Mit den an diesem Wochenende gemeldeten Corona-Erkrankten ist die Gesamtzahl der bekannten Corona-Fälle seit Ausbruch der Pandemie auf mehr als fünf Millionen Menschen in Deutschland gestiegen. Zwei Prozent dieser Corona-Patienten sind im Zusammenhang mit dem Virus verstorben. Darunter ist der Anteil der Achtzigjährigen und Älteren besonders hoch, weil bei ihnen die Wahrscheinlichkeit einer Vorerkrankung ebenfalls besonders hoch ist.
Darüber gibt es jedoch nur Schätzungen und Mutmaßungen, weil aus Datenschutzgründen diese Vorerkrankten nicht erfasst oder zumindest nicht personifiziert hinterlegt sind. Dabei wäre es für die künftigen Maßnahmen gerade wichtig, hier Genaueres zu wissen. Aber der Datenschutz ist uns nun mal heilig. Heiliger offensichtlich als eine datengestützte Medizin.
Wie hoch die Zahl der tatsächlich Erkrankten ist, können wir ebenfalls nur schätzen. Dies liegt aber nicht am Datenschutz, sondern daran, dass viele Erkrankungen von überforderten Ärzten nicht als Corona-Fälle erkannt werden oder weil routinemäßige Tests der Bevölkerung nicht mit unserer Auffassung von Freiheit zusammengehen. Immerhin hat jetzt Jan Fuhrmann vom Institut für Angewandte Mathematik der Universität Heidelberg eine fachlich gut begründete Schätzung abgegeben. Der Experte für mathematische Epidemiologie geht davon aus, dass die Dunkelziffer – also die Zahl der nicht als solche erkannten Corona-Erkrankten – noch einmal so groß ist wie der vom Robert-Koch-Institut bestätigte Wert. Also noch einmal fünf Millionen.
Das wäre unfassbar viel. Träfe das tatsächlich zu, wäre in Deutschland jeder Achte bereits einmal ernsthaft von dem Virus befallen worden. Es würde aber auch bedeuten, dass unserem Gesundheitswesen jeder zweite Erkrankte durch die Lappen geht, wir also von völlig falschen Daten – wenn überhaupt von Daten – ausgehen und auch unsere Maßnahmen basierend auf völlig falschen Annahmen beschlossen werden – wenn überhaupt welche beschlossen werden. Dass die Dunkelziffer so hoch sein kann, liege daran, dass Geimpfte erstens nur selten einen negativen Test brauchen, zweitens häufiger einen nahezu asymptomatischen Krankheitsverlauf haben und drittens oft der Fehleinschätzung unterliegen, sie könnten sich dank der Impfung gar nicht mehr infizieren. Mit anderen Worten: der Impfschutz ist bei weitem nicht so wirksam wie erhofft – erst recht gegenüber der Delta-Variante. Und das macht das Boostern noch dringlicher – und zwar für alle.
Dass Deutschland als digitaler Sonderschüler weitgehend datenlos von der vierten Welle überrollt werden wird, ist schon schlimm genug. Dass wir uns angesichts einer handlungsunfähigen alten Bundesregierung und einer noch nicht handlungswilligen neuen Bundesregierung auch noch tatenlos von dieser Welle überrollen lassen, ist ein Politskandal ersten Ranges. Das hörte sich nicht nach einer Ruck-Rede an, als sich der mögliche achte Kanzler dieser Bundesrepublik, Olaf Scholz, vor dem Bundestag in vagen, alles relativierenden Phrasen erging. Und es hörte sich auch nicht nach der krisengestählten Kanzlerin an, als Angela Merkel vor einem drohenden Lockdown zumindest für Ungeimpfte noch vor Weihnachten warnte.
Datenlos, tatenlos, unfähig und unwillig – wenn man dazu noch ein freundliches Gesicht machen muss, „dann ist das nicht mehr mein Land“. Ich bin in diesem katastrophalen Corona-Herbst, in dem wir so tun, als hätten wir nichts dazu gelernt, nicht nur geimpft und getestet, sondern vor allem: genervt. Genervt von einer Politik, in der Fehleinschätzungen auf mangelndem Datenmaterial und Fehlverhalten auf mangelnder Handlungsbereitschaft beruhen.
Und ich bin nicht allein. Laut ZDF-Politbarometer findet jeder zweite Deutsche (49 Prozent), dass die Corona-Maßnahmen härter ausfallen müssten – mehr als doppelt so viele wie noch im Oktober. Und nur noch ein knappes Drittel (32 Prozent) ist mit der Corona-Politik einverstanden. Dass das Volk inzwischen konsequenter urteilt als die Volksvertreter zeigt diese Zahl: 67 Prozent fordern eine bundesweite 2G-Regelung – unter den 2G-Gegnern halten sich die meisten für eine „Alternative für Deutschland“.
Und nachdem unsere Nachbarn in Österreich und den Niederlanden längst gehandelt und schärfere Maßnahmen für ihre Bürger beschlossen haben, scheint sich auch in der amtierenden Bundesregierung ein schwacher Handlungswille zu regen. Der Entwurf zur Überarbeitung des Infektionsschutzgesetzes sieht eine erheblich strengere Kontrolle am Arbeitsplatz vor. Demnach müssen Arbeitnehmer bei Betreten ihrer Arbeitsstelle ihren Impfstatus offenlegen. Und plötzlich lässt sich auch der Datenschutz aufweichen: „Zu diesem Zweck dürfen personenbezogene Daten sowie Daten zum Impf-, Sero- und Teststatus in Bezug auf die Coronavirus-Krankheit-2019 (Covid-19), verarbeitet werden“, heißt es in dem Entwurf. Zusätzlich sollen 2Gplus-Regeln für Veranstaltungen umgesetzt werden. Ein ähnlicher Entwurf wurde den Ampel-Koalitionäre als „Formulierungsvorschlag“ zugeschickt.
Das hätte alles längst passieren können. Und auch, wenn doch vor Weihnachten der Lockdown für Ungeimpfte kommt – oder Schlimmeres – werden wir wieder konstatieren müssen: zu wenig, zu spät. Es bleibt dabei: Geimpft, getestet, genervt.