Es mag wie Science Fiction klingen. Aber die Vorstellung, dass sich die Teamarbeit im Büro mehr und mehr am gemeinsamen Vorgehen von Rollencharakteren in Computerspielen orientiert, bekommt immer mehr Realität – wenn auch vorerst nur virtuelle Realität. Denn grundsätzlich gibt es keinen Unterschied zwischen einem Team, das gemeinsam – sagen wir – ein Entwicklungsprojekt planen und erfolgreich durchführen soll, und einer „Gilde“ von Spielern, die sich zusammenfinden, um unterschiedliche Talente, Eigenschaften und Stärken miteinander zu verbinden und dadurch Aufgaben zu bewältigen, die ein Einzelner nicht lösen könnte. Diese MMORPGs – also die Massively Multiplayer Online Role-Playing Games – unterscheiden sich also in ihrer Zielsetzung gar nicht mal so sehr von einer Collaborativen Software wie Microsoft Teams oder Zoom. Arbeiten und Spielen werden anscheinend in einer hybriden Welt die treibenden Elemente einer ausgewogenen Work/Life-Balance.
Das erklärt, warum Microsoft immer stärker in die Spieleentwicklung investiert und zugleich auch die Teamfähigkeiten seiner Productivity-Lösungen wie Office, Teams oder Viva ausbaut. Der eigentliche Battleground ist dabei gar nicht mal so sehr das Tablet, der PC oder die Konsole – also die Frage, ob Playstation oder Xbox im Wohnzimmer stehen, sondern vielmehr die Leistungsfähigkeit der Cloud im Hintergrund, die diese Teams im Spiel und im Büro unterstützt. Deshalb entwickelt sich Azure, die Cloud-Plattform von Microsoft, zum neuen Windows, ohne die im Büro und in der Spielewelt bald nichts mehr geht. Und auch die Entwicklungsumgebungen wandern sukzessive auf die Azure-Plattform ab, wo Cloud-Services und Werkzeuge für die Programmierung großer Spielewelten ebenso zur Verfügung stehen wie für Anwendungen im Internet der Dinge, die für das wirkliche Leben in der Realwirtschaft gebraucht werden.
Deshalb entscheiden sich nicht nur Unternehmen wie Bayer oder ZF für Microsoft Azure als Basis für ihre modernisierten Geschäftsmodelle, sondern auch Wettbewerber. Denn vordergründig wetteifern die japanischen Spiele-Ikonen Sega und Sony mit Microsofts Xbox-Angeboten. Doch schon 2019 hat Sony in einer strategischen Partnerschaft angekündigt, künftig seine Streaming-Angebote für die PlayStation aus Azure-Rechenzentren bereitzustellen. Und jetzt hat Sega einen Fünf-Jahres-Plan präsentiert, nach dem auf der Basis der Entwicklungsplattform Azure zunächst ein „FPS-Ballerspiel“ entstehen soll, dem mittelfristig ein global verfügbares „Superspiel“ folgen wird. FPS steht für „First-Person Shooter“, also einem Spiel, das aus der Perspektive des Spielecharakters gesehen wird. In Deutschland wird eher der Begriff „Ego Shooter“ verwendet – vielleicht auch, weil dieser Typ ebenfalls aus dem Büroalltag sattsam bekannt ist.
Da nimmt es nicht Wunder, dass weltweit immer mehr Azure-Spezialisten auch außerhalb der Microsoft-Welt gesucht werden – so wie lange Zeit R/3- und ABAP-Experten bei der Implementierung und Betreuung von SAP-Lösungen händeringend gesucht wurden. Neben den Anwenderunternehmen waren es vor allem SAP-Partnerfirmen, die unter diesem Facharbeitermangel litten.
Nun scheint sich dieses Phänomen zu wiederholen – wenngleich auch auf deutlich breiterer Front. Denn neben den klassischen Unternehmenslösungen, die vom Eigenbetrieb in die Cloud migrieren, entwickeln die Firmen neue Geschäftsmodelle im Sinne der Plattform-Ökonomie jenseits der klassischen ERP-Welt. Für IBM war das offensichtlich Anlass genug, nach zahllosen Akquisitionen in der Vergangenheit jetzt noch einmal tief in die Tasche zu greifen, um mit Neudesic einen der führenden Microsoft-Partner vom Markt wegzukaufen. Ziel der Übernahme ist es für IBM, mehr Azure-Kompetenz ins Haus zu holen, weil gerade in hybriden Cloud-Umgebungen Microsoft immer häufiger einer der Player ist, mit dem gerechnet werden muss. Für IBM ist das inzwischen ein signifikanter Umsatzgarant im Beratungsgeschäft rund um die digitale Transformation. Das gilt aus IBM-Sicht ebenso für Azure als auch für Amazon Web Services – letztere sind schließlich immer noch Marktführer im Cloud-Business. Aber die Breite, mit der Microsoft die Azure-Cloud in praktisch jedes Anwendungsfeld vom Wohnzimmer übers Büro bis in die Fabrik drückt, erinnert an den Markterfolg von Windows. Für Microsoft scheint die Cloud-Plattform längst strategisch wichtiger zu sein als die PC-Plattform Windows.