Umfragen zum Stand der Digitalisierung in deutschen Unternehmen und der öffentlichen Hand haben immer ein und denselben Designfehler: Sie hinterfragen nicht die Prozesse, die angeblich digitalisiert worden sind, sondern reduzieren sich auf die Selbsteinschätzung der Entscheider und der Nutzung von Technologie an sich. „Digital weit vorne“ könnte demnach immer noch bedeuten, dass die Bestellung aus dem Onlineshop ausgedruckt, gefaxt und dann an anderer Stelle wieder erfasst werden muss. Aber, es ist zumindest ein Onlineshop vorhanden. Oder anders ausgedrückt: Wer die gute alte Reise-Schreibmaschine durch ein Tablet mit Spracheingabe und Autokorrektur ersetzt, ist dem Bestseller-Roman noch keinen Schritt näher gekommen. Aber es gibt Pluspunkte bei der Bewertung zum Stand der Digitalisierung.
Doch schlechte oder nicht mehr zeitgemäße Prozesse werden nicht dadurch verbessert, dass man sie aus der analogen Welt ins Digitale überführt, ohne die Möglichkeiten, die eine verbesserte Datenbasis, eine stärkere Vernetzung und eine Integration mit anderen Prozessen eröffnen, auch tatsächlich zu nutzen. In der Regel käme dabei ein neu gestalteter Prozess heraus, der die Restriktionen aus der analogen Welt überwindet und Effizienzgewinne im Sinne von Zeitersparnis, Fehlervermeidung und Flexibilität bietet. Nirgends wird das offenkundiger als bei digitalisierten Behördenprozessen, die zwar mehr oder weniger gut gestaltete Online-Masken bereitstellen, am Ende aber immer noch auf den alten Amtsschimmel mit seinem hierarchischen, auf Zuständigkeiten und Abteilungen ausgerichteten Organisationsmodell stoßen. Ein solches Digitalisierungsprojekt bringt nur Frust bei den Benutzern und keinen Effizienzgewinn im Backoffice – dafür sind aber Millionen Euro an Steuergeldern verschwendet.
Weil das in der Wirtschaft und der öffentlichen Hand so ist, klettert Deutschland als Wirtschaftsstandort in den einschlägigen europäischen und globalen Ranglisten nicht nach oben, sondern rutscht trotz Milliardenausgaben weiter ab. Wir verwechseln bei der Digitalisierung Technik mit Taktik und Investition mit Innovation. Bei aller Weltmeisterschaft in der Prozessoptimierung halten wir doch an den Grundfesten unserer arbeitsteiligen Gesellschaft fest, ohne die Arbeitsabläufe grundlegend zu hinterfragen. Nirgends wird dies deutlicher als in der inzwischen im Sprachgebrauch verankerten, aber dennoch missverstandenen Deutung des Satzes: „Never change a running system.“ Denn gemeint ist nicht, dass ein System nicht geändert werden soll, WEIL es läuft, sondern WÄHREND es läuft.
Doch auch wer seine Prozesse neu gestaltet, während er sie auf digital umstellt, sollte allenfalls als digitaler Mitläufer eingestuft werden. Denn die tatsächlichen Potenziale liegen ja nicht in neuen Geschäftsprozessen, die durch Digitalisierung möglich werden, sondern in innovativen Geschäftsmodellen, die durch Digitalisierung überhaupt erst denkbar werden. Haushaltsgeräte, die mit Software und IP-Adresse ausgestattet sind und ihren Funktionsumfang dadurch signifikant ausweiten, eröffnen ebenso neue Möglichkeiten, Umsatz zu generieren, wie KI-gestützte, selbstlernende Systeme, die anhand des erreichbaren Datenmaterials zu neuen Erkenntnissen, Vorschlägen und schließlich Entscheidungen finden. Wer im Gesundheitswesen zum xten Mal seine personenbezogenen Daten handschriftlich auf einem Erfassungsbogen erfasst, der dann offen in der Praxis herumliegt, versteht nicht, warum der gleiche Vorgang, wenn er digital gestaltet ist, ganz anderen Geheimhaltungsvorschriften unterliegt, die geradezu verhindern, dass dadurch für Patient und medizinisches Personal ein Mehrwert entstehen kann.
Ist es Phantasielosigkeit, der Mangel an Visionen oder einfach nur eine große Verunsicherung angesichts der Möglichkeiten, die die digitale Transformation bietet? Den Option-Shock benennen mittelständische Unternehmer jetzt ganz unverblümt in der aktuellen Commerzbank-Befragung zu Unternehmerperspektiven (siehe auch meinen Blog vom vergangenen Montag). Sie erwarten Hilfestellung von den Geschäftskundenberatern bei den Hausbanken und Sparkassen. Oder von ihren meist mittelständisch geprägten IT-Dienstleistern.
Aber sowohl die Banker als auch die IT-Consultants verpassen gerade die große Stunde der Berater. Jetzt wäre es an der Zeit, gemeinsam mit den Kunden digitale Visionen zu entwickeln und auf einen in Krisenzeiten machbaren Zeit- und Umsetzungsplan runterzubrechen. Doch die Banker haben sich noch stets schwer mit der weichen Ware getan und finanzieren nach wie vor lieber Hardware. Und die IT-Dienstleister kämpfen mit ihrer eigenen digitalen Transformation, die aus ihren lizenzgestützten Software-Angeboten cloud-basierte Services mit völlig anders gestalteten Umsatz- und Gewinnmodellen machen. Da ist der Kopf nicht frei für die Probleme der mittelständischen Kunden.
Wie stark sich die Verunsicherung in der Wirtschaft breit gemacht hat, zeigt ein Blick auf die Werbeaussagen, mit denen die Markenführer sich um ihre eigene Verlegenheit herumdrücken. Da stellen die großen Automobilbauer ihre Entertainment- und Navigationssysteme als das technische Nonplusultra dar, obwohl sie von jedem Prepaid-Smartphone übertroffen werden. Und der Sparkassenberater fragt ganz unverblümt: „Worum geht’s hier eigentlich?“ Und als ihm ein paar nichtssagende Projekte genannt werden, kommt er zu dem Schluss: „Also das, worum es schon immer ging.“ Weiter kann man von einer Vision nicht entfernt sein. Die Berater verpassen soeben ihre große Stunde und der Mittelstand ist – mal wieder – auf sich allein gestellt.