Der Wettlauf ins All ist zurück – nicht zwischen dem Sowjet-Nachfolger Russland und den Vereinigten Staaten, sondern zwischen Privatpersonen, deren Vita und Exzentrik die besten Ingredienzen für einen schönen SciFi-Schmöker liefern könnten: Jeff Bezos, Richard Branson, Elon Musk. Das Trio beherrscht mit seinen „Spaceiaden“ die Medien in diesem Sommer. Der eine, weil er sich mit zwei Milliarden Dollar ins Mondlandeprogramm der NASA einkaufen möchte. Der andere, weil er mit seinen Raumfahrzeugen die Aufholjagd gegen den dritten startet. Der Dritte wiederum ist mit seinen Raketen bereits die Rettung für die am Boden liegende NASA. Und alle wollen persönlich ins All – haben es aber allenfalls auf die theoretisch gedachte Linie zwischen Atmosphäre und der Unendlichkeit geschafft.
Nur einer war schon „richtig“ im All – und das sogar zweimal: Charles Simonyi. Er flog 2007 und 2009 mit russischen Sojus-Raumschiffen zur Internationalen Raumstation und hat damit das Zeitalter des Weltraumtourismus eröffnet, bevor Bezos, Branson oder Musk überhaupt gedankliche Höhenflüge absolvieren konnten. Doch während „Die Drei von der Startrampe“ moderne Systeme entwickeln, mit denen man ins All vordringen kann, bezahlte Simonyi ganz einfach zwei Tickets für die Sojus-Kapsel und den jeweils zweiwöchigen Aufenthalt auf der ISS. Damit war er viermal so weit von der Erde entfernt wie Jeff Bezos bei seinem Raumflug.
Das Geld für die Raumflüge verdiente Simonyi bei Microsoft zu einer Zeit, als es weder Amazon, noch Vergin, noch Tesla oder SpaceX gab. Der heute auf 3,5 Milliarden Dollar geschätzte gebürtige Ungar schöpft sein Vermögen aus den Tantiemen für seine Erfolge bei Microsoft, wo er in den achtziger und neunziger Jahren federführend für die Entwicklung der Office-Programme Word, Excel, PowerPoint und Access zuständig war. Microsoft Office wurde zum Quasi-Industriestandard für Produktivitätstools auf dem PC und war so erfolgreich, dass der damalige Firmenlenker Bill Gates den Blick für aktuelle Trends wie zum Beispiel das World Wide Web zwischenzeitlich vollkommen verlor.
Was dann geschah, liest sich wie der Wettlauf zum Mond: In Windeseile entwickelte Microsoft den Internet Explorer, um der eigenen Anwendungswelt einen Browser für das World Wide Web hinzuzufügen.
Weil aber wertvolle Zeit verloren gegangen war, nutzten die Redmonder ihre Marktmacht und benachteiligten führende Browser wie Netscape in ihrer Windows- und Office-Umgebung, was schließlich zum Antitrust-Verfahren „US vs. MS“ führte, in dem Microsoft nur mit knapper Not der Zerschlagung des eigenen Konzerns entging. Seit dem Gerichtsspruch im Jahr 2000 müssen die Entwickler von Windows und Office getrennt voneinander arbeiten. Das Unternehmen war auf seinem Tiefstpunkt angelangt.
Das World Wide Web war nicht die einzige verpennte Technologie. Die Tablets, das Smartphone, die Cloud – nirgends erwies sich Microsoft als Innovationsführer. Dann, 2014, kam Satya Nadella.
Seit der heutige CEO und Chairman den Steuerknüppel auf der „MS Redmond“ übernahm und den Kurs auf „intelligent Cloud / Intelligent Edge“ legte, hat sich der Börsenwert des Unternehmens versechsfacht – auf zuletzt zwei Billionen Dollar. Nur Apple hatte zuvor – übrigens dank eines noch zu Lebzeiten des legendären Steve Jobs eingeleiteten Turnarounds – diese Marke der Marktkapitalisierung schon einmal überschritten.
Der mit seiner asketischen Figur eher an Gandhi als an Gagarin erinnernde Satya Nadella ist auf eine bemerkenswerte Weise erdgebunden. Zusammen mit Microsoft Präsident Brad Smith hält er Microsoft aus praktisch allen öffentlichen Debatten über die zunehmende Macht der Internet-Giganten heraus. Mit der Corona-Pandemie hat sich das Unternehmen vom Pandemie-Profiteur zum Lockdown-Retter weiterentwickelt, ohne dessen Cloud-Lösungen weder Home Office, noch Home Schooling, noch das Wiedererstarken der Wirtschaftsunternehmen denkbar wären. Doch trotz des Millionen Dollar teuren Rechtsstreits mit US-Behörden über die Frage, ob und zu welchen Bedingungen ein Cloud-Anbieter verpflichtet werden kann, personenbezogene Daten im Verdachtsfall herausrücken zu müssen, wird Microsoft von deutschen Datenschützern unter Generalverdacht gestellt. Sie verweigern Schulen die Nutzung von Microsoft-Lösungen – ohne eine echte Alternative für den im Herbst erneut drohenden Lockdown nennen zu können.
Es ist nicht nur ein Marketing-Coup von Microsoft, alles und jedes mit der Zahlenkombination „365“ zu versehen. Denn die ubiquitäre Cloud begleitet uns inzwischen jeden Tag im Jahr. Das erst zuletzt mit Windows 365 in die Cloud verlagerte PC-Betriebssystem ist sozusagen der Schlussstein dieser Strategie, in der jede Infrastruktur, jede Anwendung, jede Benutzerumgebung in der Azure-Cloud virtualisiert wird. Azure-Rechenzentren gibt es inzwischen in mehr als 30 Regionen dieser Erde. Und es ist vielleicht nur eine Frage der Zeit, bis sich Azure auch aus dem All meldet.
Jeff Bezos verdient die Anerkennung, mit Amazon Web Services den Markt für Cloud Computing überhaupt erst bereitet zu haben, nachdem IBM – wie so oft in den letzten Jahrzehnten – einen Markt erst eröffnet, dann aber verdaddelt hatte. AWS dürfte einen wesentlichen Anteil daran tragen, dass es die Digitalwirtschaft weltweit nach der Dotcom-Blase überhaupt zu Substanz und zu milliardenschweren Unternehmen geschafft hat. Aber Microsoft hat es geschafft, Cloud Computing mit der Azure Plattform überhaupt erst mittelstandsfähig gemacht zu haben. Das ist Satya Nadellas Verdienst. Mögen Bezos, Branson und Musk über sich das All sehen, Nadella sieht beim Blick nach oben den strahlenden Azur.