdrossen auf seine bewährte Strategie als Ausrüster der Weltwirtschaft (Maschinenbau) und Ausstatter der Mobilitätsgesellschaft (Automobilbau) stützen. Das gilt, auch wenn international immer mehr Konkurrenz in diesen und anderen Branchen erwächst.

Denn auch Wettbewerb hat seine guten Seiten. Der wachsende Konkurrenzdruck zwingt zur fortgesetzten Rationalisierung des Fertigungsprozesses. Nicht nur die Produkte werden durch Vernetzung und Digitalisierung immer smarter, ihre Produktion wird es auch. Sie wird allerdings auch immer komplexer. Deshalb ist es keine Überraschung, dass sich Industrie-4.0-Projekte länger hinziehen als die Niederschrift eines Zeitungskommentars, in dem mal wieder die zögerliche Umsetzung des Internets der Dinge durch die deutsche Industrie beklagt wird.

Welche Ausmaße ein solches Projekt annehmen kann, hat Siemens jetzt eindrucksvoll offengelegt. In einer völlig neu konzipierten Fertigungsstraße sammeln rund tausend Sensoren die Informationen über den Arbeitsfortschritt an der nahezu vollständig automatisierten Produktionslinie. Rund eine Million Daten kommen so täglich zusammen, die eine detaillierte Steuerung von Taktfrequenz, Produktvarianten, Stromverbrauch ermöglichen und das Einschreiten bei Störungen signifikant beschleunigen. Nur so, sind sich die Industrie-4.0-Planer sicher, können die Produktionsstandorte hierzulande gesichert werden.

Siemens ist groß und die Welt ist weit, möchte mancher einwenden. Aber auch der Mittelstand operiert an Rationalisierungsprojekten, die nicht nur dabei helfen, Kosten zu sparen, sondern auch die Effizienz und Flexibilität bei der Herstellung immer komplexer werdender Produkte stärken. In den USA, so besagt eine auf den englischsprachigen Raum beschränkte Industriestudie, haben sich bereits zwei Drittel der untersuchten mittelständischen Unternehmen für Cloud-Lösungen und den Einsatz von hochspezialisierten Apps entschieden. Dabei zeigt sich, dass sich die Firmen, die sich für eine Cloud-Strategie entschieden haben, ganz allgemein stärker in Innovationsinvestments engagieren.

Zugleich ist es interessant, dass nach einer deutschen Studie kleine und mittlere Unternehmen den Erfolg einer Innovation vor allem daran bemessen, wie sehr die neue Technik dabei hilft, Kosten zu sparen. In den USA hingegen wird Umsatzsteigerung als ultimativer Erfolgsfaktor gesehen. Dort wird Expansion um jeden Preis gesucht. Bei uns muss erst der Preis stimmen, ehe die Expansionspläne greifen.

Wir können uns nicht gegen die Globalisierung entscheiden, aber wir haben die Wahl der Mittel, wie und in welchem Umfang wir von der internationalen Vernetzung profitieren wollen. Der Wettlauf um die Märkte beginnt an der eigenen Produktionslinie. Die sollte uns immer noch näher sein als der sprichwörtliche Sack Reis.

 

Gesucht: Leitmesse für digitale Transformation

Ein Staubsauger, der Einbrecher filmt und die Polizei ruft? Nein, wir berichten nicht von der Scheibenwelt des seligen Terry Pratchett, sondern von der IFA in Berlin. Genauer gesagt vom Stand des chinesischen Newcomers Ecovacs, der wie viele Anbieter aus dem asiatischen Raum die Internationale Funkausstellung zum Sprungbrett nach Europa nutzen und mit vernetzen Geräten punkten will. Das gilt auch für längst etablierte, hierzulande aber noch völlig unbekannte Anbieter wie Haier, der mit 36 Milliarden Dollar Umsatz der mit Abstand größte Anbieter bei Haushaltsgeräten ist. Herde, die bei Bedarf die Dunstabzugshaube einschalten, Kühlschränke, die immerhin ein Bild von ihrem Innern liefern, und eben Haushaltsroboter für alle Zwecke, die über das Internet aktiviert werden können. Dabei geht es auch total analog – mit der Socken-Klappe von Samsung, die es erlaubt, noch schnell vergessene Kleinteile in den bereits laufenden Waschgang zu geben…

Seit genau zehn Jahren findet die IFA als Messe für Unterhaltungselektronik im jährlichen Turnus statt. Und seit einer Dekade ist auch die weiße Ware, sind die Haushaltsgeräte regelmäßiger Bestandteil des Ausstellungsportfolios. Das hat zu einer geradezu explosionsartigen Ausweitung des Aussteller-Mix geführt: Neben Unterhaltungselektronik und Haushaltgeräten kann man unter dem Funkturm in Berlin noch bis zum 7. September intelligente Gebäudetechnik, 3D-Druck, Robotik, Automobiltechnik und Internet-Technologien besichtigen. Auf der IFA kämpfen klassische Konzerne wie Siemens/Bosch mit Startups um die Aufmerksamkeit eines immer diffuser werdenden Publikums. Wer zum Beispiel Hi-Fi-Geräte präsentieren will, findet heute mit größerer Sicherheit sein Zielpublikum bei der High End Messe in München.

Ein Phänomen, das auch die Messe-Nachbarn in Hannover kennen. Sowohl die Industriemesse als auch die CeBIT müssen praktisch Jahr für Jahr ihr Profil neu schärfen, weil die Digitalisierung in allen Bereichen voranschreitet. Wo vorgestern noch Bürokommunikation das Ein und Alles war, hat sich das CeBIT-Profil von der Automation über das Home Computing bis zum Mobile Computing immer wieder neu in Richtung der privaten Konsumenten ausrichten müssen. Der Industriemesse widerfuhr das gleiche Schicksal, als sich neben die Maschinen für die Fertigung auch Roboter und Anlagen für das Smart Home gesellten. Digitalisierung ist immer und überall – das gilt für das ganz reale Leben ebenso wie für die Messewirtschaft. Und schon melden sich von der Gamescom Köln die Stimmen nach einer stärkeren Förderung und Integration der Spielewelt. Spätestens mit der Anwendungen der virtuellen Realität ist die Technik zwischen Spielerlebnis und professioneller Simulation fließend geworden.

Wo ist sie also, die alles integrierende Digitalmesse, die von ihrem Allgemeingültigkeitsanspruch her mit der Consumer Electronics Show in Las Vegas gleichziehen könnte. Zwar nennen sich Industriemesse, CeBIT, IFA und Gamescom Leitmessen für ihren jeweiligen Wahrnehmungsbereich – doch die großen Ankündigungen finden jeden Januar im US-amerikanischen Wüstenort statt. Seit auch die Automobilbauer zur CES pilgern, wird auch der fünften europäischen Leitmesse, der IAA in Frankfurt im Spielerparadies Konkurrenz gemacht.

Alle Branchen – und damit auch alle Fachmessen – stehen unter dem Einfluss der digitalen Transformation und ihrer Protagonisten. Während die etablierten Anbieter sich mit digitalen Zusatzfunktionen zu ihren bewährten Geräten in die digitale Welt vorantasten, sind es vor allem die Startups, die die tatsächliche Zeitenwende einläuten. Sie sind praktisch ausschließlich um eine innovative Geschäftsidee herum gegründet und brechen so mit einer Vergangenheit, die ohnehin nicht die ihre ist. Sie sind die eigentlichen Gestalter der neuen Messelandschaft – wenn es denn überhaupt gelingt, sie in das traditionelle und noch überwiegend analog auf Ausstellungshallen ausgelegte Messegeschäft einzubinden. Der CeBIT ist dies in diesem Jahr gelungen. Die IFA zeigt ebenfalls deutliche Anzeichen dazu. Die Automobilmesse und die Industriemesse liegen im Trend naturgemäß noch zurück. Industrielle Startups brauchen länger für die Entwicklung ihrer Innovationen als die Gründer von App-Entwicklern und Shop-Betreibern.

Aber der Trend ist da: Messen müssen sich daran messen lassen, wie sehr sie den Gründern Grund geben, sich als Aussteller in einer analogen Welt der Hallen und Schaubuden zu präsentieren, statt sich in sozialen Netzen und Communities zu „connecten“. Sonst würden Ausstellungen und Messen zu Opfern der Digitalisierung. Und das wäre doch schade.

 

Survival of the Fittest

Die Fitness-Welle, die seit den „Trimm-Dich“-Spielen der goldigen Siebziger Jahre so manchen merkwürdigen Zeitvertreib von Aerobic über Zumba bis Piloxing hervorgerufen hat, verspricht ihren schuftenden, schwitzenden Anbetern körperliche Schönheit und dadurch Lebensverlängerung. Und wer verspicht, andere „fit für die Zukunft“ zu machen, der lässt Bilder von einem agilen Geist in schönen Körpern entstehen. Wer wollte das nicht wollen? Tatsächlich aber dachte der Sozialphilosoph Herbert Spencer, auf den der später durch Charles Darwin berühmt gewordene Begriff vom „Survival of the Fittest“ zurückgeht, gar nicht an Stärke oder Agilität, sondern an eine größtmögliche Anpassung an die äußeren Umstände. „Fit“ ist nicht der Stärkere, so erkannten beide bei der Beobachtung der Evolution, sondern der, der sich auf seine Lebensumstände am besten einzustellen versteht. Das Dasein mag so armselig sein wie das einer Amöbe – aber es zahlt sich aus…

Dass sich diese Erkenntnis auch auf das Wirtschaftsleben ausdehnen lässt, hat schon seit jeher die Beratungsbranche belebt, die besondere Fitness-Trainings fürs Manager und Trendscouts im Angebot hat. Dabei geht es immer weniger um den „Kampf ums Dasein“, sondern vielmehr um den Kampf ums Dableiben. Gründen ist leicht im Vergleich zum Überleben! Das beweist bereits ein Blick auf die Fortune500-Liste, den das American Enterprise Institute veröffentlich hat. Danach waren nur noch 61 Unternehmen, die die Liste der 500 umsatzstärksten Unternehmen vor 60 Jahren aufgeführt hatte, auch 2015 noch dabei – darunter Konzerne, die zahllose Häutungen hinter sich haben wie IBM und General Electric.

Mehr noch: Auf der Basis von Unternehmensdaten aus über 100 Jahren hatte das Marktbeobachtungsunternehmen Innosight schon zuvor die 500 im Standard & Poor´s Index aufgeführten Konzerne untersucht und erstaunliches zu Tage gefördert: Vor 60 Jahren hatten die Unternehmen eine Lebenserwartung von durchschnittlich 60 Jahren, das heißt: über diesen Zeitraum waren sie im S&P-Index aufgelistet. 1980 war die Lebenserwartung schon auf 20 Jahre zurückgegangen. Heute liegt sie durchschnittlich bei zwölf Jahren.

Die Firmen waren ausgelöscht, übernommen worden oder geschrumpft, weil sie sich den neuen Lebensumständen nicht länger anpassen konnten. Sie waren eben nicht „fit für die Zukunft“. Und dabei verlangt die Firmen-Fitness immer häufiger und immer konsequenter nach Neuausrichtung. Die disruptive Kraft der neuen Technologien, die nach der Massenproduktion erst eine Consumer-Orientierung und heute eine Consumer-Zentrierung verlangen, die auf „Losgrößen 1“, volldigitalisierte Geschäftsprozesse und agile Geschäftsmodelle hinausläuft, nimmt an Macht immer weiter zu. Besonders deutlich wird dies überall dort, wo Vernetzung und Digitalisierung „altem Eisen“ neues Leben einflößt: im Automobil- und Maschinenbau, im Einzelhandel, im Gesundheitswesen zum Beispiel. Und hier zeigt sich ein Clash of Cultures zwischen Neureichen und „altem Geld“. Siemens, Bosch, Daimler, BMW und Co. bemühen sich darum, die neuen Herausforderungen durch die alten Strukturen zu leiten, während Google, Facebook und Amazon Zug um Zug neue Betätigungsfelder für sich erobern. Wer dort der Fitteste ist, wird sich nicht an der Größe entscheiden, sondern an der Fähigkeit zur Anpassung.

Das ist die gute Nachricht für den deutschen Mittelstand. Ihm fehlt es zwar durchaus an Größe im Vergleich zu den Elektro- und Internet-Giganten. Aber seine Anpassungsfähigkeit ist legendär. Der Mittelstand sollte daraus sein Fitness-Programm für die Zukunft zusammenstellen.

 

 

Gezählt, gewogen… zu leicht?

Das Menetekel vom innovationsfeindlichen Mittelstand grassiert in Deutschland, seit es den Mittelstand gibt. Erneut gezählt (mene) und gewogen (tekel) haben jetzt ZEW und infas im Auftrag der KfW, um in einer repräsentativen Befragung den Fortschritt der digitalen Transformation bei Unternehmen mit mindestens fünf Mitarbeitern und höchstens 500 Millionen Euro Umsatz zu ermitteln. Das entspricht etwa einer Million Unternehmen in Deutschland. Danach wird nur jeder fünfte Mittelständler als nicht zu leicht empfunden. Sie nehmen die Digitalisierung ernst und investieren in neue Prozesse und Produkte. Nach den Hochrechnungen des Forschungsprojekts ist dagegen ein Drittel des deutschen Mittelstands als digitaler Nachzügler noch kaum aus den Startlöchern gekommen. Zwischen diesen beiden Gruppen befindet sich rund die Hälfte der KMUs, die zwar in Digitalisierungsprojekte investieren, aber nur in homöopathisch kleinen Schritten Fortschritte verzeichnen.

Die Bestandsaufnahme zeigt wieder einmal, wie sehr Zukunftsforscher, Technologie-Evangelisten und ihre Publizisten mit der Präsentation einer digitalen Gesellschaft der Realität im Mittelstand vorauseilen. Müssen sie auch, denn der Mittelstand braucht offensichtlich diese Dauerberieselung an Mahnungen und Meinungen, um sich aus der selbstgefälligen Wohlfühlzone zu bewegen. Das legt auch die KfW-Studie nahe, der zufolge 59 Prozent der Befragten die Kosten der digitalen Transformation als (zu) hoch einschätzen. Bei durchschnittlich 10.000 Euro jährlich, die nach den Ermittlungen der Forschungsgruppe pro Mittelständler in die Digitalisierung gesteckt werden, kann das nur bedeuten: Tatsächlich sind es nicht die realen Kosten, die zu hoch sind, sondern der erwartete Nutzen, der als zu niedrig angesehen wird.

Dabei ist die Bandbreite enorm: große Familienunternehmen investieren bis zu vier Prozent ihres Umsatzes in Forschung und Entwicklung, typisch sind rund drei Prozent. Digitalisierungsbudgets von 200.000 Euro bis zu einer Million Euro werden durchaus auch bei Mittelständlern ausgelobt, wenn dahinter Rationalisierungspotentiale im Sinne von Industrie 4.0 stecken. Dennoch bleibt der Fokus der Digitalisierungsprojekte auf Detailverbesserungen ausgelegt, mit denen bestehende Geschäftsprozesse und Geschäftsmodelle optimiert werden. Die Disruption, also die Umwälzung bestehender Gewohnheiten, bleibt dagegen die Ausnahme. Der Königsweg im Mittelstand heißt Evolution.

Neben geringer Phantasie und Nutzenerwartung mag die unverändert schwierige Finanzierung der digitalen Innovation ein Haupthinderungsgrund sein. Drei von vier Projekten werden aus dem laufenden Cashflow der Unternehmen finanziert. Projektleasing wird mit großem Abstand an zweiter Stelle genannt. Die Aufnahme von Krediten kommt hingegen nur bei fünf Prozent der Aktivitäten zum Zuge. Damit offenbart sich ein bekanntes Grundproblem bei Innovationsprojekten im deutschen Mittelstand: Die Finanzierung von personalintensiven Transformationsprojekten trifft auf nur wenig Gegenliebe und Risikobereitschaft bei den Kreditinstituten, da der Anteil an Sachinvestitionen gering ist. Zum Vergleich: Beim Durchschnitt der traditionellen Sachinvestitionen sind die Kreditgeber in 20 Prozent der Fälle der dabei.

Das ist mit Blick auf Konjunktur und Zinspolitik insgesamt unverständlich. Der Mittelstand ist es freilich gewohnt, dass ihm die finanziellen Mittel nicht beliebig zufließen. Das hat ihn in seinem Innovationsverhalten längst konditioniert. Die digitale Transformation in kleinen Schritten ist insofern auch eine direkte Folge des Kreditvergabeprozesses. Die wahren Innovationsbremsen sitzen folglich in den Banken, die bevorzugt dann das Risiko eingehen, wenn Sachinvestitionen winken. Die digitale Transformation hat ihren Ursprung aber in Denkprozessen und Prozessanalysen. Wenn der Mittelstand mehr Mut zur Innovation schöpfen soll, dann müssen die Banken mehr Mut zur Investition aufbringen. Gezählt, gewogen und für zu risikoscheu empfunden – das gilt für Banken mehr noch als für den Mittelstand.