„Alle sind nervös“ resümierte SAP-Vorstandsvorsitzender Christian Klein seine Eindrücke von den Gesprächen zwischen Wirtschaft und Politik beim Weltwirtschaftsforum in Davos, das nach der Zwangsverschiebung wegen Corona diesmal nicht im Schnee, sondern unter der Maisonne stattfand. Und besser hätte der Zeitpunkt kaum gewählt sein können. Die großen, globalen Krisen überlagern einander mit einer Heftigkeit und Dringlichkeit wie vielleicht noch nie in der Neuzeit:
- ein völkerrechtswidriger Überfall auf die Ukraine, der sich zum Weltkrieg ausweiten könnte;
- eine Corona-Krise, die mutmaßlich über den Sommer nur eine Atempause nimmt und in Fernost bereits jetzt zu neuen Shutdowns führt;
- eine Klimakrise, die sich nicht nur langfristig anschickt, unseren Wohlstand zu beenden, sondern bereits kurzfristig mit extremen Wetterlagen eindringlich auf sich aufmerksam macht;
- eine Krise der Demokratie und des Dialogs, die sich nicht nur in den ins Stocken geratenen Gesprächen zwischen der Ukraine und Putins Russland offenbart, sondern auf jeder Querdenker-Demo auf den Straßen, jedem Rassenkonflikt in der Gesellschaft, jedem Hass-Post im Internet und nicht zuletzt darin, dass autokratische, wenn nicht diktatorische Führer neue Attraktivität genießen;
- eine Energiekrise, die die Versäumnisse und Fehleinschätzungen der Vergangenheit erbarmungslos offenlegt und uns jetzt dazu zwingt, ganze Industriezweige auf neue Herstellungsverfahren umzustellen;
- eine Ernährungskrise, die die Ärmsten der Armen besonders hart trifft, weil globale Getreidelieferungen ausgesetzt sind und immer noch zu viel Agrarland für die falschen Zwecke verwendet wird;
- eine Bildungs- und Qualifikationskrise, die uns daran hindert, die digitale und nachhaltige Transformation umzusetzen und zugleich die Modernisierung ganzer Industriezweige verzögert, wenn nicht gar verhindert;
- eine Krise der Lieferketten, weil wegen Corona erst die Betriebe im näheren Umfeld und dann die Häfen in Fernost geschlossen wurden – und weil wegen der Sanktionen gegen Russland und von Russland lange bestehende Produktionspartnerschaften zerbrachen;
- eine Infrastrukturkrise, die auf der Datenautobahn beginnt, bei Autobahnbrücken nicht Halt macht und im Schienennetz ihr marodes Ende findet.
- eine Finanz- und Wirtschaftskrise, die sich nicht nur in einer fortschreitenden Inflation, sondern auch in immer größerer Schuldenmacherei in den Industriestaaten manifestiert;
- eine Flüchtlingskrise, die nicht allein von den in den Westen eilenden Ukrainerinnen und Ukrainern verursacht wird, sondern durch die Millionen Menschen, die sich andernorts vor Vertreibung, Misshandlung, Krieg, Hunger oder Durst auf den großen Treck machen;
- und schließlich eine Erkenntniskrise, die sich besonders deutlich in den hilflosen Gesichtern der in Davos teilnehmenden Politikern und Unternehmern zeigte – es gibt auf die vorgenannten Krisen keine schnelle, keine einfache und erst recht keine Antwort, die niemandem wehtut.
Wer sollte da nicht nervös werden. Wer wollte da freiwillig Regierungsverantwortung übernehmen. Und wer wollte da eine langfristige Perspektive für sein Unternehmen und seine Mitarbeiter entwickeln.
Aber all dies muss geschehen: Und auch wenn es wie eine Plattitüde klingen mag – auch späte oder gar zu späte Investitionen in die digitale Transformation praktisch aller Lebens- und Tätigkeitsbereiche könnten helfen. Und offensichtlich, so lässt uns Christian Klein wissen, sehen das die Kunden der großen Technologiekonzerne auch so. In Sonntagsreden hört man diese Erkenntnis auch aus der Politik. Doch hier offenbart sich die letzte und vielleicht schwerwiegendste Krise:
Die Umsetzungskrise. Dass wir – nicht nur in Deutschland – auf einen Herbst hinsteuern, in dem die Datenlage für eine evidenzgestützte Pandemiebekämpfung erneut beziehungsweise immer noch fehlen wird, lässt sich jetzt schon absehen. Dass wir 100 Milliarden Euro für die Aus- und Aufrüstung der Bundeswehr ausgeben wollen, ohne an dem tatsächlichen Problem – nämlich den verschwenderischen Beschaffungsmethoden – wirklich etwas zu ändern, ist auch weiterhin zu beklagen. Dass die mittelständische Wirtschaft die aktuelle Krisenlage zum Argument nehmen wird, auch weiterhin bei der Digitalisierung ihrer Geschäftsprozesse und Transformation ihrer Geschäftsmodelle zögerlich zu sein, ist ebenfalls zu befürchten. Und dass bei der Suche nach alternativen, regenerativen Energiequellen weiterhin das Sankt-Florians-Prinzip gelten dürfte, wonach Wind- und Solarkraftwerke nur dann erwünscht sind, wenn sie woanders gebaut werden, zeichnet sich ebenfalls längst ab. Wer sollte bei all dem nicht nervös werden…
Ach ja: Und dass wir Deutschen anders als in praktisch allen anderen industrialisierten Ländern weiterhin auf den Autobahnen rasen werden, obwohl wir auch ohne Gebot langsam fahren könnten, darf ebenfalls unterstellt werden – selbst wenn durch diese Selbstbeschränkung Verkehrstote, Benzinknappheit und Staus vermieden werden könnten. Im Auto kommen irgendwie alle Krisen – egal ob Klima, Energie, Qualifikation, Lieferkette, Infrastruktur und Inflation zusammen. Da kann man nun aber wirklich nervös werden.