Können Sie sich ein Leben ohne Amazon noch vorstellen? In noch nicht einmal drei Jahrzehnten hat sich der Logistikriese, der mal mehr wie ein Onlinehändler, mal mehr wie ein Cloud Provider ausschaut, als Kulturtechnik fest in unsere Einkaufsgewohnheiten eingenistet. So, wie Google unsere Recherchegewohnheiten prägt. Oder so, wie Apple Smartphones unser Alltagsleben gestalten. Die E-Autos von Tesla sind noch zu exklusiv, um den gleichen ubiquitären Status im Mindset zu erhalten. Aber der Börsenwert von Tesla ist höher als der der drei größten deutschen Autobauer zusammengenommen.
Doch wie lange noch? Die Stimmung im DAX ist nicht nur wegen des „Russland-Feldzugs“ – dieses archaische Wort scheint inzwischen für die Vorgänge in der Ukraine angemessen – schlecht wie lange nicht. Auch die US-amerikanische Technologiebörse NASDAQ ist noch nie in ihrer 50jährigen Geschichte so schlecht in ein Börsenjahr gestartet und erholt sich von der Baisse kaum. Ein im doppelten Sinne gutes Jahrzehnt neigt sich dem Ende zu. Technologiewerte werden abgestraft, wenn sie zwar Visionen aufweisen, aber keine oder kaum Gewinne. Oder wenn – wie im Fall von Microsofts aktuellen Quartalsergebnissen – die Erwartungen der Analysten nicht weit genug übertroffen werden. Die Börsianer sind im Red-Alert-Modus.
Der Bär hat an der Börse den Bullen abgelöst, der die Märkte seit 2009 vor sich hergetrieben hatte. „Die meisten Leute unterschätzen dramatisch die Außergewöhnlichkeit dieses Bullenmarktes“, twitterte Anfang Mai der im vergangenen Jahr zurückgetretene Amazon-CEO Jeff Bezos in einem denkwürdigen Tweet. Und er warnt die Schönwetter-Börsianer vor schlechten Zeiten, die da „unaufhaltsam“ heranrollen: „Märkte lehren. Aber ihre Lektionen können schmerzhaft sein.“ Und weiter unkte er, es könne eine Zeit geben, in der Amazon in die Insolvenz taumele.
Amazon? Die Company, die jedes denkbare Marktsegment am Wegesrand der Logistik infiltriert, ist doch eigentlich „too big to fail“! Doch die aktuellen Finanzreports geben einen Vorgeschmack auf das, was Bezos kommen sieht: Im ersten Quartal 2022 setzte Amazon 116,4 Milliarden Dollar um, was einem Plus von sieben Prozent entspricht. Dabei fiel der operative Gewinn um 59 Prozent auf nunmehr 3,7 Milliarden Dollar. Doch wegen der Abschreibung auf den Elektroautobauer Rivian steht nun ein Verlust von 3,8 Milliarden Dollar an. Und Bezos´ Nachfolger Andy Jassy kündigte bereits an, dass die Umsätze im laufenden Quartal meilenweit von den Erwartungen entfernt seien – um fünf bis zehn Milliarden Dollar.
Mehr noch: Amazon Web Services scheint den Laden hochzuhalten. AWS ist nach Meinung von Analysten rund eine Billion Dollar wert, würde es für sich genommen an der Börse notiert. Nachdem Amazon wegen der schlechten Marktaussichten auf einen Schlag 200 Milliarden Dollar an Marktwert verloren hatte, verbleibt ein aktueller Börsenwert von 1,3 Billionen Dollar, was bedeuten würde, dass der gesamte Rest aus Online-Handel, weltweiten Logistik-Zentren, Amazon Prime, MGM mit James Bond und anderen Blockbustern auf lediglich 300 Milliarden Dollar taxiert wird.
Apple, so mutmaßen Analysten, könnte das nächste Unternehmen sein, das es hart treffen könnte. „There is one more thing“ – diese Ansage, mit der der verstorbene Apple-Gründer Steve Jobs fast immer eine technische und kulturelle Revolution angekündigt hatte, klingt schon länger nicht mehr aus Cupertino an. Und auch Highflyer wie die Streaming-Dienste Netflix und Spotify haben bereits ihre Prognosen nach schwachen Zahlen gedämpft. Auch der Fahrtenvermittler Uber liegt im Kreuzfeuer der Analysten: zwar hat der Taxi-Konkurrent seinen Umsatz in den ersten drei Monaten des Jahres verdoppelt, dabei aber einen Verlust von fast sechs Milliarden Dollar eingefahren. Und auch die Datenkrake Google kommt nicht unbeschadet durch die Baisse in der Tech-Branche. Die Google-Mutter Alphabet berichtet einen um 1,5 Milliarden Dollar auf 16,4 Milliarden Dollar geschrumpften Gewinn im Quartal.
Und in diesen Bärenzeiten an der Börse gibt Elon Musk satte 44 Milliarden Dollar für Twitter aus, um den Dienst mittelfristig von der Börse zu nehmen und damit unabhängig von Gängelungen zu machen. Musk, der für diesen Deal rund sieben Milliarden Dollar von Großinvestoren eingeworben hat, geriert sich damit als Retter der freien Rede – allerdings, so ist zu befürchten, einschließlich Hate-Speech und Fake-News. Ein Geschäftsmodell scheint auf den ersten Blick nicht dahinter zu stehen.
Tatsächlich aber ist die nächste Tech-Blase schon längst in Ausdehnung: der Wettbewerb um die Lufthoheit in der Meinungsfreiheit – oder sollte man besser sagen: der Meinungslenkung. Denn ganz so frei dürfte die Meinungsäußerung auf Twitter unter Musks Ägide nicht werden. Profinutzer sollen Gebühren zahlen. Will sagen: Wer zahlt, schafft an – auch bei der Meinungsbildung. Der Kampf um die Wahrheit ist längst verloren, wie die Berichterstattung um den Ukraine-Krieg zeigt. Die Gedanken sind frei, aber sie zu äußern könnte künftig teuer werden. Das Geschäft mit Fakten und Fälschungen ist in der Tat „too big to fail“.