Am Grimmauld Place in London fehlt ein Haus in der Straßenansicht. Nummer 12 ist zwar da, aber zu sehen ist es nur für die, denen es gehört. Für alle anderen klafft dort noch nicht etwa eine Lücke; beide Nachbarhäuser – 11 und 13 – wurden in der Ansicht zusammengeschoben. Die Familie Black, der das Haus gehört, hat auf diesem Privatissimum bestanden, und ihr letzter Vertreter verteidigt das Anwesen nun gegenüber jedem Street View von Muggles und Googles. Sirius Black tritt im dritten Harry-Potter-Band auf und in Band vier tragisch wieder ab – das Haus aber bleibt bis zum letzten Band der Heptalogie die Bastion des Ordens vom Phoenix, der gegen derart dunkle und miese Mächte antritt, dass Google im Vergleich dazu wie ein müder Squib, ein des Zauberns untüchtiger Magiersprössling, wirkt.
Joan K. Rowling erfand das magische Ausradieren von Häusern 1998 (das Buch erschien 1999), in dem Jahr, in dem am 7. September Google Inc. ins Firmenregister eingetragen wurde. Damals eroberte Google die Herzen der Internauten, weil sie eine Findemaschine gesucht hatten und Google bekamen. Seit Google mit Street View auch in Deutschland Straßenansichten ins Web stellt, ist das Auffinden plötzlich nicht mehr jedermanns Sache. Denn jetzt geht es um die Privatsphäre. Und da sehen inzwischen Hunderttausende in Deutschland erst einmal Black.
„Das Ziel von Google besteht darin, die Informationen der Welt zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen.“ Das schöne Mission-Statement von Google hat hierzulande seinen Glanz verloren, seit deutsche Hausfassaden online gestellt werden sollen. Wer im Privatleben das Recht für sich in Anspruch nehmen will, „mein Haus, mein Auto“ als Renommierobjekt zu gebrauchen, will umgekehrt auch das Recht für sich in Anspruch nehmen, anderen den Informationswert einer Fassadenansicht zu verwehren.
Google hat Street View nach der bewährten Wildwest-Methode – erst schießen, dann fragen – produziert. Die Fotos entstanden zwischen 2008 und 2010 ohne (die auch nicht notwendige) Erlaubnis der Hausbesitzer, ohne Einverständnis der Passanten, die auf den Straßen ein wenig verpixelt unkenntlich gemacht werden. Google hat die Bilder längst mit Geodaten verknüpft und will sie nun ins Web stellen – ein Vorgehen, das keineswegs geltendem Recht widerspricht. Nur der unerwartete Druck der Öffentlichkeit in Deutschland hat das Unternehmen überhaupt erst dazu gebracht, auf der eigenen Webseite Betroffenen ein Widerspruchsrecht einzuräumen (www.google.com/streetview).
Juristisches Neuland wird eher mit der Frage betreten, was Google mit den Daten der Widersprechenden macht. Werden die Daten gespeichert, dann entsteht die durchaus paradoxe Situation, dass diejenigen, die ihre Wohnung nicht präsentieren wollen, Google jene Daten zur Verfügung stellen, die dieses Wohnverhältnis offenlegen. Google wiederum muss wegen des laufenden Geschäftsprozesses zumindest der gesetzlichen Aufbewahrungspflicht genügen.
Google fotografiert Fassaden, keine Innenansichten – aber was passiert, wenn künftig Fotos von rauschenden Partys ebenfalls mit Geodaten versehen werden und in Google aufgeladen werden? Wird Widerspruch künftig zur ersten Bürgerpflicht, wenn das Privatleben gerettet werden soll? Oder haben wir das Privatleben nicht schon bei Facebook, StudiVZ, Xing und anderen abgegeben? Denn die Nachfrage nach dem Privatleben Dritter ist unzweifelhaft da, sonst würden die sozialen Netzwerke, die ja nicht nur von der Auskunftsbereitschaft der Mitglieder, sondern auch vom Interesse am Leben der Anderen lebt, nicht so erfolgreich sein. „Die Deutschen gucken lieber als sich angucken zu lassen“, meint Bundesinnenminister Thomas de Maiziere. Der durch das große Interesse verursachte Zusammenbruch der Server des Kölner Ansichtsdienstes Sightwalk (www.sightwalk.de) zeigt, wie stark Straßenansichten das Interesse treffen.
1999 hatte der Gründer von Sun Microsystems, Scott McNealy bereits allen, die ihm zuhören wollten, angekündigt: „Sie haben keine Privatsphäre mehr. Vergessen Sie´s.“ Sein Unternehmen selbst profitierte von der Verknüpfung von Nutzerdaten mit Geodaten. Stolz präsentierte sein CEO Jonathan Schwartz die Hintergründe seiner Geschäftsidee, Open Source-Angebote rund um Java und MySQL zu verschenken: Die Anfragen und Downloads gaben ihm – verknüpft mit Google Earth – einen exakten Hinweis über Häufungspunkte seiner Kunden und damit Hinweise für die Expansionsstrategie seines Unternehmens. Google beherrscht die Kunst, Informationen mit Geodaten zu verknüpfen, inzwischen so gut, dass es im Mai den Sieg von Lena Meyer-Landrut beim ESC vorhersagen konnte. Und über kurz oder lang werden die Geodaten, die wir mit unseren Handys erzeugen, ebenfalls mehr über unser Privatleben erzählen, als wir selbst freiwillig herausrücken würden. Heute müssen wir noch fragen: „Wo bist du?“ Morgen wissen wir: jedenfalls nicht zu Hause.