Liest man die Wahlprogramme der Parteien oder hört den drei Kandidaten fürs Kanzleramt zu, gewinnt man den Eindruck, die „goldenen Zwanziger Jahre“ begönnen unmittelbar nach dem 26. September. So viel Zukunftsprogramm und Innovationsoffensive wie auf dem geduldigen Papier war noch nie. Der Zusammenhang zwischen digitaler Transformation und globaler Wettbewerbsfähigkeit ist demnach ein gemeinsamer Nenner.
Und in der Tat: so viel Veränderung war noch nie: Der Zeitraum „nach der Wahl“ ist auch die Zeit „nach Corona“, „nach GroKo“, „nach Merkel“. Das wird nicht von allen positiv gesehen, wie die Studie „Beyond Merkelism„ der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) in zwölf EU-Staaten zeigt. Unsere europäischen Nachbarn trauen Deutschland demnach zwar zu, europäische Interessen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie in den Bereichen Demokratie und Menschenrechte zu vertreten. Doch während Angela Merkel im Ausland zum Inbegriff eines starken und stabilen Deutschlands geworden ist, fürchten 27 Prozent der Befragten außerhalb Deutschlands, dass die Bundesrepublik künftig nationalistischer agieren werde. Immerhin 25 Prozent glauben dagegen, Deutschland werde andere EU-Staaten künftig besser unterstützen.
Durchaus pessimistisch werden auch die mutmaßlich „goldenen Zwanziger“ gesehen. Jeder zweite Deutsche und jeder dritte Nachbar ist der Meinung, dass Deutschland sein „goldenes Zeitalter“ mit dem Boom vor Corona schon hinter sich hat. Das könnte auch daran liegen, dass dieses Land im digitalen Ranking konsequent nach hinten durchgereicht wird und in Europa nunmehr auf dem vorletzten Platz rangiert – vor Albanien. Die Deutschen jedenfalls glauben nach einer Befragung des Hightech-Verbands Bitkom, dass keine der im Bundestag vertretenen Parteien trotz der Versprechen in den Wahlprogrammen einen digitalen Durchbruch initiieren könnte. In der Digitalkompetenz erhielten die Parteien im Durchschnitt eine schwache Drei minus.
Dabei hat die Pandemie in den Augen der Befragten schonungslos die Defizite im Lande offengelegt. In der Konsequenz fordern die Deutschen laut repräsentativer Bitkom-Studie zu 99 Prozent eine Digitalisierung der Schulen. 97 Prozent erwarten größere Anstrengungen bei der Bekämpfung der Internetkriminalität. 96 Prozent machen sich für den Schutz der persönlichen Daten stark. 92 Prozent wünschen sich zudem die Vermittlung von Digitalkompetenz an Kinder und Jugendliche. 88 Prozent erhoffen sich die Digitalisierung des Gesundheitswesens. Und die Digitalisierung der Verwaltung fordern 87 Prozent. Die Entbürokratisierung durch digitale Transformation rangiert damit zwar erst an sechster Stelle, erfuhr aber gegenüber der Vergleichsstudie aus dem Jahr 2017 den stärksten Zuwachs – um 15 Prozentpunkte.
Nicht einmal jeder Zehnte, so ermittelte das Softwarehaus Citrix in einer Marktanalyse, glaubt, dass die deutschen Behörden gut aufgestellt sind. Immerhin 58 Prozent der Befragten sind demnach nicht zufrieden mit den digitalen Dienstangeboten der öffentlichen Verwaltung. Dabei- so ergänzt der Bitkom – wollen die Deutschen „mehr Online“. Das gilt für digitale Informationen, politische Beteiligung und Behördengänge. Nicht überraschend ist dabei, dass der Wunsch online zu wählen oder sich im Internet über politische Themen zu informieren, vor allem bei den Jüngeren überwiegt. Aber auch die über 60jährigen würden sich den Weg zum Amt gerne mit Hilfe von verständlichen Online-Services ersparen. Dass mit der Digitalisierung nicht nur eine bessere Verfügbarkeit der Dienstleistungen, sondern vor allem eine weitergehende Entbürokratisierung verbunden sein soll, versteht sich von selbst. Themen wie eine schnellere Bearbeitung von Bauanträgen und die Beschleunigung von Planungsverfahren, die leichtere Bewilligung von Zuschüssen und die Förderung von Zukunftsprojekten sowie von Startups stehen ganz oben auf der Wunschliste. Nur so können auch andere Herausforderungen wie die Bekämpfung des Klimawandels, der Kriminalität und die Rückeroberung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit erreicht werden.
Es wird eine der spannendsten Fragen der kommenden Jahre sein, wie viel Digitalkompetenz sich „jenseits des Merkelismus“ entdecken lässt. Dass die digitale Transformation je nach Parteienfärbung entweder in einem ressortübergreifenden Digital- und Innovationsministerium oder als Chefinnensache im Kanzleramt verortet werden soll, ist ein notwendiger, aber allein noch nicht hinreichender Schritt.