211108 Insel

Niemand ist eine Insel

Die Inzidenz nähert sich dem Höchststand aus dem vergangenen Dezember und der CO2-Ausstoß der Wirtschaft hat wieder das Niveau zu Zeiten vor der Pandemie erreicht. Es ist, als hätten wir nichts erreicht in den vergangenen zwölf Monaten, nichts gelernt und nichts geschafft, um uns auf die vierte oder fünfte Welle in diesem Winter vorzubereiten. Und nach Rom und Glasgow lassen wir weiter Kohle und Gas glühen, als gäbe es kein Morgen. Aber wenn wir so weiter machen, gibt es auch kein Morgen mehr.

Denn wir leisten uns Kindergarten-Argumente wie: „Ich brauche mich um meinen persönlichen CO2-Abdruck nicht zu bekümmern, solange China auch nichts unternimmt“ oder „Ob ich mich durchs Impfen schützen möchte, ist allein meine Entscheidung“. Wir pochen auf eine Haltung, in der jeder glaubt, für sich allein entscheiden zu können, was zu tun ist. Dabei gibt es neben dem Recht auf Individualität auch die Pflicht zum Gemeinwohl. Und diesem Interesse haben wir uns alle unterzuordnen. Sonst kommt die Quittung – wie in Sachsen, Thüringen und Bayern, wo die Inzidenzen schneller steigen als das Wasser im Ahrtal. Ob Virus oder Klima – beide halten uns einen Spiegel vor, in dem wir unsere eigene Unfähigkeit erkennen müssen, logisch und zielgerichtet zu handeln.

Niemand möchte es laut aussprechen, aber wir laufen sehenden Auges auf einen weiteren Lockdown zu, der uns bis in den kommenden Frühling im Würgegriff halten wird. Dass dies nach 2G-Rgeln ein „Lockdown nur für Ungeimpfte“ sein könnte, weckt schon jetzt die Empörungsbereiten zu Shitstorms und Hass-Tweets. Aber es sind die ungeimpften Bedenkenträger und Corona-Leugner, die die Betten der Intensivstationen blockieren und die Pflegekräfte an den Anschlag ihrer Leistungsfähigkeit bringen. Am Ende wird dann doch bei aller selbstbestimmten Individualität die Solidargemeinschaft angebettelt, die helfen muss.

Dabei hätten wir vorbereitet sein können: mehr Druck auf Impfunwillige, Impfpflicht für Risikogruppen und Pflegepersonal, bessere Ausstattung der Schulen, innovative Arbeitsmodelle in den Unternehmen und mehr digitale Prozesse in Wirtschaft und Verwaltung, ein straffer geordnetes Gesundheitswesen und nicht zuletzt mehr Engagement bei der Verkehrswende und höhere Investitionen in unsere Infrastruktur. All das hätten wir in Angriff nehmen können, wenn wir mehr Bereitschaft hätten, alles völlig neu zu denken.

Denn weder der Kampf gegen das Virus, noch das Ringen um Nachhaltigkeit kann ohne Strukturwandel, ohne Systemwechsel erfolgen. In den USA gelingt es dem US-Präsidenten Joe Biden gegen härteste Widerstände endlich, ein billionenschweres Infrastrukturpaket durchzuboxen, das die Reparatur oder den Neubau von maroden Straßen, Brücken, Tunneln, Wasserleitungen und das Breitbandinternet vorsieht. Es soll Versäumnisse eines halben Jahrhunderts ausgleichen. Aber es ist zu befürchten, dass mit diesen 1750 Milliarden Dollar im wahrsten Sinne des Wortes nur der Status quo auf den Highways und Interstates zementiert wird.

In Deutschland wird praktisch zeitgleich zur Entscheidung im US-Kongress die Salzbachtalbrücke der A66 gesprengt, weil sie nicht mehr sanierungsfähig ist – ein Ersatz wird erst in fünf Jahren zur Verfügung stehen. Sie ist eine von 2500 Brücken an Deutschlands Fernstraßen, die als dringend sanierungsbedürftig gelten. Dafür sind neun Milliarden Euro veranschlagt. Das Bundesverkehrsministerium hat wenige Tage vor der Wahl gerade mal zwei Milliarden bereitgestellt – bis 2026. Auch hier wird nur der Ersatz geplant, statt eine Verkehrswende einzuleiten.

Oder tut sich doch etwas? Aus den Ampel-Verhandlungen sickert durch, dass die Deutsche Bahn aufgespalten werden soll, damit Betrieb und Infrastruktur voneinander getrennt werden können. Ein attraktiver Streckenausbau wäre demnach gut für den Wettbewerb auf der Schiene und damit für attraktivere Angebote. Aber wie lange wird das dauern?

Wir haben zu lange mit der notwendigen Strukturwende gewartet, dass nun kaum noch Zeit bleibt. Wir zögern bei Maßnahmen gegen den Klimawandel, obwohl auch hier kaum noch Zeit bleibt. Und wir  verdaddeln die Vorbereitung auf die vierte Corona-Welle, obwohl genug Zeit gewesen wäre.

Ein Jahr ohne nennenswerten Fortschritt bei der Pandemie, ein Jahr ohne zielführende Maßnahmen gegen den Klimawandel, ein Jahr, ohne dass die digitalen Innovationen wirklich umgesetzt werden. Wir können es uns nicht mehr leisten, auf andere zu warten. Jeder hat die individuelle Pflicht, für das Gemeinwohl zu arbeiten. Denn Niemand ist eine Insel.

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