231217 Grassuwurzelzwerge 01

Digitalisierung als Graswurzelbewegung

Als der Personal Computer Mitte der achtziger Jahre in den Unternehmen Einzug hielt, war es nicht das IT-Management (damals sprach man noch von DV-Verantwortlichen), das die Ausstattung der Büros mit den kleinen Rechenkerlen vorantrieb, sondern es waren die Abteilungsleiter (heute würde man sagen „Stake-Holder“), die die Investition aus ihren Budgets trugen. Das erfolgte meist sogar gegen den ausdrücklichen Willen der Computerspezialisten, die auf ihren Mainframes hockten. Der PC ist ein Kind des klassischen Grassroot Movements, wie zuvor wohl schon der technisch-wissenschaftliche Taschenrechner oder später das Smartphone.

Aktuelle Studien legen jetzt den Verdacht nahe, dass sich auch die Digitalisierung im Mittelstand als Graswurzelbewegung durchsetzt – und eben nicht von der Geschäftsleitung top-down initiiert wird. Das ist zwar nicht im Sinne der klassischen Management-Philosophie, wonach zunächst ein Ziel, dann ein Plan und schließlich die Umsetzung definiert werden sollte – aber, wie schon Bertold Brecht wusste: „Es geht auch anders, aber so geht es auch!“ Jedenfalls zeigt unter anderem der vom Beratungsunternehmen Bechtle herausgegebene „Digitalkompass 2023“, dass die Mitarbeiterschaft den digitalen Fortschritt im eigenen Unternehmen deutlich besser beurteilt als das Management, das sich überwiegend als digitale Nachfolger einstuft.

Das zeigt sich besonders deutlich im mobilen Arbeitsumfeld und im Home Office. So sagen allein 99 Prozent der Unternehmen, dass mobiles Arbeiten auch in Zukunft möglich sein wird. Vor allem die Beschäftigten haben die Vorteile erkannt und möchten ungern zum bisherigen Arbeitsmodell zurückkehren. Auch das hybride Arbeiten – vor Ort und virtuell dazugeschaltet – finden 97 Prozent aller Befragten gut. Obwohl das mobile Arbeiten auf so große Akzeptanz stößt, haben nur 47 Prozent der Unternehmen eine Regelung für alle Mitarbeitenden. 52 Prozent bevorzugen eher individuelle Absprachen. Nicht selten nutzen Menschen im Home Office nicht den vom Unternehmen bereitgestellten PC, sondern den eigenen PC, der mit Blick auf Gaming und Streaming ohnehin viel leistungsfähiger ausgestattet ist.

Dabei zeigt sich die hässliche Kehrseite der Graswurzelbewegung: Weil Standards und festgelegte Prozesse fehlen, die Unternehmen helfen, Projekte und Aufgaben sicher und fehlerfrei durchzuführen, entstehen Wildwuchs, Insellösungen und Sicherheitsrisiken. Immerhin sprechen sich laut Bechtle 80 Prozent der Unternehmen für festgelegte und vorkonfigurierte Hardware aus, um den Aufwand bei Beschaffung und Wartung zu reduzieren. Aber ob sich das auch beim Einsatz im heimischen Wohnzimmer durchsetzen lässt, darf getrost bezweifelt werden.

„Ist Deutschland digitaler als gedacht?“, fragte angesichts der digitalen Graswurzelbewegung auch der Ausgabenmanagement-Anbieter Pleo, der eine Umfrage unter 500 mittelständischen Unternehmenslenkern in Auftrag gegeben hatte. Demnach verändern fast drei Viertel der kleinen und mittleren Unternehmen derzeit ihr Geschäft durch verstärkte Investitionen in die Digitalisierung. Dabei sind vor allem Effizienzgewinn und Umsatzsteigerung interessant. Das gaben 61 Prozent beziehungsweise 51 Prozent der Befragten zu Protokoll.

Generell räumen die meisten Top-Entscheider der Digitalisierung einen hohen Stellenwert ein: 64 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, dass Unternehmen, die die Digitalisierung nicht vorantreiben, langfristig scheitern werden. Und für 62 Prozent ist die Digitalisierung entscheidend für das zukünftige Wachstum des Unternehmens. Insgesamt haben sich 72 Prozent der KMUs mit dem Thema digitale Transformation auseinandergesetzt.

Dabei gibt etwa ein Drittel der leitenden Entscheidungsträger zwischen zehn und 19 Prozent des Gesamtbudgets für entsprechende Initiativen aus – trotz des wirtschaftlichen Gegenwinds. Damit ist Deutschland laut Pleo weiter als andere europäische Länder, wo ähnliche Untersuchungen stattfanden. In Frankreich sind es nur 60 Prozent, in Schweden 62 Prozent und in Großbritannien immerhin 68 Prozent, die sich mit der digitalen Transformation auseinandergesetzt haben.

Es scheint, als würden die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ihrem Management in Sachen Digitalisierung Beine machen. Und schon ist die nächste Graswurzelbewegung unterwegs: Nach Untersuchungen von Microsoft wollen nahezu drei Viertel der Belegschaften, die bereits eigene Erfahrungen mit den KI-gestützten Sprachassistenten wie etwa ChatGPT gemacht haben, auf diese Unterstützung nicht mehr verzichten. Sie nutzen dieses Tool schon seit einem Jahr, indem sie sich einen privaten Account beim Anbieter OpenAI verschafft haben. Und auch hier zieht das Management allmählich nach. Entgegen aller Management-Weisheit scheint sich die Digitalisierung doch schneller bottom-up als top-down durchzusetzen. Die Graswurzel lebt!

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