Kennen Sie Audrey Tang? Oder Omar Al Olama? Aber Margrethe Vestager, die kennt man doch! Die Wettbewerbskommissarin der Europäischen Kommission schaut seit zehn Jahren den Hightech-Größen aus den USA und China auf die Finger – und natürlich allen anderen, die mit ihrer Marktmacht Marktregeln aushebeln können. Mit dieser Tätigkeit ist sie aber auch eine der einflussreichsten Personen, wenn es um Gegenwart und Zukunft von Künstlicher Intelligenz geht. Sie hätte die Macht, ein europäisches KI-Kartell zu ermöglichen oder eine solche Initiative zu verhindern. Nötig wäre eine europäische KI-Großmacht jedenfalls.
Die Redaktion des US-amerikanischen TIME Magazine hat Margreth Vestager in die Liste der 100 KI-Größen aufgenommen, als die Dänin noch nicht um Beurlaubung gebeten hatte, um „offiziell für die Präsidentschaft der Europäischen Investitionsbank kandidieren“ zu können. Sollte sie dieses Amt innehaben, könnte ihr Einfluss auf die KI-Entwicklung in Europa sogar noch größer werden. Das ist auch dringend nötig, denn die Liste der 100 einflussreichsten KI-Köpfe beinhaltet erschreckend wenig Europäer – und nur zwei Deutsche.
Die beiden deutschen Vertreter heißen Jan Leike und Richard Socher. Auch noch nie gehört? Das würde zeigen, wie weit die KI-Entwicklung derzeit noch vom deutschen Mainstream entfernt ist. Und das angesichts der Tatsache, dass Künstliche Intelligenz wahrscheinlich die größte (und vielleicht letzte) revolutionäre Entwicklung in der Informationswirtschaft darstellt, wie es Nvidia-CEO Jensen Huang darstellt, der ebenfalls auf der Liste der Top 100 for AI steht. Und Listennachbar Eric Schmidt, der lange Zeit Google als Executive Chairman leitete und jetzt als KI-Investor tätig ist, staunt: „Ich habe Time-Sharing erlebt, die PC-Industrie, die Web-Revolution, die Unix-Revolution und Linux und Facebook und Google – aber das hier [gemeint ist: KI] wächst schneller als die Summe von allem bisher Dagewesenen!“
Kaum etwas unterstreicht deutlicher die entspannte Haltung, um nicht zu sagen: Ignoranz vieler Deutscher gegenüber dieser KI-Revolution als die Biografien von Jan Leike und Richard Socher.
Der eine, Leike, heuerte zunächst bei Google DeepMind an, ehe er vor Kurzem dem Ruf von OpenAI-Gründer Sam Altman (selbstverständlich ganz weit oben auf der Liste) folgte. Bei OpenAI leitet Leike das sogenannte Allignment-Team, das dafür verantwortlich ist, dass KI-Systeme die von ihren Entwicklern verfolgten Ziele nicht aus den Augen verlieren. Seine Arbeit zur KI-Ausrichtung errichtet die Leitplanken, in denen sich KI-Systeme bewegen dürfen und liefert damit konkrete Antworten auf die meist schwammig formulierten Bedenken gegenüber einer „erwachenden KI“ und dem dadurch vermeintlich drohenden Ende der menschlichen Rasse.
Der andere, Socher, hat ebenfalls seine Karriere damit begründet, dass er Deutschland den Rücken kehrte. Das von ihm gegründete Startup You.Com hat kürzlich mit Claude 2 eine KI-gestützte Suchmaschine herausgebracht, von der Experten überzeugt sind, dass sie anderen Sprachassistenten bezogen auf Sprachverständnis oder „Auffassungsgabe“ deutlich überlegen ist. Nach Studium in Princeton (wo er das Angebot einer Professur ablehnte) und Stanford (wo er promovierte) holte ihn Marc Benioff als Chefwissenschaftler zu Salesforce. „Das wäre in Deutschland nicht möglich gewesen“ sagte der Sohn zweier DDR-Wissenschaftler kürzlich dem Spiegel.
Das ist eine traurige Wahrheit – und sie zeigt, dass wieder einmal ein Brain Drain von klugen Köpfen ins Ausland stattfindet, den wir uns gar nicht leisten können. Hierzulande fehlt es an den vier wichtigsten Voraussetzungen, um ein Big Player der KI-Revolution zu sein: Vision, Qualifikation, Investition und politischer Wille. Nicht einmal unter den Bedenkenträgern, die sich in der TIME-Liste durchaus finden, schaffen wir es in die Spitzengruppe.
Apropos „politischer Wille“: In der TIME-Liste finden sich weniger Politiker als Microsoft-Manager. Auch daran zeigt sich, dass die KI-Revolution in den politischen Köpfen kaum richtig angekommen ist. Wenn sie wach werden, ist es wahrscheinlich zu spät. Zwei Politiker aber haben es auf einen vorderen Platz gebracht: die taiwanesische Digitalministerin Audrey Tang und Omar Al Olama aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Er bekleidet, was wohl weltweit einmalig ist, das Amt des Ministers für Künstliche Intelligenz. Wir dagegen deuten das Kürzel KI überwiegend mit „Kein Interesse“!