Ärzteserien haben Konjunktur. Vor allem im Vorabendprogramm werden uns zugewandte Ärzte, aufopferungsvolle Stationsschwestern, allzeit bereite Operationssäle und Sofortdiagnosen präsentiert. Dabei sitzen die Protagonisten ständig in der Cafeteria rum, blödeln „auf Station“ oder halten mit Patienten in Einzelzimmern Händchen. Und wenn es mal dramatisch wird, hält so ein Chefarzt sein Tablet in die Höhe, um ganz schnell per Telemedizin einer Kollegin auf dem Hospital-Schiff vor Benin beizustehen, den gutartigen Tumor auf den ersten Blick zu erkennen oder mal eben schnell eine neue Studie zu einer bisher nicht erprobten Therapie durchzublättern.
Warum nur ist das reale Gesundheitswesen so weit von dieser schönen, heilen Welt im weißen Kittel entfernt? Weil darin permanent falsche Anreize gegeben werden, die eben nicht auf Wohlfühl-Medizin ausgelegt sind, sondern auf kurze Durchlaufzeiten. Üblicherweise wäre hier das Lieblingswort der IT-Beratung gefallen – „Effizienz“ nämlich –, doch davon ist das Gesundheitswesen nicht nur in Deutschland meilenweit entfernt. Ein Grund dafür ist die Tatsache, dass auch bei der ausgefeiltesten Apparatemedizin, die das 21. Jahrhundert hervorbringt, ins vergangene Jahrtausend zurückgesprungen wird, wenn es um das Generieren, Verwenden, Speichern, Weiterleiten und Analysieren von Daten geht. Dann ist das sprichwörtliche Faxgerät im Gesundheitsamt State of the Art.
Jetzt muss der Bundesgesundheitsminister dicke Bretter durchbohren, wenn er nach 20 Jahren endlich die elektronische Patientenakte durchsetzen will oder bei der Krankenhausfinanzierung auf das Regime der Fallzahlen zugunsten einer gestaffelten Versorgung durch regionale Grundleistungen bis zu überregionalen Spezialkliniken auflösen will. Doch allüberall auf den Treffen der Gesundheitsspitzen sieht er Datenschützer sitzen. Sie alle ziehen lieber vor den Kadi als den Karren aus dem Dreck.
Doch es könnte neues Tempo in die Digitalisierung und – ja, nun endlich – Effektivität des Gesundheitswesens kommen. Die Technik selbst bricht sich Bahn in Gestalt künstlicher Intelligenz, die seit der Vorstellung des Sprachassistenten ChatGPT im vergangenen November eine zumindest für das Gesundheitswesen unfassbare Dynamik erlangt hat. Und das ein gutes Jahrzehnt, seit IBMs KI-System Watson die ersten Vorschläge zu Therapie und Diagnose unterbreitet hat. IBM Watson wirkt gegen die neuen auf Large Language Modelle aufbauenden Sprachassistenten wie ein Methusalem der künstlichen Intelligenz.
Ebenfalls ein Methusalem der künstlichen Intelligenz ist die Diktier-Software Nuance Dragon, die in einer Sprachvariante speziell für die Arztpraxis ausgelegt ist und dort dem Arzt dabei hilft, die Anamnese und den Befund schnell zu dokumentieren. Das ist nicht nur effizient, sondern auch gesundheitsfördernd. Denn eines der größten Herausforderungen und zugleich Gefahren in der Arztpraxis besteht darin, dass sich behandelnde Ärzte mit immer weiter ausufernden administrativen Aufgaben befassen müssen. Sie müssen komplizierte Codierungs- und Abrechnungsanforderungen bewältigen, die kognitive Belastung bewältigen, um zunehmende Mengen an Patientendaten genau aufzuzeichnen und abzurufen, und langfristig eine alternde und wachsende Bevölkerung behandeln. Immer mehr Ärzte klagen deshalb über Burnout und Ermüdungserscheinungen, weil sie dem bürokratischen Aufwand nicht mehr gewachsen sind. Das gilt für Deutschland im Besonderen – doch in anderen Ländern ist das auch so.
Und dort erfahren Ärzte laut Studien, dass der Einsatz von KI-gestützten Sprachassistenten den Bürokratieaufwand senkt und zu 70 Prozent weniger Burnout- und Müdigkeitsgefühlen führt. 50 Prozent der Fachärzte vom Radiologen bis zum Chirurgen stellen fest, dass spezielle KI-gestützte Workflows die Berichterstattung und Kommunikation erleichtern und Einblicke bieten, die eine fundiertere Entscheidungsfindung, Planung und Behandlung unterstützen. Und dabei wird die Zeit zwischen Untersuchung und Intervention um drei Viertel reduziert. Durch die Analyse von Daten, die Vereinfachung der Patienten- und Arztkommunikation und die Bereitstellung einer umfassenden Nachverfolgung des Pflegeplans wird eine Verbesserung um 52 Prozent erreicht. Und durch die Bereitstellung konsistenter und kontextrelevanter Patientenerfahrungen realisieren Gesundheitsorganisationen eine Steigerung der Selbstbedienungsraten für Patienten um 30 Prozent und eine Senkung der Kosten für die Patientenunterstützung um 50 Prozent.
Microsoft ist gerade dabei, praktisch alle Lösungsangebote – angefangen bei den Office-Produkten über die ERP-Software Dynamics bis zur Programmierumgebung GitHub mit dem Sprachassistenten von OpenAI, ChatGPT-4, auszustatten. Jetzt nutzt auch die Microsoft-Tochter Nuance Dragon dieses KI-Tool, um den 550.000 Ärzten, die das System bereits im Einsatz haben, bei der Bewältigung der Bürokratieaufgaben zu helfen. Ein breiter Einsatz vergleichbarer Lösungen wäre nicht nur ein Schritt zur Verbesserung der Patientenversorgung, sondern würde das Gesundheitspersonal auch vor Burnout und Ermüdungserscheinungen schützen. Dann könnten Ärzte, die Zeit für ihre Patienten haben, doch nicht nur im Vorabendprogramm, sondern im täglichen Leben Wirklichkeit werden. KI gegen Burnout ist aber leider – angesichts der langsam mahlenden Mühlen im Gesundheitswesen doch wohl eher Science Fiction. Leider.
Sehr lesenswert. Danke Herr Bonn