Bereits zum dritten Mal steht die Hannover Messe ganz im Zeichen der Digitalisierung und der vernetzten Fertigung, mit der die vierte industrielle Revolution losgetreten werden soll. Mal abgesehen davon, dass das Schlagwort von der „Industrie 4.0“ auch bei der dritten Aufführung nicht griffiger, nicht mitreißender wird und inzwischen ähnlich abgenutzt klingt wie der Begriff vom „Internet der Dinge“: es braucht halt mal wieder so lange, bis aus einer Vision eine Mission wird und sich daraus eine Aktion ergibt.
Aber so ist das nun mal mit den Elefantenschwangerschaften. Und dass Industrie 4.0 ein ganz dickes Ding ist, das bestätigen unisono Bundeskanzlerin Angela Merkel, EU-Kommissar Günther Oettinger und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, der dem Handelsblatt nicht nur vorrechnete, dass „Hunderttausende neue Arbeitsplätze“ entstehen können, sondern auch postulierte: „Ein Plus von mehr als 250 Milliarden Euro an Wertschöpfung ist in den nächsten zehn Jahren möglich.“
Was sind da schon drei Jahre fürs Anlauf-Nehmen? Dass auch gesprungen wird, glauben drei Viertel der vom VDE befragten Mitgliedsunternehmen aus der Elektronik, Elektrotechnik und Informationstechnik: Die intelligente Fabrik seit spätestens 2025 Realität. Immerhin befänden sich bereits 70 Prozent der Befragten in einer Analysephase, während schon jeder dritte ein konkretes Projekt in Angriff genommen hat. Ähnlich positiv sieht der Hightech-Verband Bitkom die Lage. Von 100 befragten Unternehmen hat in dessen Studie jedes vierte ein konkretes Projekt am Laufen.
Das Problem ist nur: beide Studien befragen Unternehmen mit höchster Affinität zur Digitalisierung. Sie könnten sozusagen die Speerspitze der Industrie-4.0-Bewegung bilden. Ob aber tatsächlich nach zehn Jahren auch schon die breite Masse an mittelständischen Fertigungsunternehmen nach „Digitalien“ aufgebrochen sein wird, darf dennoch getrost bezweifelt werden. Auch wenn die Einführungsphasen neuer Technologien immer kürzer werden. Aus kaufmännischer Sicht müssen die alten Maschinen immer noch erst einmal abgeschrieben sein und einen Return on Invest erarbeitet haben, ehe Schichtwechsel im Maschinenpark herrscht. Jeder vierte vom VDE Befragte fürchtet, dass die deutsche Industrie zu lange an klassischen Produktionsmethoden festhalten wird.
Kein Wunder, dass hier und da auf der Hannover Messe die Rufe nach mehr Anreizen für Investitionen durch die Politik lauter wird. Zwar sehen sich Automobilbau und Maschinenbau ebenfalls ganz vorne beim Weg ins Digitale Fertigungszeitalter. Aber mehr Rechtssicherheit aus Berlin und Brüssel gerade dort, wo Unternehmensgeheimnisse und operative Daten in die Cloud wandern, wäre schon gut, heißt es beim VDMA. Denn die Furcht vor Spionage, Piraterie und Plagiaten wächst – auch bei den Maschinenbauern, die sich immer stärker einem unlauteren Wettbewerb durch nachgemachte Ersatzteile ausgesetzt sehen. Und auch die VDE-Studie bestätigt: Sieben von zehn Befragten sehen in der nicht gegebenen IT-Sicherheit die größten Hemmnisse.
Und gleichzeitig bleibt die Politik auch bei der Bereitstellung der nötigen Infrastruktur in der Bringschuld. Für die Umsetzung der Digitalen Agenda nimmt die Bundesregierung trotz dreier zuständiger Bundesminister ähnlich lange Anlauf wie die Wirtschaft für die Umsetzung von Industrie 4.0. Da nehmen die Argumente zum Teil schon absurde Formen an, wenn es einerseits heißt, die Zukunft des Industriestandorts Deutschland hinge von diesen Maßnahmen ab, andererseits aber jeder jeden anguckt und die Schultern zuckt: Fangt ihr schon mal an.
Nach der VDE-Studie glaubte vor zwei Jahren noch mehr als die Hälfte der Befragten, dass Deutschland zum Leitanbieter für Industrie 4.0 wird. Jetzt sind es nur noch 40 Prozent. Einer der Sündenböcke für die leichtsinnige Aufgabe von weltwirtschaftlichen Führungspositionen wird dabei in falschen Forschungsimpulsen gesehen. Die Automobilindustrie klagt, dass Deutschland zu lange kein Interesse an modernen Batterien hatte, die jetzt auf dem Weg zur Elektromobilität dringend benötigt werden. Und der Maschinenbau klagt ebenso wie die Elektronik-Industrie, dass viel zu wenig in die Weiterentwicklung Cyber Physical Systems investiert wird. Sie sind es, die das Internet der Dinge überhaupt erst mit Daten und Erkenntnissen füttern und damit die vierte industrielle Revolution mit Leben füllen.
Doch die beklagenswerten Versäumnisse von gestern rechtfertigen nicht die Unterlassungen von morgen. Politik und Wirtschaft sollten nicht jeweils auf den anderen zeigen, wenn es darum geht, Schub zu erzeugen. Sonst wird „Made in Germany“ ein nostalgischer Begriff, der auf der Hannover Messe bereits abgelöst wird durch den Slogan des Gastlandes: „Make in India“.