Mit meinem Blog in der vergangenen Woche habe ich offensichtlich vielen Menschen aus der Seele gesprochen – das jedenfalls darf ich aus den zahlreichen positiven Kommentaren schließen, die mich auf meiner Blogseite, in den sozialen Medien und vor allem in persönlichen Mails und Gesprächen erreicht haben. Alle begrüßten das klare Bekenntnis zu europäischen Werten und gelobten, künftig lauter werden zu wollen.
Und tatsächlich sind wir angesichts des vorläufigen amtlichen Endergebnisses wohl mit einem blauen Auge davongekommen. Den Soundtrack der Wahlanalyse hat der EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber getroffen, der die parlamentarische Demokratie als klaren Sieger dieser Wahl sieht. Bei einer in nahezu allen 28 Ländern gestiegenen Wahlbeteiligung muss der oder die Kommissionspräsident*in aus den Reihen der Gewählten kommen und nicht von den Staatsoberhäuptern im Hinterzimmer ausgeschnapselt werden.
Aber es geht auch um die Eindämmung von Rechtspopulisten und Nationalisten: Denn als hätte es noch eines konkreten Beispiels dafür bedurft, wie gering Werte wie Rechtschaffenheit und Toleranz bei zu vielen Politikern und Polterern geachtet werden, lieferte die Regierungskrise in Österreich noch einmal einen tiefen Einblick. Rechte Gesinnung und Rechtsempfinden sind eben nicht das gleiche. Und der Mangel an Rechtschaffenheit wurde offensichtlich auch postwendend abgestraft.
Es ist gut, wenn wir auch nach dem Wahlgang am 26. Mai – an dem ja nicht nur die Abgeordneten ins europäische Parlament gewählt wurden, sondern auch in die Bremische Bürgerschaft und in zahlreiche Kommunalparlamente – den politischen Diskurs weiter üben. Als „alter 68er“ habe ich den Eindruck, dass uns diese Kulturtechnik ein wenig verloren gegangen ist. Und dass, obwohl – oder gerade weil – es heute so einfach ist, sich Gehör zu verschaffen.
Aber während es immer leichter wird, lauter zu werden, fällt es offensichtlich immer schwerer, lauterer zu werden. Die inzwischen legendären Tweets des US-amerikanischen Präsidenten überstehen nur in den seltensten Fällen einen genaueren Fakten-Check. Auch dazu haben wir in der vergangenen Woche ein lautes, ja sogar vorlautes, aber eben kein lauteres Beispiel erhalten: die einstündige Wahlempfehlung des Youtubers Rezo! Mehr als zehn Millionen Mal wurde sein Video inzwischen angeklickt – und es ist nicht unwahrscheinlich, dass Rezo die Wahl von vielen jugendlichen Erstwählern und den sogenannten „Zurückgelassenen“ beeinflusst haben kann. Denn mehr als zehn Millionen Klicks – das ist wirklich laut, das muss der Neid ihm lassen.
Rezo hat offensichtlich einen Nerv getroffen. Aber der etwas freihändige Umgang mit Fakten und Statistiken geht auch an die Nerven. Das Spiegel-Redaktionsteam und andere Qualitäts-Journalisten haben inzwischen die inhaltlichen Ungenauigkeiten, ja sogar Verfälschungen aufgedeckt. Es lohnt nicht, das alles zu wiederholen.
Mich beschäftigt vielmehr, dass es den kritisierten Parteien – allen voran der CDU – bis heute nicht gelungen ist, adäquat darauf zu reagieren. Erst sollte der Bundestagsabgeordnete Philipp Amthor – immerhin beinahe der gleiche Jahrgang wie Rezo – scharfzüngig darauf antworten, dann wurde er zurückgepfiffen. Stattdessen gab es ein elfseitiges Rechtfertigungsschreiben, das kaum jemand wirklich zu Ende gelesen hat.
So werden wir den Diskurs zwischen Jung und Alt, zwischen Engagierten und Etablierten nicht führen können. Und schon gar nicht gewinnen können. Wir müssen die politischen und gesellschaftlichen Wortmeldungen von Greta, Kevin, Rezo und wie sie alle heißen, ernst nehmen und darauf angemessen reagieren. Dazu brauchen wir lauter laute Leute.