Man kann es natürlich auch so machen – auf dem Tag der Industrie nahm Bundeskanzler Olaf Scholz seine Rede aus dem Vorjahr zur Hand und zitierte sich selbst: „Unser Land steht vor einer historischen Veränderung. Wir brauchen in Deutschland eine Politik des Machens, eine Kultur der pragmatischen Entscheidungen und der Durchsetzung.“ Dies gelte heute wie damals, als Scholz noch Bundesfinanzminister und (eigentlich aussichtsloser) Kanzlerkandidat war.
Zu sagen, seitdem habe sich nichts geändert, wäre stark an der Realität vorbeigesprochen. Zur Corona-Krise von damals gesellen sich weitere Weltkrisen von historischem Format: der Krieg in der Ukraine, der in Wahrheit ein Krieg um die Menschenrechte und die globale Staatenordnung ist; der „Gaskrieg“ Russlands gegen Europa, der aber tatsächlich „nur“ die ewig schwelende Klimakrise auf einen akuten Notstand hin zuspitzt; eine Logistikkrise der globalen Lieferketten, die aber eigentlich die Frage danach aufwirft, wie weit wir uns durch Outsourcing und Offshoring in Abhängigkeit von anderen begeben sollten; eine Souveränitätskrise, in der wir uns fragen müssen, mit welchen Mitteln und zu welchen Kosten wir unsere Gesellschaft und unsere Werte gegen Bedrohungen von innen und außen verteidigen wollen; schließlich die Finanzkrise mit einer globalen Inflation, die uns aber letztendlich zu den Fragen bringen wird, wie wir mit dem weltweit aufgetürmten Schuldenberg und gleichzeitig mit der Verknappung der Rohstoffe umgehen werden.
Ach ja – und da ist ja noch die allgemeine Digitalkrise. Nicht nur in Deutschland müssen wir uns damit beschäftigen, wie wir die digitale Transformation von Gesellschaft, Wirtschaft und der öffentlichen Hand beschleunigen können. Denn eines zeigt sich angesichts der sechs genannten Weltkrisen mehr und mehr: Digitalisierung ist der Weg zu mehr Nachhaltigkeit, besserer Widerstandskraft und mehr Souveränität. Hier wären wir schon weiter, hätten wir nicht nur ein Erkenntnisdefizit, sondern auch einen Mangel an Umsetzungsfähigkeit.
Und doch war die Stimmung auf dem Tag der Industrie letzte Woche besser als die Lage. Zwar rechnet der Bundesverband der deutschen Industrie noch mit 1,5 Prozent Wachstum, aber das eigentliche Bedrohungsszenario ist in diesem Krisenkonzert vor allem der russische Gasboykott, der uns nicht nur einen kalten Winter in den Haushalten bescheren würde, sondern ganze Industriezweige lahmlegen könnte – von der Chemieproduktion bis zum Autobau. „Das macht uns schon nervös“, gab BDI-Präsident Siegfried Russwurm zu.
Aber Angst ist ein schlechter Ratgeber und die Vorstellung vom Sturz ist bereits der Sturz, wie schon Joseph Schumpeter wusste. Der Tag der Industrie war deshalb nicht nur ein Multi-Krisen-Event, er war auch ein Aufbruch in ein „Wir schaffen das 2.0“. Den richtigen Ton traf dabei – wieder einmal – Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck, der immer mehr zum Krisenerklärer und zugleich jenem Macher zu werden scheint, dessen es jetzt bedarf – auch wenn er selbst diese Einschätzung als „völlig unangemessen“ abtut. Aber, obwohl auch er keine einfachen Lösungen parat hatte oder überhaupt Lösungen präsentierte und eher mit gebrochener Stimme den Kampf um die individuelle Freiheit heraufbeschwor, war da etwas, das Mut machte in diesen Zeiten. „Wir haben“, so wird BASF-Vorstandschef Martin Brudermüller zitiert, „so eine Rede noch nie am Tag der Industrie gehört. Das ging unter die Haut.“