Wir leben in historischen Zeiten! Die Beschränkung der Bewegungsfreiheit, die uns Bundes- und Landesregierungen seit Mitte März auferlegen, stellen einen staatlichen Eingriff in unser Selbstbestimmungsrecht dar, wie wir es wohl noch nie erlebt haben seit dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur.
In einem Land, dessen Bevölkerung Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen für eine unzumutbare Einschränkung der individuellen Selbstverwirklichung nach dem Motto „freie Fahrt für freie Bürger“ hält, ist es geradezu erstaunlich, mit welcher Demut wir uns an die Bestimmungen des Social Distancing und des wirtschaftlichen Shutdowns halten. Höchstens im Herbst 1973, als uns das Energiesicherungsgesetz ein allgemeines Fahrverbot an vier autofreien Sonntagen und für weitere sechs Monate Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen von 100 km pro Stunde bescherte, hat die Bundesrepublik vergleichbare Einschränkungen erlebt.
Doch damals kehrten wir so schnell wie möglich zu unseren alten Gewohnheiten zurück. Tempo 100 auf Autobahnen – nicht mit unseren SUVs! Fahrbeschränkungen an Sonntagen – höchstens für Lastwagen, die sozusagen ohnehin eine natürliche Einschränkung unserer Bewegungsfreiheit darstellen. Sie liefern vielleicht unsere Rohstoffe, aber sie verhindern, dass wir rechtzeitig ans Ziel kommen!
Heute ist das anders. Offensichtlich wünschen sich immer weniger Teile der Bevölkerung eine Rückkehr zum Zeitpunkt „ex ante“ – also zur Normalität vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Dass Lastwagen wieder fahren und auch einen Grund haben, wieder zu fahren, ist das gemeinsame Glaubensbekenntnis von Logistikern – egal, ob sie für die Versorgung einer ganzen Lieferkette oder nur für die Versorgung eines Zwei-Personen-Haushalts verantwortlich sind. Dass Fernfahrten wieder möglich werden, wünschen sich alle Mobilisten – egal, ob es dabei Geschwindigkeitsbegrenzungen zu berücksichtigen gilt oder Abstandsregeln. Aber dass alles wieder so wird, wie es war, wünscht sich kaum jemand.
Natürlich wollen wir wieder zurück zur Normalität! Aber sie muss – nein sie soll! – nicht unbedingt so aussehen, wie die Zeit vor dem Corona-Moment. Gefällt es uns etwa nicht, dass sich in Venedigs Kanälen wieder Artenreichtum einstellt? Freuen wir uns nicht über reduzierte CO2-Emissionen? Haben wir nicht die Nachbarschaftshilfe neu entdeckt? Sehen wir nicht die digitalen Technologien als Medium zur Überwindung unserer sozialen Distanz an, egal wie physisch distanziert wir zu leben gezwungen sind?
Private Haushalte schreiben in der Regel keine Positionspapiere. Ihr gemeinsames Gedankengerüst lässt sich nur durch demoskopische Umfragen erschließen. Schon vor Jahren ermittelte das Allensbacher Institut für Demoskopie, dass die Deutschen bereit sind, auf Grundrechte zu verzichten, wenn dadurch Maßnahmen gegen Kriminalität und Terror effizienter werden. Klimaschutz war bislang nicht unter den Kandidaten. Pandemien schon gar nicht. Aber das Meinungsbild hat sich ganz offensichtlich geändert. Jetzt ist es durchaus erwägenswert, Einschränkungen zugunsten des Klimas in Kauf zu nehmen.
Aber Wirtschaftsverbände schreiben Positionspapiere – und in ihnen ist genau die gleiche Stimmungslage zu erkennen. Es hat fast den Anschein, als wäre die Sorge vor einem Rückfall „ex ante“ ebenso groß wie die Angst vor einer Fortsetzung des „status quo“. Will sagen: Die Fortführung des Shutdowns ist ebenso schlimm für die Wirtschaft wie die Fortsetzung des Zustands, wie wir ihn zum Jahresbeginn gewohnt waren. Oder anders ausgedrückt: Der Corona-Moment bewirkt endlich jenen Digital-Moment und jenen Klima-Moment, den wir uns für die wirtschaftliche Entwicklung des Standorts Deutschland insgeheim schon lange wünschen. Der Corona-Moment ist das virale Pendant zur Ruck-Rede des damaligen Bundesprädienten Roman Herzog: Es muss wieder aufwärts gehen im Land!
So fordert der BDI die Politik auf, endlich die längerfristigen Rahmenbedingungen zu setzen, in deren Grenzen unternehmerisches Handelns ziel- und zukunftsorientiert möglich ist. Dabei sind neben der schnellen Erholung der Wirtschaft zwei Fokuspunkte entscheidend: die digitale Erneuerung unserer Geschäftsprozesse und die umweltbewusste Ausrichtung unserer Aktivitäten. Vor allem im Klimaschutz und in der Digitalisierung müsse die Politik neben steuerlichen Erleichterungen mittelfristige Wachstumsakzente auf den Weg bringen, fordert BDI-Präsident Dieter Kempf. „Ein Klima-Konjunkturpaket sollte langfristige Investitionsentscheidungen für CO2-arme Technologien ermöglichen“, heißt es im BDI-Papier.
Und Bitkom-Präsident Achim Berg sieht in der Corona-Krise einen „Digital Turning Point. Es darf kein Zurück in den Vorkrisenmodus geben. Es muss darum gehen, mit dem digitalen Vermächtnis der Krise das ‚Neue Normal‘ zu schaffen und das Land voranzubringen“. Der Bitkom rechnet ein 15-Milliarden-Euro-Paket aus, um der Wirtschaft nach dem Shutdown in eine digitale Zukunft zu verhelfen. 15 Milliarden sind angesichts des an eine Billion reichenden Rettungsschirms der Bundesregierung schon geradezu „Peanuts“.
15 Milliarden für die Digitalisierung der Wirtschaft – das hört sich anders an als drei Milliarden Euro für KI in fünf Jahren oder vergleichbare bisherige Zukunftsinitiativen der Bundesregierung. Der Corona-Moment ist ein wahrer Game-Changer. Hoffen wir, dass wir diesen Corona-Moment nicht verpassen.