Was würde passieren, wenn jetzt doch eine Magnetbahnstrecke geplant werden sollte, die die Metropole Rhein/Ruhr mit der Hauptstadt verbinden soll. Deutsche Transrapid-Technologie gepaart mit deutschem Ingenieurwissen würde doch allenfalls durch die derzeit in Deutschland grassierende Unfähigkeit begrenzt, Großprojekte innerhalb der vorgesehenen Zeit und des vorgegebenen Budgets zu beenden. Und natürlich würde das Großprojekt durch zahlreiche Eingaben und Initiativen im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Bürgerbeteiligung gefährdet. Über jedes Infrastrukturprojekt – egal, ob Straße, Schiene oder Wasser, ob Windräder oder Solarkraftwerk, ob Stromtrasse oder 5G-Funkmasten – wird am Ende durch die Bevölkerung, den Souverän, entschieden.
(Hier muss man übrigens fein unterscheiden: der Souverän ist nicht das deutsche Volk, sondern die deutsche Bevölkerung – auch wenn das viele anders sehen und anders wollen.)
Nur über das Internet haben wir noch nie abgestimmt. Auch an der Planung einer Cloud-Infrastruktur wurden die Bürger nie beteiligt. Sie benutzen sie einfach – und stimmen damit stillschweigend zu. Beim Internet und in der Cloud ist der deutsche Souverän ausgesprochen wenig souverän. Wir haben uns überrumpeln lassen durch perfekte Angebote aus den USA – wie damals vor 70 Jahren, als es Schokolade, Kaugummi, Zigaretten und Seidenstrümpfe gab. Aber das waren Konsumgüter, keine Infrastrukturen, von denen eine ganze Gesellschaft, eine ganze Wirtschaft abhängt. Man konnte auf US-Zigaretten verzichten. Aber kann man heute noch auf Cloud-Angebote wie Microsoft Azure oder Amazon Web Services verzichten?
Zwei von drei Managern jedenfalls wollen nach einer Umfrage des FAZ-Instituts ihre Firmendaten lieber einer europäischen Cloud anvertrauen. Eine Zwei-Drittel-Mehrheit stimmt also den Plänen rund um die europäische Daten-Cloud Gaia-X zu. Und dazu befürworten sechs von zehn Managern einen stärkeren Schulterschluss zwischen Politik und Wirtschaft. Eine „Airbus Industries der Informationstechnik“, wie ich sie vor drei Wochen an dieser Stelle vorgeschlagen habe, findet also breiten Konsens in der Gesellschaft. Damals war es die Unabhängigkeit von Boeing, heute die von den US-amerikanischen Hyperscalern.
Gaia-X soll kein Gegenentwurf zu US-amerikanischen oder chinesischen Cloud-Infrastrukturen sein. Die Daten-Cloud ist vielmehr als Ökosystem gedacht, in denen viele aus der Analyse von Daten profitieren sollen. Die acatech-Plattform „Lernende Systeme“ hat inzwischen zahlreiche Beispiele vorgestellt, die zeigen, wie vor allem mittelständische Unternehmen aus einer datengetriebenen Ökonomie in einem gemeinsam getragenen Ökosystem zusätzlichen Nutzen ziehen können. Zwar lassen sich diese Beispiele auch sämtlich in einer privaten Cloud der aktuellen Hyperscaler erzielen. Aber mit Gaia-X winkt eben das, was mehr und mehr Manager vermissen: europäische Daten-Souveränität.
Es kommt schon einem Treppenwitz der IT-Geschichte gleich, dass die Ressentiments, die gegenüber der Cloud vor allem im Mittelstand jahrelang bestanden, nun durch den US-Cloud-Act aufs tiefste bestätigt werden. Denn die Sorge, die 60 Prozent der Manager umtreibt, nämlich, dass die in die Cloud verlegten Daten vor dem Zugriff Dritter nicht vollständig geschützt sein können, wird durch die US-amerikanische Rechtsauffassung bestätigt. Diese Rechtsposition, nämlich dass Daten im Verdachtsfall auch dann ausgeliefert werden müssen, wenn sie außerhalb der USA gespeichert sind, anderen Rechteinhabern gehören, aber von US-Unternehmen gehostet werden, diese Rechtsposition entspricht genau dieser europäischen Urangst. Und in der Tat: Souveränität sieht anders aus.
Seit einem guten Jahr wird inzwischen in Standardisierungsgremien und Arbeitskreisen daran gebosselt, wie die Daten-Cloud unter dem Namen Gaia-X eigentlich aussehen soll. Vor gut zehn Wochen veröffentlichten Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier und sein französischer Amtskollege Bruno LeMaire erste Policy Rules and Architecture of Standards (PRAAS), die dem künftigen Datenpool Gestalt geben sollen. Seitdem wird in Wirtschafts- und Technologie-Verbänden sowie in den Behördenzimmern am Feinschliff dieser Verhaltensregeln für die Cloud gearbeitet. Es findet also derzeit etwas Ähnliches statt wie die Abstimmung über die Cloud – wenngleich auch nur unter Technokraten. Aber das ist mehr als nichts.
Es wäre allerdings doch interessant, einmal das Ergebnis eines Plebiszits über unsere künftige informationstechnische Infrastruktur zu kennen. Mangelnde Expertise muss man der Bevölkerung dabei nicht vorwerfen. Sie hat schon vor Corona mit voller Überzeugung die Cloud entweder genutzt oder gemieden und im Shutdown die Vorzüge des Remote Work, Home Office und Home Schooling schätzen gelernt. Und übrigens durften auch die Briten ohne größere Sachkenntnis über eine so folgenschwere Entscheidung wie der über den Brexit abstimmen. Vielleicht kommt dann doch eine souveräne Entscheidung wie der Auftrag zur Bildung von Airbus Industries der Informationstechnik dabei heraus. Das wäre doch wohl wahrscheinlicher als ein Clexit – ein Exit aus der Cloud.