Auf den ersten Blick hörte sich alles eigentlich ganz gut an: Telefonieren, SMSen, Downloads sollen im länderübergreifenden Telekommunikationsverkehr künftig nicht mehr teurer sein als bei nationalen Verbindungen. Wenn auch nicht sofort, so doch auf absehbare Zeit werden die sogenannten Roaminggebühren erst reduziert und dann aussortiert.
So weit, so ganz gut. Dass sich EU-Digital-Kommissar Günther Oettinger mit einer sofortigen Roaming-Räumung nicht durchsetzen konnte, sei wohlwollend übersehen. Aber dass ihm in seinem zweiten Vorstoß zur rechtlichen Vereinheitlichung der europäischen Telekommunikations-Leistungen die Netzneutralität als Sekundärschaden verloren zu gehen droht, ist schon bedenklicher. Dabei sollte eigentlich das Gegenteil erreicht werden mit der Idee, Spezialdienste zu definieren, die in einem voller werdenden Internet garantiert ohne Stau vom Absender zum Empfänger gelangen. Die EU dachte dabei wohl an Anwendungen im Gesundheitswesen – zum Beispiel bei Videoübertragungen während einer Operation. Auch die Idee, dass vernetzte Fahrzeuge, die mit ihrer Umwelt kommunizieren und möglicherweise demnächst teilautonom navigieren, möglichst ungestörten und ruckelfreien Kontakt zum Internet halten sollten, klingt alles andere als abwegig.
Aber das hätte Oettinger auch genau so definieren sollen. Stattdessen überlässt er es der allgemeinen Interpretation, was genau Spezialdienste nun eigentlich sind, denen – durch einen Aufpreis vielleicht – ein staufreier Datentransport gewährt werden soll. Selbst im restriktivsten Fall wäre aber ein Schritt in die Aufgabe der Netzneutralität und zur Zwei-Klassen-Gesellschaft im Web vollzogen.
Das fürchteten auch sofort die mit Netzpolitik befassten Abgeordneten in Berlin und Brüssel. Doch als kurz nach dem Beschluss Telekom-Chef Timotheus Hoettges mit einem eigenen Blog sich an die Interpretation des Begriffs „Spezialdienste“ ging, waren die schlimmsten Befürchtungen schon übertroffen. Spezialdienste, so meinte der Telekom-Chef, seien zum Beispiel auch Online-Spiele oder Videokonferenzen, denen künftig auch eine unterbrechungsfreie Übertragung auch in Stoßzeiten gewährt werden müsse – gegen Aufpreis, versteht sich. Hoettges wurde sogar ganz konkret: Start-ups, deren Geschäftsmodell durch neue Dienste und Geschäftsideen ganz entschieden von der Internet-Infrastruktur abhängen, sollten sich mit einem prozentualen Anteil vom Umsatz an den Netzausbaukosten beteiligen. Das freilich wäre ein kleiner Schritt für die milliardenschweren Webgrößen wie Google, Facebook oder auch AirBnB und Uber. Aber es wäre ein daseinsgefährdender Schlag für alle Jungunternehmen in den ersten Jahren ihrer Existenz.
Das seien jetzt nicht direkt die Spezialdienste, die dem Gesetzgeber vorgeschwebt hätten, widersprach denn auch gleich Sören Bartol von der SPD-Bundestagsfraktion. Und der netzpolitische Sprecher der CDU im Bundestag konterte mit Kritik am Telekom-Vorstoß.
Und hier ist das Dilemma: Wenn die EU nicht genau definiert, was Spezialdienste nun tatsächlich sind, dann bleibt es den Telekommunikationsdienstleistern überlassen, diese Einschränkung vorzunehmen. Und das kann freilich nach Markt- und Kassenlage geschehen: wer nicht zahlt, wird angezählt.
Das Wort vom Schutzgeld machte schon schnell die Runde. So twitterte der Netzaktivist Mathias Schindler, der als Assistent von Julia Reda (Piratenpartei) auf EU-Ebene gegen die Spezialdienstregelung gekämpft hatte, schon Mutmaßungen über künftige mafiöse Methoden: „Schönes Start-up haben Sie da. Wäre doch schade, wenn da mal eine Verbindung wackeln oder abbrechen würde.“
Dem widersprach die Telekom freilich sofort und heftig. Dennoch bleibt der Schrecken, dass künftig die auf ein neutrales und frei nutzbares Internet setzenden Jungunternehmen eine weitere Hürde beim Firmenaufbau nehmen müssten. Die Sorge, dass Google & Co. künftig die Maut für die Überholspur zur Cloud aus der Portkasse bezahlen könnten, während Start-ups im Wettbewerb mit den Etablierten das Nachsehen auf der Landstraße haben, formulierte auch Florian Nöll als Vorsitzender des Deutschen Startup-Verbands. Der Verband beobachtet derzeit mit Argusaugen, dass die Bundesregierung ihren starken Ankündigungen zur Stärkung der Innovationskraft in Deutschland nur schwache Taten folgen lässt.
Dabei ist die Empörung, die sich im Web nach dem EU-Beschluss und der eigenwilligen Interpretation durch die Deutsche Telekom auftat, nicht nur verständlich – sie könnte auch ein gerichtliches Nachspiel haben. Wer jetzt gegen die von Günther Oettinger eingebrachte Regelung vor dem Europäischen Gerichtshof klagt, könnte dafür sorgen, dass das Gesetz kassiert wird. Es wäre nicht das erste Mal, dass dabei die Rechte der Verbraucher im Netz gestärkt würden.