Es fühlt sich an wie ein paar warme Sonnentage im Oktober, die dem Herbst ihren besonderen Glanz und dem Most noch ein paar Oechslegrad geben: „Wir sind in einer Hoffnungszeit angekommen“, hören wir von Robert Habeck, und Christian Lindner kontert mit: „lange Zeit hat es keine vergleichbare Modernisierungschance gegeben.“ Annalena Baerbock sieht „eine Koalition des Fortschritts für eine Modernisierung“, während Olaf Scholz nüchtern hanseatisch konstatiert: „hier ist ein Aufbruch möglich“. Christian Lindner arbeitet an „einer Art fortschrittsfreundliches Zentrum“ und Robert Habeck warnt, dies sei „eine Hoffnungszeit, die wir nicht enttäuschen dürfen.“
Mehr Pathos war nie. Noch sind die Koalitionsverhandlungen kaum richtig in Fahrt gekommen, da hat bereits die Ampel-Muse unsere Koalitionäre geküsst. Ohne mehr Details, als das dreizehnseitige Sondierungspapier hergibt, zu verraten, finden Grüne, Liberale und Sozialdemokraten zu einer Poesie der Zukunftseuphorie, die die ganze Bräsigkeit der Merkel-Jahre abzuschütteln versucht. Alles soll sich ändern. Aber es muss sich auch alles ändern.
Um nicht missverstanden zu werden: Wir erleben gerade die letzten Tage einer großartigen Kanzlerschaft, in der uns Angela Merkels besonnene und unprätentiöse Art durch zahllose Krisen geführt hat. Nicht nur die im Stehen erbrachten Ovationen des EU-Gipfels, die liebevolle Videobotschaft des ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama, sondern – und das vor allem – der Dank aller Deutschen und eine Würdigung in den Geschichtsbüchern sind dafür angemessen. Aber sie war und ist auch die Kanzlerin, der die Begabung zu Experimenten, Visionen und Innovationen fehlte.
Und doch: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“: dieses Zitat des anderen großen Krisenmanagers im Kanzleramt – Helmut Schmidt nämlich – sollte die Ampel-Koalitionäre erden. Denn bei aller Zukunftsgewandtheit und Erneuerungseuphorie der jetzigen Koalitionsverhandlungen: ganz ohne Merkelismus wird auch der Ampelismus nicht auskommen. Dafür dürfte Scholz stehen, der seine Haltung in der Gefolgschaft von Schmidt und Merkel ein wenig überdeutlich zur Schau trägt.
Und Lindner? Er hat erlebt, wie seine Parteifreunde Westerwelle und Rösler durch Angela Merkel einfach ausgesessen und unter diesem Druck zerquetscht wurden. Die Ampel ist seine historische Chance, nun „besser zu regieren als nicht zu regieren“. Darum drängt er ins Finanzministerium. Denn der Hüter der Finanzen steuert die Welt im Ganzen. 50 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich für Klimaschutz, Digitalisierung und Bildungsoffensive. Oder vielleicht mehr, wie inzwischen die Wirtschaftsexperten mutmaßen? Staatlich gestützte Investitionsgesellschaften, die Instrumentalisierung der – nomen est omen – Kreditanstalt für Wiederaufbau, am Aktienmarkt operierende Rentenfinanzierer, Überprüfung der Subventionen, mehr Steuereinnahmen durch eine ertüchtigte Wirtschaft, Kredite als ein Synonym für Schulden: die Elemente der kreativen Haushaltsführung werden längst diskutiert.
Dabei geht es diesmal weniger ums Geld, als vielmehr um Inhalte – auch wenn die Frage der Finanzierung dieser „Modernisierungschance“, dieses „fortschrittsfreundlichen Zentrums“ über allem schwebt. Aber die entscheidende Frage bleibt: wie transformieren wir diese Gesellschaft, die Wirtschaft, unser Bildungssystem, unser Gesundheitswesen, unsere Innovationsprozesse, unser Verhalten in Bezug auf Nachhaltigkeit, Artenvielfalt und Klimaneutralität? Wie erneuern wir unsere Infrastruktur angesichts maroder Autobahnbrücken, zerschlissener Eisenbahngleise, unzureichender Internet-Ausstattung und – nicht zuletzt – intellektuell und personell überforderter öffentlicher Verwaltung? Wo sollen die Fachkräfte herkommen, die wir für diese Transformation so dringend benötigen.
Diese Fragen, die wir jetzt den Koalitionären stellen, sind das Ergebnis eines multiplen Organversagens der öffentlichen Hand auf allen Ebenen. Dass Deutschland in nahezu allen Infrastrukturfragen innerhalb von Europa auf jeweils letzte Plätze durchgereicht wurde, ist die Folge eines jahrzehntelangen Dornröschenschlafs, der nicht erst mit Merkel, sondern in den achtziger Jahren einsetzte, als Personalabbau in der Verwaltung zu Kompetenzabbau führte, als Kupfer den Vorrang vor Glasfaser erhielt, als Volkszählungen zu Überwachungsmechanismen stilisiert wurden und SUVs statt Drei-Liter-Autos auf die Straßen kamen und Abschaltautomatiken überhaupt erst denkbar werden konnten. Die eigentliche Transformation besteht darin, diesen Ungeist aus den Tempeln zu jagen. Das ist die wahre Jahrhundertaufgabe.
Diese Jahrhundertaufgabe kann nicht von einer Bundesregierung allein gelöst werden – egal, ob sie die Farben der Ampel oder Jamaikas trägt. Wir brauchen wieder – wie schon 1967, als eine vergleichbare Runderneuerung von Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft anstand – eine Konzertierte Aktion, einen, wie Karl Schiller es damals formulierte, „Tisch der gesellschaftlichen Vernunft“, an dem alle gesellschaftlichen Kräfte Platz nehmen und an dieser Jahrhundertaufgabe mitarbeiten.
Denn eine Jahrhundertaufgabe lässt sich nicht in eine Legislaturperiode quetschen. Es wird Zeit für Langfristperspektiven, in denen wir Katastrophen und Krisen vorbeugen, statt uns in ihnen zu bewähren. Das wäre eine in der Tat „unvergleichliche Modernisierungschance“.