Wer sind wir – und wenn ja, wie viele? Fragen, mit denen sich die Philosophie seit drei Jahrtausenden befasst, sollen mit der heute beginnenden Volkszählung zumindest für Deutschland beantwortet werden. Auch wenn der erkenntnistheoretische Durchdringungsgrad gering sein mag, einen Erkenntnisgewinn versprechen sich die Statistischen Bundes- und Landesämter doch. Und ein Lehrstück über das Volksgemüt ist die Befragung ebenfalls: Im Unterschied zum Zensus des Jahres 1987 regt sich nämlich kaum Widerstand gegen die Ausleuchtung der Deutschen. Die Desensibilisierung durch die Sozialen Netzwerke, die Ausplaudern und Ausplündern von privaten Nichtigkeiten zum Volkssport werden ließen, hat längst gegriffen. Und auch wenn dann bei Sony auch noch personenbezogene und (fast noch schrecklicher) kontenbezogene Daten flöten gehen, bleibt der Aufschrei aus. Der Wutbürger ist längst abgestumpft gegen Datenklau und Aushorchung. Phishing for Complement als Kavaliersdelikt.
Wohlgemerkt: der Vergleich zwischen Volkszählung und Datenspionage bezieht sich nicht auf den Akt selbst – hier muss man genau unterscheiden zwischen Recht und Unrecht. Erstaunlich aber ist, dass der passive Umgang mit Informationen über die eigenen Lebensumstände immer laxer wird. Die Wachheit gegenüber der Selbstauskunft und Selbstaushorchung nimmt, so scheint es, kontinuierlich ab. Informationelle Selbstbestimmung ist ja nicht nur ein Recht des Individuums auf Datenunversehrtheit, das nachträglich eingeklagt werden kann, sondern auch eine Selbstverpflichtung, sorgfältig mit schützenswerten Informationen umzugehen.
1987, als die Bürgerproteste gegen die Volkszählung ein Mobilisierungspotenzial entfachten, das gut und gerne mit dem der Stuttgarter Wutbürger verglichen werden kann, herrschte die Vorstellung vor, dass einmal erfasste Daten in weltweit vernetzten Großrechnern verschoben und rasterfahndend ausgewertet werden können. Heute, wo die Rechnerwelten in der Tat weltweit vernetzt sind, geht dieses Gespenst kaum noch um. Seit vernetzte Computer ubiquitär und nicht mehr elitär sind, wird fälschlicherweise angenommen, auch das Datensammeln sei Allgemeingut – ein Volkssport sozusagen. Tatsächlich aber ist der Nutzen große Datenerhebungen immer noch hermetisch. Das erklärt die hochpreisigen Verkäufe, die sich mit Bankendaten erzielen lassen.
Der Nutzen, der sich aus dem Zensus 2011 erzielen lässt, wird ohnehin unter Wert verkauft: die EU verlange alle zehn Jahre neue Daten, der Länderfinanzausgleich lasse sich gerechter berechnen, die Wirtschaft könne gezielter investieren, der Staat genauer planen. Um diese hehren Ziele zu erreichen, werden in den kommenden Wochen rund 700 Millionen Euro für Werbung, Internetportale (www.zensus2011.de), Informationskampagnen und schließlich für die rund 80.000 Interviewer (7,50 €uro pro ausgefüllten Fragebogen) in die Hand genommen. Die Kosten werden gedeckelt, weil tatsächlich nur eine Stichprobe von 8 Millionen Menschen befragt wird. Hinzu kommen rund 17,5 Millionen Immobilienbesitzer (inklusive der rund 33.000 Immobilienunternehmen). Der Rest sind statistische Grundrechenarten und Datenbankabgleiche.
Und dann? Erste Ergebnisse werden im kommenden Jahr vorliegen, das vorläufige amtliche Endergebnis ist für 2013 angekündigt – ein Zeithorizont, der irgendwie nicht so ganz in die Zeit des Instant Messaging und der Suchmaschinen zu passen scheint. Von den Sozialen Netzwerken ist man inzwischen höhere Wachstumsraten und schnellere Antwortzeiten gewohnt – allerdings auch weniger Sorgfalt.
Und da wirkt der Datenklau bei Sony wie ein Warnzeichen zum Auftakt des Zensus 2011: Je weniger man sich auf die Sorgfalt anderer verlassen kann, umso weniger auskunftsfreudig sollte man sein. Die Bundesregierung will hier zukünftig mit einer „Stiftung Datenschutz“ aufklären und aufwecken. Jetzt wäre die Zeit dafür…