Pandemie-Panik

 

Während die Pandemie-Experten in Deutschland vor einer zweiten Infektionswelle warnen und vor allem diejenigen zurückzuhalten versuchen, die in der Urlaubszeit mit den Hufen scharren und als einstudiert geglaubte Hygienemaßnahmen vergessen, hat die zweite Welle im globalen Maßstab längst eingesetzt. Vor allem die Länder, in denen Populisten und Pandemie-Leugner am Ruder sitzen, sind mit Neuinfektionen von mehr als 100.000 Erkrankten pro Tag geschlagen: allen voran die Vereinigten Staaten von Amerika, deren Regierung erratisch zwischen Maßnahmen zur Wiederbelebung der Wirtschaft und Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie wechselt. Wer mag da schon Prognosen für das nächste Quartal, das nächste Halbjahr oder gar das kommende Jahr abgeben.

Deutlich wurde diese Verunsicherung jetzt bei der Verkündung der Zahlen für das vierte Geschäftsquartal von Microsoft und die Reaktion der Börsen darauf. Wie anders als mit Verunsicherung kann man erklären, dass Microsoft bei Umsatz und Gewinn zwar die Erwartungen der Analysten pulverisierte, dafür aber gleichzeitig mit einem Kurseinbruch von drei Prozent abgestraft wurde? Gewinnmitnahmen der Aktienverkäufer sind ein klares Indiz für die Erwartung, dass es nun besser nicht mehr werden kann. Möglicherweise sind das erste Anzeichen einer Pandemie-Panik der zweiten Welle.

Dabei hat Microsoft selbst kräftig dazu beigetragen, die Hoffnungen auf weitere gute Quartale zu trüben. Die Schließung der Microsoft Stores, die Diskussion über die Entlassung von rund 1000 Mitarbeitern, die Schwächeanfälle einiger mittelständischer Certified Partner, auf deren Erfolg der Erfolg von Microsoft zu 90 Prozent – gemessen am Umsatz – beruht, haben dazu beigetragen. Auch der jetzt vom EuGH gekippte Privacy Shield-Vertrag zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten zum Thema transatlantischen Datentransfers hat dafür gesorgt, die Zuversicht in die US-amerikanischen Cloud-Giganten – neben Microsoft vor allem Amazon Web Service – zu schmälern. Allein die Schließung der physischen Läden kostete Microsoft nach Berechnungen von Analysten fünf Cent möglichen Gewinns pro Aktie – bei einem ausgewiesenem Gewinn von 1,46 Dollar pro Aktie. Die Analysten hatten mit 1,36 Dollar gerechnet.

Solche Einschnitte unternimmt man am besten, wenn man es sich leisten kann. Und Microsoft kann es sich leisten. Der operative Gewinn in den Monaten April bis Juni war mit 13,4 Milliarden Dollar um acht Prozent höher ausgefallen als im vergleichbaren Vorjahreszeitraum. Das ist eine ansehnliche Rendite von 35 Prozent bei einem Umsatz von 38 Milliarden Dollar. Dazu trug die Intelligent Cloud-Sparte mit 13,4 Milliarden Dollar, der Bereich More Personal Computing mit 12,9 Milliarden Dollar bei. Die Transformation ins Cloud-Business ist nun also auch in den Zahlen deutlich zu erkennen, wobei allerdings immer noch nicht aufgedröselt wird, welchen Anteil dabei die Cloud-Plattform Azure hat und was auf das Konto der Cloud-Lösungen Office 365 und Dynamics 365 geht. Aber dass Microsoft vor Kraft kaum laufen können würde, nachdem die Unternehmen im Corona-Lockdown die globale Flucht in die Wolke angetreten hatten, kommt nicht überraschend.

Davon ist Microsoft selbst betroffen: die jährliche Auftaktveranstaltung fürs neue Geschäftsjahr – die Inspire 2020 – fand virtuell statt, was allerdings dem Charme, der Aufbruchsstimmung und der Fülle an neuen Produktankündigungen – vor allem in den Cloud-orientierten Angeboten – keinen Abbruch tat. Und dennoch warnt Microsoft in der Prognose, dass der Wettbewerb in allen Produktbereichen härter werde und der Erfolg von der Schnelligkeit und Qualifikation aller Akteure abhängen wird. „Microsoft geht es gut, wenn es unseren Partnern gut geht“, hatte Microsofts CEO Satya Nadella zur Begrüßung dem virtuellen Publikum zugerufen. „Wir sind im wahrsten Sinne des Wortes eine durch Partner getriebene Organisation.“

Aber diese Erfolgspartnerschaft könnte durchaus auf tönernen Füßen stehen, wenn die Software- und Systemhäuser – allein in Deutschland sind dies rund 30.000 größtenteils mittelständische Certified Partner – nicht die Pandemie-Panik abschütteln und mit Investitionen und Innovationen auf die Zukunft zusteuern. Hier muss Microsoft kräftig motivieren, um seinen Partnern Anreize für diese notwendigen Zukunftsinvestitionen zu geben. Und das, obwohl die Aussicht auf wachsende Märkte eigentlich Anreiz genug für die Software- und Systemhäuser sein müsste. Aber in der Pandemie-Panik tut man lieber nichts.

Das gleiche gilt für die mittelständischen Unternehmen, die als Kunden jetzt ihre Digitalstrategie umsetzen sollten, um geläutert und digital neu ausgesteuert aus der Corona-Starre herauszukommen. Hier rächt sich möglicherweise, dass die ausgewiesenen Staatshilfen und Rettungsschirme weitgehend ungerichtet ausgelobt werden. Statt nur darauf zu setzen, die Betriebsfähigkeit fortzusetzen, hätten EU-Kommission, Bund- und Landesregierungen die Auszahlung von Geldern an die Innovationsbereitschaft der Firmen knüpfen sollen.

Zwar sieht Microsoft-Gründer Bill Gates Deutschland durchaus als einen Pandemie-Gewinner, der wegen hervorragender Infrastruktur, einem vergleichsweise guten wirtschaftlichen Klima und dem guten Krisenmanagement unter Bundeskanzlerin Angela Merkel beste Neustart-Bedingungen genießt. Aber die exportorientierte deutsche Wirtschaft kann nur reüssieren, wenn auch die Nachfrage in den USA wieder steigt. Doch Protektionismus und Pandemie machen dort eine wiedererstarkte Konjunktur zum Konjunktiv. Möglich ist alles, gewiss ist nichts.

Und vor dieser Pandemie-Panik sind eben auch die Generalausstatter für digitale Infrastrukturen vom Schlage Microsoft nicht gefeit. Deshalb fallen Prognosen nach dem erfolgreichen Quartal so mau aus, deshalb werden Partner und Kunden auf Investitionen in Innovationen eingeschworen. Und deshalb mehren sich auch Gerüchte, Microsoft könnte sich in den kommenden Monaten einfach einen der großen Wettbewerber einverleiben. Das Geld dafür wäre da. Kandidaten für derlei Gerüchte gibt es von Salesforce über Slack oder gar SAP ebenfalls genug. Das wäre dann vielleicht auch ein Auswuchs der Pandemie-Panik.

 

Airbus für die Cloud

So ist das jetzt also: Nachdem der Europäische Gerichtshof das Datenschutzabkommen “Privacy Shield“ – übrigens schon zum zweiten Mal – gekippt hat, müssen die europäischen Aufsichtsbehörden einschreiten, wenn Unternehmen personenbezogene Daten in die USA verlagern. Der Grund: die dortigen Überwachungsgesetze sind mit dem europäischen Verständnis von informationeller Selbstbestimmung als Grundrecht nicht zu vereinbaren. Doch grau ist alle Theorie. Ob die Behörden tatsächlich einschreiten werden oder ob sie auch nur die Mittel zum Einschreiten haben werden, ist fraglich. Von Irland, wo Facebook und andere ihre Daten zwischenlagern, erwarten die Experten kein allzu großes Engagement. Der Grund: Laschheit im Umgang mit Daten kann auch ein Standortvorteil sein.

Das europäische Datenschutzrecht bleibt eine im internationalen Rahmen schwer durchsetzbare Idealvorstellung. Das gilt mit Sicherheit auch für den nun zu erwartenden dritten Versuch, ein belastbares “Privacy Shield“ Datentransfer-Abkommen mit den USA auszuhandeln. Solange US-Behörden im Verdachtsfall gegenüber US-Unternehmen die Herausgabe von Daten verlangen können, egal wo diese Daten gerade gespeichert sind, solange kann kein belastbares Abkommen nach strengen europäischen Rechtsvorstellungen entstehen. Und Ähnliches lässt sich auch für die geplante europäische Daten-Cloud vorhersagen: Gerade  weil es aus US-amerikanischer Sicht egal ist, wo und wie die Daten gespeichert sind, müssen die Unternehmen, die amerikanischem Recht unterliegen, folgen.

Für europäische Unternehmen gibt es eigentlich nur eine Alternative, wenn sie sicher sein wollen, dass Daten nicht in US-Behördenhände geraten sollen: sie dürften ihre Cloud-Aktivitäten nur europäischen Unternehmen anvertrauen. Auch das gilt im Prinzip für GAIA-X: Wenn Europa US-Unternehmen an der eigenen Daten-Cloud beteiligt, ist auch dort prinzipiell eine Hintertür für die angeordnete Herausgabe von Daten geöffnet.

Das ist durchaus ein transatlantisches Grunddilemma, das schon alleine deshalb unlösbar erscheint, weil die Cloud-Angebote aus den USA so marktdominant sind, dass kaum ein Unternehmen, das im internationalen Wettbewerb bestehen will, auf sie verzichten kann. An diesem Dilemma kommt auch die Initiative von Wissenschaftlern, IT-Experten und Medienmanagern nicht vorbei, die jetzt – zu Recht – eine eigenständige europäische Dateninfrastruktur fordert und damit auch der europäischen Daten-Cloud  GAIA-X zu mehr Durchschlagskraft verhelfen will.

„Wir wollen digitale Souveränität stärken – also die Selbstbestimmung Europas als Rechts- und Wertegemeinschaft und jedes einzelnen Nutzers“, fasst der ehemalige SAP-Chef Henning Kagermann die Ziele der Initiative zusammen.

Es klingt alles ganz schön, was da der Initiative mit auf den Weg gegeben wird: „Wenn Europa jetzt kraftvoll handelt und eine ambitionierte Initiative startet, kann ein öffentlicher digitaler Raum entstehen, der faire Zugangs- und Nutzungsbedingungen bietet, den öffentlichen Diskurs stärkt und die identitätsstiftende Pluralität Europas sicherstellt“, formuliert es Mitinitiator und Intendant des Bayerischen Rundfunks, Ulrich Wilhelm.

Aber wie soll das geschehen? Zwar schätzen die Initiatoren, dass zur Umsetzung einer eigenständigen internationalen Dateninfrastruktur nicht mehr als ein einstelliger Milliardenbetrag notwendig ist, doch wie und wofür diese Milliarden eingesetzt werden, darüber schweigen die Initiatoren bislang ebenso, wie die EU-Kommission in Brüssel darüber, wie sie ein EuGH-gerechtes “Privacy Shield“ Datentransfer-Ankommen mit den USA schmieden will.

An Konzepten und Standards für GAIA-X mangelt es nicht. Rund 300 Unternehmen arbeiten zusammen mit Forschungseinrichtungen an der Definition von Nutzungsszenarien, wie eine vertrauenswürdige Daten- und Softwarewelt für unterschiedliche Branchen aussehen könnte. Neben Industrie 4.0 sind dies vor allem die Bereiche Gesundheitswesen, Energieversorgung oder die öffentliche Hand. Aber auch die Frage, wie vernetzte und autonome Fahrzeuge künftig in sicheren Datenräumen navigieren sollen, soll mit Hilfe von GAIA-X definiert werden.

Doch am Ende sind alle Konzepte und Initiativen nur so viel wert, wie die Hardware, auf der sie in einer cloudifizierten Welt schlussendlich Wirklichkeit werden sollen. Laut IDC kommen die Top-Five der Hardware-Ausrüster für die Cloud entweder aus den Vereinigten Staaten oder der Volksrepublik China. Marktführer sind Dell und Hewlett-Packard Enterprise, gefolgt von den chinesischen Anbietern Inspur und Lenovo. Inspur hat 2005 eine Geldspritze von 20 Millionen Dollar von Microsoft erhalten, Lenovo entstand durch den Verkauf der PC-Sparte von IBM. IBM selbst ist dann übrigens die Nummer Fünf im internationalen Cloud-Geschäft. Und die Deutsche Telekom, die wiederum Prämium-Ausrüster von GAIA-X sein dürfte, arbeitet eng mit Huawei zusammen…

Solange GAIA-X ein Software-Tiger bleibt, entscheidet die Hardware über den Grad der Vertrauenswürdigkeit des Projekts. Am Ende müsste ein europäisches „Airbus-Industries der Informationstechnik“ entstehen, das die europäische Datensouveränität auch auf dem Niveau von Kabeln und Chips gewährleisten könnte. Aber selbst wenn sich dazu der politische Wille entwickeln würde, wäre das noch kein Garant für die Durchsetzung von europäischem Datenschutzrecht. Man kann keinem Unternehmen vorschreiben, bei welchem Hersteller eingekauft werden soll. Das wäre ein wirtschaftspolitischer Sündenfall, der die unternehmerische Souveränität zugunsten einer hehren Daten-Souveränität opfert. Aber ein schöner Gedanke wäre es schon, endlich einen europäischen Big Player im globalen Cloud-Business entstehen zu sehen, der Daten-Souveränität als Qualitäts-Produkt verkauft. Man wird ja noch träumen dürfen.

 

Die neue digitale Marktwirtschaft

„Genie“, so befand Thomas Alvar Edison, der Urvater der Elektrifizierung, wenn nicht gar der Digitalisierung, “ist zu einem Prozent Inspiration und zu 99 Prozent Transpiration.“ Will sagen: Innovation oder Erfolg kann man nicht befehlen, Fleiß aber schon – und letzteres trägt zum überwiegenden Teil zum Erfolg bei. Edison selbst war das perfekte Beispiel für eine fleißgetriebene Innovationskultur. “Seine Verdienste gründen in erster Linie auf der Marktfähigkeit seiner Erfindungen, die er mit Geschick zu einem ganzen System von StromerzeugungStromverteilung und innovativen elektrischen Konsumprodukten verbinden konnte“, notiert die deutsche Wikipedia-Ausgabe zu Recht in ihrem Lexikoneintrag.

So wie Edison für die Elektrifizierung der Vereinigten Staaten steht, insbesondere der Stadt New York, so standen in Deutschland AEG und Siemens für die Verkabelung weiter Strecken zur Verbreitung von Licht und Nachrichten. Auch dabei stand zu Beginn ein Prozent Genialität, die aber erst durch 99 Prozent Fleiß zum Erfolg führen konnte. Der Verkabelung von vorgestern entspricht die Breitbandausstattung von heute, dem Unternehmergeist von damals sollte der Mut zur digitalen Transformation (nicht Transpiration) folgen. Und mit den Milliarden, ja sogar Billionen Euro aus europäischen und deutschen Steuersäckeln, die zum Wiederanlauf der Wirtschaft jetzt  nahezu bedingungslos zur Verfügung stehen, sollte das auch gelingen. Doch während Geld im Fußball doch Tore schießt, schafft Kapital allein noch kein Heureka!

Was wir jetzt brauchen, ist eine neue digitale Marktwirtschaft, die sich nicht mit Detailverbesserungen in Prozessen und Verfahren begnügt, und sich nicht mit Stellenabbau durch Konzernzerschlagung oder Einsparungen durch Gesundschrumpfen auf Kosten der Steuerzahler begnügt. Wir brauchen einen echten Innovationsruck, der Ernst macht mit der digitalen Transformation durch eine gesunde  Mischung aus Inspiration und Transpiration. Die Mittel dazu sind vorhanden, allein es fehlen Mut und Wille, die Welt neu zu gestalten. Vor 70 Jahren waren Mut und Wille, Inspiration und Transpiration gegeben – und das Ergebnis war ein Wirtschaftswunder. Jetzt beschränkt sich das viel beschworene “neue Normal“ oftmals auf ein bisschen Homeoffice und Managed Services in der Cloud.

80 Prozent der Unternehmen in Deutschland haben IDG Research gegenüber bekundet, sie investierten in die Digitalisierung ihrer Geschäftsprozesse. Doch viele Digitalstrategien halten einer echten Überprüfung gar nicht stand. Da wird bisher Analoges digital wiederholt – doch sonst ändert sich nichts. Auch die öffentliche Hand geht so vor. Aus einem analogen Behördengang wird ein digitaler. Was fehlt, ist der Schuss Genialität.

Für Microsoft-Chef Satya Nadella gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen dem digitalen Integrationsgrad im Unternehmen und dessen Fähigkeit zur Innovation und damit zugleich zu Wettbewerbsvorteilen gegenüber anderen mit kleinerem digitalen Fußabdruck. “Tech Intensity“ nennt er das und meint damit, dass Cloud Computing und Digitalisierung nur die Voraussetzungen für eine grundlegende Erneuerung sind. In vielen deutschen Unternehmen, so hat man den Eindruck, ist es aber mit dem Wechsel von OnPremises zu OnDemand schon getan mit der Digitalisierung. Doch der eigentliche Wandel beginnt dort erst.

Zugegeben, das Herumbosseln an Details im Produkt und im Prozess hat Deutschland je nach Zählweise 1200 bis 1800 Hidden Champions beschert. Aber sie sind Weltmeister in Nischen althergebrachter Branchen. Um neue Märkte, neue Branchen zu schaffen, dazu braucht es Mut zur Veränderung und die geistige Freiheit, Neues zu denken. Für diesen Mut zum Risiko sollten die Staatsfonds aufgelegt werden. Stattdessen zeichnet sich ab, dass die Fördergelder in die Wiederherstellung des Status ex ante Corona genutzt werden. Das ist bei der Lufthansa so und bei Siemens nicht anders.

Der Lockdown zur Corona-Pandemie ist auch eine Chance – und hoffentlich eine einmalige Chance, deren Ursache sich nicht wiederholt. Aber gerade deshalb sollten wir sie ergreifen. So wie die Elektrifizierung die Gründerzeit hervorrief und die soziale Marktwirtschaft das Wirtschaftswunder, so sollten wir jetzt an einer neuen digitalen Marktwirtschaft arbeiten. Die 99 Prozent Fleiß kann man den Deutschen nicht absprechen – es fehlt nur noch das eine Prozent Inspiration.

Die Nebelwirtschaft

Mehr als eine Million Menschen arbeiten in Deutschland im Bereich Software und IT-Services. Das sind nicht alles Programmierer, sondern auch Verkäufer, Marketiers, Berater, Betriebswirte, klassische Bürokaufleute – beziehungsweise, wie es in Deutschland seit 2014 offiziell heißt: Kaufleute für Büromanagement. Laut Statistischem Bundesamt arbeiten sie in rund 90.000 Unternehmen, deren Geschäftsmodell im Wesentlichen entweder darin besteht, andere Unternehmen beim Betrieb ihrer Informationstechnik zu unterstützen oder aber Software zu entwickeln, sie zu einem Standardprodukt zu verallgemeinern und möglichst oft zu verkaufen. Meistens geht es dabei um Produktivitätssteigerung, immer häufiger aber auch einfach nur um Spaß und Entertainment.

Und auch wenn die Software- und Service-Branche im Allgemeinen ganz gut durch die aktuelle Situation kommt, ist die Branche in ihrer Gesamtheit durchaus gefährdet – obwohl oder gerade weil der Bedarf an Software und Services in den kommenden Jahren rapide steigen wird. Das liegt ganz wesentlich an der chronischen Strukturschwäche dieses Dienstleistungssektors, der vor allem von kleinen und mittelständischen Software- und Systemhäusern dominiert wird. Und mit wenigen Ausnahmen wie SAP oder SAG sind die Großanbieter meist US-amerikanischer Herkunft, deren Think Tanks und Entwicklungszentralen nicht in Deutschland liegen.

Zwar betont der Digitalverband Bitkom in einer jüngsten Marktanalyse, dass die rund 12.000 zum Mittelstand gezählten Software- und Systemhäuser mit einem Umsatz zwischen einer und 50 Millionen Euro wieder mit Zuversicht auf eine Zeit nach den Corona-bedingten Einschränkungen blicken. Sie repräsentieren 37 Prozent des gesamten Branchenumsatzes, beschäftigen dafür aber 57 Prozent der Mitarbeiter. Besser sieht die Rendite bei den rund 300 großen Anbietern aus. Aber durchaus problematisch ist die Lage bei den verbleibenden 77.700 Kleinunternehmen mit weniger als einer Million Euro Umsatz. Ihr Geschäftsmodell verschwindet mehr und mehr im Nebel der Cloud, deren Infrastrukturleistungen die Dienste der Kleinen ablöst und obsolet macht.

Denn die Plattform-Ökonomie dreht die bisherigen Standardmodelle um. Einerseits sind es die großen App-Stores wie die von Apple oder Google und Cloud-Plattformen wie die von Microsoft oder Amazon, die Software und Services bündeln und den Verkauf, die Verbreitung und die Nutzung per Download automatisieren. Andererseits sind es die Plattformen der Anwender, die für immer mehr Software- und Service-Umsätze stehen – egal, ob dies ein Haushaltsgerät, eine Fertigungsmaschine oder ein vernetztes Fahrzeug ist. Die neuen Geschäftsmodelle der Plattform-Ökonomie schaffen neue Umsatzquellen durch Software und Services. Aber die werden nicht mehr von der Branche geliefert, sondern von den Anwendern selbst.

So hat Volkswagen jetzt mit der Car.Software.Org eine weitere Konzerntochter gegründet, die praktisch als internes Software- und Systemhaus den stetig wachsenden Bedarf an Programmen für die Autoflotte liefern und nicht zuletzt die bisherigen Fehler von Grund auf bereinigen soll. Mit einer eigenen Betriebssystem-Variante als Plattform für künftige Software-Entwicklungen wird bis 2024 gerechnet. Andere Automobilbauer wie BMW oder Daimler verfolgen ähnliche Strategien.

Das ist keine ganz neue Entwicklung. Schon in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts allokierten Versicherungen und Banken Hundertschaften von Programmierern, um Policen, Analysen und interne Prozesse software-gestützt zu automatisieren. Gleichzeitig schulten sie Physiker, Chemiker und Mathematiker zu Software-Spezialisten um, weil der eigene Bedarf das Fachkräfteangebot bei weitem überstieg. Insofern hat sich beim Mangel an Software-Spezialisten grundsätzlich bis heute nichts geändert. Jetzt sind es nicht nur Autobauer, sondern auch Maschinenbauer und Haushaltsgerätehersteller, die händeringend nach Software-Spezialisten suchen. Sie finden sie bei den finanziell chronisch schlecht ausgestatteten kleinen und mittleren Software- und Systemhäusern.

Es klingt paradox: Die Nachfrage nach Software wird zum Aussterben der klassischen Software- und Systemhäuser – vor allem der strukturschwachen kleinen und mittleren Unternehmen – führen. Die Softwarebranche wird zur Nebelwirtschaft, die als Abteilung oder Konzerntochter in die Digitalstrategien der Anbieter diffundiert. Überleben werden die Häuser, die sich einem Geschäftsmodell in der Cloud verschrieben haben. Doch viele haben den Modellwechsel vom Softwareverkauf zur Vermietung aus der Cloud zehn Jahre lang verschlafen. Sie waren benebelt vom eigenen vordergründigen Erfolg. Die Corona-Krise wird sich für sie noch als die kleinere Herausforderung erweisen. Doch unabhängig davon: die Zahl der Beschäftigten in dieser Nebelwirtschaft wird weiter steigen – dank künstlicher Intelligenz, Big Data, eCommerce, Streaming und all den Services aus der Cloud.