Es ist, als würde man aus seiner eigenen Echokammer befreit, in dem die fortdauernden Rufe nach mehr Intelligenz, mehr Innovation und mehr Investition keine andere Antwort als das eigene Echo erzeugen. Jetzt hat der wissenschaftliche Beirat im Bundeswirtschaftsministerium reichlich unverblümt ausgesprochen, was Wirtschaftsverbände, Wirtschaftsweise und Wirtschaftsjournalisten schon seit langem anprangern – nur nicht so drastisch: „Deutschland leistet sich in der öffentlichen Verwaltung Strukturen, Prozesse und Denkweisen, die teilweise archaisch anmuten“, heißt es in dem Gutachten, das seit letzter Woche Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier vorliegt. Es komme zu „verschiedenen Formen von Organisationsversagen“.
Nicht ganz so drastisch, aber immerhin doch unmissverständlich werden auch die Wirtschaftsunternehmen in Deutschland abgestraft. Ohne es direkt zu formulieren, kommen die Gutachter zu der Schlussfolgerung, dass die Pandemie zumindest unter dem Aspekt der digitalen Transformation durchaus etwas Segensreiches mit sich bringe: „Für die digitale Transformation bedeutete die Pandemie in wichtigen Bereichen eine erzwungene Beschleunigung, die allerdings ohne Vorbereitung ablaufen musste. Gleichzeitig hat die Krise in einigen Bereichen, in denen technologische und organisatorische Potenziale für Produktivitätsgewinne und Innovation systematisch unterschätzt worden waren, schnelle Anpassungen und Erkenntnisgewinne erbracht.“
Denn, so die Gutachter weiter, „die Pandemie hat überall dort Defizite aufgezeigt, wo deutsche Institutionen – Verwaltungen, Unternehmen, Schulen, Hochschulen, Gerichte – ihren längst erkannten und ausführlich diskutierten Aufgaben zur Digitalisierung der Abläufe über lange Zeit nicht nachgekommen sind.“ Und um die Klatsche zu komplettieren: „In der Pandemie haben diese Schwächen eine wirksame Antwort der Politik auf die Krise und die Begrenzung des ökonomischen Schadens massiv behindert.“
Nicht nur der ökonomische Schaden hätte bei einem forcierten Marsch in die Digitalisierung, wie er seit der Jahrtausendwende erst fällig und dann mehr und mehr überfällig wurde, geringer ausfallen können. Auch der Schaden im sozialen Umfeld und vor allem im Gesundheitswesen – dort, wo wir unsägliches Leid durch inzwischen 80.000 Todesopfer zu beklagen haben – hätte geringer ausfallen können. Es geht ja nicht einmal nur um die inzwischen sprichwörtliche Kommunikation per Fax, die die Übermittlung der Daten aus den Gesundheitsämtern an das Robert-Koch-Institut behindert. Aber schon da sind die Auswirkungen frappierend: Weil Mitarbeiter im Gesundheitsamt sich in die Osterfreizeit zurückgezogen haben, sind die Zahlen noch Wochen später nicht verlässlich. Nicht auszudenken, das Pflegepersonal auf den Intensivstationen unserer Krankenhäuser hätte die gleiche Arbeitsauffassung!
Die archaischen Zustände sind auch die Hauptursache für unzureichendes Datenmaterial, auf deren Basis Bund und Länder die Corona-Maßnahmen beschließen. Nirgends wird dies deutlicher als bei der Frage, wie und vor allem wo sich Aerosole ausbreiten und wie und wo sich Menschen anstecken. Dass draußen die Luft reiner ist, weiß man eigentlich auch so – sonst würde ja Lüften nichts nützen. Aber ob nun Ausgangsperren die Ansteckungsgefahr im häuslichen Umfeld mindern, ob Schulen geöffnet bleiben sollten oder Geimpfte Sonderregelungen in Anspruch nehmen dürften, entscheiden wir nicht auf der Basis eines belastbaren Datenmaterials, das nicht erhoben werden kann oder darf, sondern nach Gutdünken. Daumenregeln ersetzen Algorithmen.
Und was rät der wissenschaftliche Beirat dem Bundeswirtschaftsminister und allen saumseligen Institutionen? Zusammengefasst könnte man interpretieren: Der Hund muss einfach nur zum digitalen Jagen getragen werden, wenn er nicht von selbst laufen will. Mehr finanzielle Anreize, einfach endlich die Digitalpakte zu nutzen und auszunutzen, die schon auf dem Weg sind, lautet die Empfehlung. Dass im Bildungswesen die bereitgestellten Mittel bislang nur zu einem Bruchteil abgegriffen wurden, während Lehrer immer noch auf die Bereitstellung eines Computers warten, ist schon an sich ein bildungspolitischer Skandal. Dass sie aber eigene Rechner ebenso wenig nutzen dürfen wie Schüler die private Email-Adresse, weil Landesdatenschutzbeauftragte unverhältnismäßig hohe Hürden mit der Begründung errichten, die Privatsphäre der Schutzbefohlenen achten zu müssen, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Das Recht auf Bildung steht offensichtlich dahinter zurück.
Auch in die zum Jahreswechsel in der EU verabschiedeten finanziellen Digitalpakete setzt der wissenschaftliche Beirat große Hoffnungen und schließt dabei die Augen vor der Tatsache, dass ja gerade die archaischen Zustände in den Behörden und das multiple Organisationsversagen Hauptgrund dafür sind, dass die Fördertöpfe unerreicht und ungenutzt herumstehen. Es ist ein Teufelskreis: die öffentliche Hand verhindert durch ihre mangelnde Effizienz die Weiterentwicklung ihrer eigenen Infrastruktur. Willkommen in der eigenen Echokammer.
Heinz-Paul Bonn bloggt seit mehr als zwei Jahrzehnten zu Themen der Digitalwirtschaft. Mit HPBonn.Consulting berät er Unternehmen und Persönlichkeiten aus der Szene. Mehr erfahren Sie hier.