„Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren!“ Mit diesem Satz begründete FDP-Chef Christian Lindner im November 2017 das Aus für die erste Jamaika-Koalition aus Union, Grünen und Freidemokraten. Heute, in der Ampel-Koalition, hat es mitunter den Anschein, als fände nunmehr beides wechselweise statt: nicht regieren und falsch regieren. Am deutlichsten und am schmerzhaftesten bekommt dies der deutsche industrielle Mittelstand zu spüren, der – man kann es nicht oft genug wiederholen – immerhin das Rückgrat der Wirtschaft und die Basis unseres Wohlstands ist.
Die mangelhafte Mittelstandspolitik der letzten Jahrzehnte – aber auch die Digitalisierungsscheu der mittelständischen Entscheider – beklage ich nun schon in mehr als 700 wöchentlichen Bonnblogs. Dass ich damit nicht allein bin, zeigt die Vehemenz mit der sich inzwischen Wirtschaftsvertreter aus allen Branchen und aller politischer Couleur zu Wort melden, um die immer gleichen Forderungen zu formulieren: Weg mit dem Bürokratiemonster, Senkung des im europäischen Vergleich viel zu hohen Strompreises, Steuersenkungen und Schaffung zusätzlicher Investitionsanreize.
„Wir erleben eine Diktatur des Kleingedruckten“, beschreibt Rainer Kirchdörfer, Vorstand der Stiftung Familienunternehmen und Politik, diesen „Bürokratiewust“, wie ihn BDI-Präsident Siegfried Russwurm nennt. „Nirgendwo anders auf der Welt gibt es so etwas.“ Das entpuppt sich in der Tat inzwischen als ganz wesentlicher internationaler Wettbewerbsnachteil. „Deutschland ist im Niedergang“ legt der ehemalige Linde-Chef Wolfgang Reitzle nach und beklagt die „Abkehr vom Leistungsgedanken“. Und der ehemalige Infinion- und Siemens-Manager Ulrich Schumacher sieht, dass „vom Wirtschaftswunderland nicht mehr viel geblieben“ ist. „Die letzten Hoffnungsschimmer waren die Reformen unter Kanzler Schröder, danach wurden Land und Wohlstand nur noch verwaltet und aufgebraucht.“
Gibt es Hoffnung? Kaum! Auch das jetzt von der Union vorgelegte Fünf-Punkte-Programm zur Rettung der deutschen Wirtschaft hat nicht das Zeug, den „Sanierungsfall Deutschland“ zu therapieren. „Merkel 2.0“ genüge nicht, um den drohenden Totalabstieg in die internationale Bedeutungslosigkeit aufzuhalten, urteilt der Mittelstandschef des Bundesverbands Mittelständische Wirtschaft, Christoph Ahlhaus. Gleichwohl sei es sehr zu begrüßen, „wenn die Union ihrer Oppositionsrolle nach einer zweijährigen Findungsphase nun endlich gerecht werden will und sich nach 20 Jahren nun wieder spürbar auf ihre wirtschaftliche Kompetenz besinnt.“
Und auch das vom Bundesfinanzminister Christian Lindner in Aussicht gestellte Wachstumschancengesetz wird von den Wirtschaftsexperten heftig kritisiert. Der Referentenentwurf zum Maßnahmenpaket für die Konjunkturförderung, der seit Juli vorliegt und auf den die Union mit ihrem Fünf-Punkte-Programm reagierte, sei zwar „im Ansatz richtig und überfällig“, doch mahnten führende Wirtschaftsverbände – darunter die Deutsche Industrie- und Handelskammer und der Bundesverband der Deutschen Industrie – in einer gemeinsamen Stellungnahme erheblichen „Nachjustierungsbedarf“ an.
Insgesamt sieht der Vorschlag in der aktuellen Version 50 steuerpolitische Maßnahmen mit einer Entlastung in Höhe von mehr als sechs Milliarden Euro vor. Im Fokus stehen dabei Prämien für Investitionen in klimafreundliche Technologien, höhere Forschungsförderungen und die Einführung einer Freigrenze für Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung. Aber selbst bei kompletter Umsetzung reichten die Maßnahmen nicht aus, um die aktuellen Probleme der deutschen Wirtschaft hinreichend zu lösen. So fehlt die versprochene „Superabschreibung“, die es nicht nur für Investitionen in Klimaschutz, sondern vorrangig auch für Investitionen in digitale Wirtschaftsgüter geben sollte.
Auch ohne Nachjustierung wäre ein schlechtes Wachstumschancengesetz noch immer besser als gar keines. Doch die Wirtschaftsvertreter hegen Zweifel, dass die anvisierten Maßnahmen auch tatsächlich durchschlagen. Denn wieder droht die „Diktatur des Kleingedruckten“: die Verbände befürchten, dass es wieder einmal nicht zu einer unkomplizierten Umsetzung der geplanten Maßnahmen kommen werde. Der Zwang, alles und jedes im kleinsten Detail zu regeln und gleichzeitig durch eine analoge Bürokratie zu verzögern, sitzt in Deutschland einfach zu tief.
Aber es ist zurzeit wohl besser, unvollkommen zu regieren, als gar nicht. Deshalb: Her mit einem Wachstumschancengesetz, auch wenn es unvollkommen ist, und endlich weg mit dem Bürokratiemonster! Aber ob das gelingen wird?