Kurz arbeiten – langfristig planen

„Spare in der Not – da hast du Zeit“, lautet eine durchaus zutreffende Verballhornung einer alten Volksweisheit. Das Original – „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not“ – hat jetzt noch einmal Bundeskanzlerin Angela Merkel hervorgehoben, als sie in ihrer Sommer-Pressekonferenz die Tatsache herausstellte, dass das lange Festhalten an der schwarzen Null im Bundeshaushalt auch die Voraussetzung dafür sei, in Corona-Zeiten Milliarden an Soforthilfen lockerzumachen. Allerdings gilt auch die witzig gemeinte Variante angesichts weiterer Milliarden für das Kurzarbeitergeld, das nicht nur verlängert, sondern auch erhöht wurde.

Denn das Kurzarbeitergeld wie auch andere Soforthilfen verführt Unternehmen dazu, am Status quo der alten analogen Geschäftsprozesse festzuhalten, statt die Zeit des Zwangsstillstands für staatlich geförderte Investitionen in innovative Technologien zu nutzen. Wann, wenn nicht jetzt hätten Unternehmen Gelegenheit, über den digitalen Wandel nachzudenken? Statt Mitarbeiter zum teilbezahlten Nichtstun zu verdonnern, könnten Qualifizierungsmaßnahmen in digitalem Denken alle voranbringen. Der Stillstand am Fließband könnte lange geplante Umbaumaßnahmen ermöglichen, der Stillstand im Büro den ewig hinausgezögerten Releasewechsel möglich machen. Statt also ein System zu schaffen, in dem die Mitarbeiter ihre Hände zwangsweise in den Schoß legen, sollte digitale Initiative durch Zuschüsse honoriert werden können. Vom Kurzarbeitergeld – das zeigen die letzten Monate – profitieren praktisch nur die Baumärkte. Das ist natürlich auch irgendwie ein Konjunkturprogramm.

Oder wäre das bereits der Sündenfall eines staatlichen Eingriffs in die Handlungsfreiheit, den wir in einer liberalen Welt nicht wollen? Aber das sind Shutdown, Social Distancing, Maskenpflicht und künftige Massen-Impfung gegen Corona doch auch. Und die wollen wir schließlich im liberalen Kampf gegen die Pandemie. Oder?

Nach einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungs-Startups Civey im Auftrag des Verbands der Internetwirtschaft eco ist die Mehrheit der Bundesbürger der Ansicht, die Bundesregierung sollte nicht trotz, sondern gerade wegen der Corona-Krise der Digitalisierung mehr Aufmerksamkeit widmen. Nach Einschätzung der Bevölkerung sollte dazu auch ein Richtung und Wirkung vorgebendes Digitalministerium eingesetzt werden – eine Forderung, die auch aus der Wirtschaft schon seit Jahren formuliert wird. Allerdings bedeutet ein Digitalministerium aus Sicht der Gesellschaft nicht unbedingt mehr Dynamik in der digitalen Transformation, sondern möglicherweise mehr Vorsicht. – Das jedenfalls war bisher der klassische Reflex, wenn die Deutschen mit Daten und intelligenten Algorithmen konfrontiert werden.

Doch laut eco-Umfrage sehen die Deutschen diesmal klare Zukunftsperspektiven, die die Erfahrungen aus dem Corona-Shutdown wiederspiegeln. Der weitere Ausbau der digitalen Infrastruktur (67,8 Prozent), eine verbesserte (oder überhaupt erst zu schaffende) digitale Bildungs-Agenda (54 Prozent) sowie IT-Sicherheit und Datenschutz (46,5 Prozent) sind die meistgenannten Aufgaben. Außerdem sehen die Deutschen die digitale Transformation der Wirtschaft (27 Prozent), ein Recht auf Home Office (22,6 Prozent) sowie die Weiterentwicklung der Corona-Warn-App (19,9 Prozent) als wichtige digitalpolitische Maßnahmen an.

Allerdings schaffen auch die jüngsten Erfahrungen mit staatlichen Fördertöpfen nicht unbedingt Zuversicht. Nicht nur sind von den 25 Milliarden Euro Soforthilfen nicht einmal eine Milliarde bislang abgerufen worden – also weniger als vier Prozent. Auch von den bereits seit fünf Jahren bereitstehenden elf Milliarden Euro Fördergeld für den digitalen Breitbandausbau wurden laut Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Grünen Mittel von 91 Kommunen bislang nicht einmal abgerufen, geschweige denn konkret verplant. Es wäre also tatsächlich interessant zu sehen, wie ein Corona-Fördertopf für die digitale Ertüchtigung der Wirtschaft angenommen würde, in dem zum Beispiel Kurzarbeitergeld an interne Qualifikationsmaßnahmen gekoppelt ist. Kurzarbeit und langfristige Planung muss ja kein Widerspruch sein, sondern vielleicht die beste Voraussetzung für ein schnelles Wiedererstarken der Wirtschaft.

Digital ist noch lange nicht digital

Es gibt zahllose Studien über den Stand der Digitalisierung im deutschen Mittelstand. Die meisten Befragungen bei mittelständischen Unternehmen sind geprägt von Schulterklopfen und Selbstbeweihräucherung. Die meisten internationalen Vergleiche allerdings sprechen eine andere Sprache. Sie signalisieren eine deutsche Wirtschaft, die geprägt ist vom digitalen Mittelmaß, von Beckmesserei und Bedenkenträgertum.

Man fühlt sich an die fiktive Figur Claus Hinrich Wöllner erinnert, den Vico von Bülow, alias Loriot in den siebziger Jahren verkörperte und der in der ebenso fiktiven Wahlsendung „Der Wähler fragt“ als Vertreter der FDP den legendären Satz formuliert: „Im liberalen Sinne heißt liberal nicht nur liberal.“ Man könnte also die zahllosen Studien zum Stand der Digitalisierung im Mittelstand unter der These zusammenfassen: „im digitalen Sinne ist digital nicht nur digital.“

Das mag daran liegen, dass es keine vernünftige Definition von Digitalisierung an sich oder dem Grad der Digitalisierung gibt. Denn Digitalisierung ist eine nach oben offene Skala, deren unterste Stufe mit der Nutzung von Emails erreicht ist, deren oberes Ende aber nie erreicht werden kann, solang der Mensch als analoges Wesen das entscheidende Produktivkapital ist.

Wie missverstanden Digitalisierung sein kann, beweisen übrigens – schlimm genug – die Behörden auf ihrem Weg ins anspruchsvoll genannte eGovernment. Da gilt nämlich schon als digitales Leuchtturmprojekt, wenn Formulare online als PDF zum Download bereitgestellt werden, vom Kunden aber ausgedruckt und per Hand ausgefüllt werden müssen. Ja, selbst wenn der digitale Durchbruch so weit gelingt, ein editierbares PDF bereitzustellen, darf man getrost davon ausgehen, dass das Dokument „auf dem Amt“ zunächst ausgedruckt und abgeheftet wird.

Da ist der unternehmerische Mittelstand schon weiter, aber nicht allzu viel weiter. Denn eine eCommerce-Schwalbe macht noch lange keinen Digitalsommer. Der Ersatz einer analogen Maschinensteuerung durch eine digitale führt nicht zwangsläufig zu einem agilen Produktionsprozess, in dem interaktiv auf Kundenwünsche eingegangen werden kann. Und auch die Einrichtung von Home Offices in Corona-Zeiten führt noch nicht zwangsläufig zu Team-Zusammenarbeit, zur globalen Kollaboration oder auch nur gemeinsamen Arbeit an einem Online-Dokument. Man arbeitet weiter isoliert in Daten- und Dokumenten-Silos – ohne dass der wahre Mehrwert der Digitalisierung auch nur angekratzt würde.

Dieses niederschmetternde Urteil fällt jetzt eine Fujitsu-Studie, die nur fünf Prozent der Unternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz die Fähigkeit zuspricht, ihre Datenschätze voll ausschöpfen zu können. Die gute Nachricht: nahezu ebenso viele Unternehmen, nämlich vier Prozent, werden von Fujitsu als „Daten Hungerleider“ bezeichnet – das sind Firmen, die ihre Daten vergleichsweise chaotisch ablegen (zum Beispiel in Aktenordnern) und mehr oder weniger im Blindflug durchs Business brausen. Die Mehrheit von 90 Prozent immerhin ist sich des Datenschatzes bewusst, der durch Softwarepakete wie Enterprise Resource Planning oder Warenwirtschaftssysteme angesammelt wurden. Der Mangel an Analysemöglichkeiten jedoch, die aus Data-Hordern daten-getriebene Unternehmen machen würden, hat allerdings seine Ursache in drei einander verstärkenden Minuspunkten:

  • Da ist erstens die mangelnde Bereitschaft, disruptiv zu denken. Digitalisierung wird meist genutzt, um das gleiche Business so weiter zu betreiben wie bisher – nur eben digital. Daraus entsteht aber kein echter Gewinn.
  • Da ist zweitens die geistige Immobilität mancher IT-Abteilungen, in denen der Grundsatz „Never change a running system“ längst zum Dogma umgedeutet wird in: „Never change a system at all.“
  • Und da ist drittens die nur wenig ausgeprägte Bereitschaft der mittelständisch strukturierten Software- und Systemhäuser, das eigene Lösungsangebot fundamental zu erneuern. Statt ebenfalls disruptiv zu denken, wird evolutionär gehandelt, um bestehende Installationsbasen nicht zu gefährden.

Das mag bitter klingen – aber selbst ein so marktmächtiges Unternehmen wie SAP ist Gefangener seiner eigenen Installationsbasis. Und die Anwenderunternehmen sind es mit ihm. Der Versuch, mit Business by Design aus dieser Logik auszubrechen, ist gescheitert. Das zu analysieren wäre einen eigenen Blog wert.

Und schlimmer noch: Während uns die Fujitsu-Studie mangelnde Datenorientierung ausweist, verlieren wir bereits den Digitalisierungswettlauf in Richtung künstlicher Intelligenz, wo aus Analysen Handlungsschemata generiert werden. Digital ist eben im digitalen Sinne noch lange nicht digital, wenn wir nicht auch digital denken. Dazu wird es allerdings höchste Zeit.

Souveräne Entscheidung

Was würde passieren, wenn jetzt doch eine Magnetbahnstrecke geplant werden sollte, die die Metropole Rhein/Ruhr mit der Hauptstadt verbinden soll. Deutsche Transrapid-Technologie gepaart mit deutschem Ingenieurwissen würde doch allenfalls durch die derzeit in Deutschland grassierende Unfähigkeit begrenzt, Großprojekte innerhalb der vorgesehenen Zeit und des vorgegebenen Budgets zu beenden. Und natürlich würde das Großprojekt durch zahlreiche Eingaben und Initiativen im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Bürgerbeteiligung gefährdet. Über jedes Infrastrukturprojekt – egal, ob Straße, Schiene oder Wasser, ob Windräder oder Solarkraftwerk, ob Stromtrasse oder 5G-Funkmasten – wird am Ende durch die Bevölkerung, den Souverän, entschieden.

(Hier muss man übrigens fein unterscheiden: der Souverän ist nicht das deutsche Volk, sondern die deutsche Bevölkerung – auch wenn das viele anders sehen und anders wollen.)

Nur über das Internet haben wir noch nie abgestimmt. Auch an der Planung einer Cloud-Infrastruktur wurden die Bürger nie beteiligt. Sie benutzen sie einfach – und stimmen damit stillschweigend zu. Beim Internet und in der Cloud ist der deutsche Souverän ausgesprochen wenig souverän. Wir haben uns überrumpeln lassen durch perfekte Angebote aus den USA – wie damals vor 70 Jahren, als es Schokolade, Kaugummi, Zigaretten und Seidenstrümpfe gab. Aber das waren Konsumgüter, keine Infrastrukturen, von denen eine ganze Gesellschaft, eine ganze Wirtschaft abhängt. Man konnte auf US-Zigaretten verzichten. Aber kann man heute noch auf Cloud-Angebote wie Microsoft Azure oder Amazon Web Services verzichten?

Zwei von drei Managern jedenfalls wollen nach einer Umfrage des FAZ-Instituts ihre Firmendaten lieber einer europäischen Cloud anvertrauen. Eine Zwei-Drittel-Mehrheit stimmt also den Plänen rund um die europäische Daten-Cloud Gaia-X zu. Und dazu befürworten sechs von zehn Managern einen stärkeren Schulterschluss zwischen Politik und Wirtschaft. Eine „Airbus Industries der Informationstechnik“, wie ich sie vor drei Wochen an dieser Stelle vorgeschlagen habe, findet also breiten Konsens in der Gesellschaft. Damals war es die Unabhängigkeit von Boeing, heute die von den US-amerikanischen Hyperscalern.

Gaia-X soll kein Gegenentwurf zu US-amerikanischen oder chinesischen Cloud-Infrastrukturen sein. Die Daten-Cloud ist vielmehr als Ökosystem gedacht, in denen viele aus der Analyse von Daten profitieren sollen. Die acatech-Plattform „Lernende Systeme“ hat inzwischen zahlreiche Beispiele vorgestellt, die zeigen, wie vor allem mittelständische Unternehmen aus einer datengetriebenen Ökonomie in einem gemeinsam getragenen Ökosystem zusätzlichen Nutzen ziehen können. Zwar lassen sich diese Beispiele auch sämtlich in einer privaten Cloud der aktuellen Hyperscaler erzielen. Aber mit Gaia-X winkt eben das, was mehr und mehr Manager vermissen: europäische Daten-Souveränität.

Es kommt schon einem Treppenwitz der IT-Geschichte gleich, dass die Ressentiments, die gegenüber der Cloud vor allem im Mittelstand jahrelang bestanden, nun durch den US-Cloud-Act aufs tiefste bestätigt werden. Denn die Sorge, die 60 Prozent der Manager umtreibt, nämlich, dass die in die Cloud verlegten Daten vor dem Zugriff Dritter nicht vollständig geschützt sein können, wird durch die US-amerikanische Rechtsauffassung bestätigt. Diese Rechtsposition, nämlich dass Daten im Verdachtsfall auch dann ausgeliefert werden müssen, wenn sie außerhalb der USA gespeichert sind, anderen Rechteinhabern gehören, aber von US-Unternehmen gehostet werden, diese Rechtsposition entspricht genau dieser europäischen Urangst. Und in der Tat: Souveränität sieht anders aus.

Seit einem guten Jahr wird inzwischen in Standardisierungsgremien und Arbeitskreisen daran gebosselt, wie die Daten-Cloud unter dem Namen Gaia-X eigentlich aussehen soll. Vor gut zehn Wochen veröffentlichten Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier und sein französischer Amtskollege Bruno LeMaire erste Policy Rules and Architecture of Standards (PRAAS), die dem künftigen Datenpool Gestalt geben sollen. Seitdem wird in Wirtschafts- und Technologie-Verbänden sowie in den Behördenzimmern am Feinschliff dieser Verhaltensregeln für die Cloud gearbeitet. Es findet also derzeit etwas Ähnliches statt wie die Abstimmung über die Cloud – wenngleich auch nur unter Technokraten. Aber das ist mehr als nichts.

Es wäre allerdings doch interessant, einmal das Ergebnis eines Plebiszits über unsere künftige informationstechnische Infrastruktur zu kennen. Mangelnde Expertise muss man der Bevölkerung dabei nicht vorwerfen. Sie hat schon vor Corona mit voller Überzeugung die Cloud entweder genutzt oder gemieden und im Shutdown die Vorzüge des Remote Work, Home Office und Home Schooling schätzen gelernt. Und übrigens durften auch die Briten ohne größere Sachkenntnis über eine so folgenschwere Entscheidung wie der über den Brexit abstimmen. Vielleicht kommt dann doch eine souveräne Entscheidung wie der Auftrag zur Bildung von Airbus Industries der Informationstechnik dabei heraus. Das wäre doch wohl wahrscheinlicher als ein Clexit – ein Exit aus der Cloud.

 

Amerika, aufgepasst!

Warum, zum Teufel, sollte Microsoft eine zweistellige Milliardensumme ausgeben, um eine scheinbar unbedeutende App zu kaufen, die Jugendliche mit selbstgemachten Videos versorgt? Weil es der Präsident so will? Weil man an 100 Millionen Usern allein in den USA nicht vorbeigehen kann? Nein, weil hinter TikTok, dem Video-Netzwerk des chinesischen Anbieters ByteDance, ein Algorithmus steckt, der die Mechanismen der Aufmerksamkeits-Industrie komplett aus den Angeln heben könnte. Wer mit genügend Paranoia ausgestattet ist, könnte vermuten, dass die künstliche Intelligenz hinter TikTok nicht nur den Aufmerksamkeits-Wettbewerb bei Menschen unter 30 gewinnt, sondern früher oder später auch Wahlen beeinflussen könnte – vielleicht noch nicht die am ersten Dienstag im November. Aber für die Zukunft könnte gelten: Amerika, aufgepasst!

Es ist ein interessantes Phänomen, dass ausgerechnet die Vereinigten Staaten von Amerika, seit dem zweiten Weltkrieg unangefochtener IT-Hegemon, jetzt plötzlich Sorgen entwickeln, von einer fremden Macht dominiert zu werden. Für uns Europäer ist dieses Gefühl ein praktisch unumstößliches Erbe der Nachkriegsordnung. Erst IBM, dann Microsoft und Intel, heute Facebook, Google, Apple und Amazon – wir sind derart daran gewöhnt, dass unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben von US-Unternehmen gestaltet wird, dass wir uns die Augen reiben, wenn jenseits des Atlantiks die Vorstellung Panik auslöst, unter den Einfluss eines chinesischen Startups zu geraten. Aber genau das passiert gerade.

Und in der Tat: ByteDance, die Mutter des Video-Dienstes TikTok, die US-Präsident Donald Trump bis zum kommenden Wochenende entweder verbieten oder kaufen (lassen) will, ist alles andere als ein Papiertiger. Das weltweit größte Startup, das nach dem Engagement des Venture Capitalist SoftBank kürzlich mit 140 Milliarden Dollar bewertet wurde, ist im Begriff, den globalen Sieg im Wettbewerb um Aufmerksamkeit zu gewinnen. Das Unternehmen könnte in Kürze zu den Tech-Giganten Amazon, Apple, Facebook, Google und eben auch Microsoft aufschließen. Und natürlich zu Tencent, Alibaba und Baidu, den chinesischen Tech-Giganten. Das und nicht die vorgeschobenen Bedenken wegen Datensicherheit und Privatsphäre treibt den amerikanischen Präsidenten um. Und deshalb will er einen „Deal“.

Weltweit hat TikTok bereits 800 Millionen User – jeder achte davon lebt in den USA. Die App für selbstproduzierte Ego-Videos ist damit etwa so groß wie Snapchat, das bei seinem Börsengang auf einen Schlag 33 Milliarden Dollar wert war. Das dürfte ungefähr das Preisschild für Microsoft sein, das dem eigenen Bekunden nach lediglich die TikTok-Operations in den USA, Australien, Neuseeland und Kanada übernehmen will. Zum Vergleich: die Übernahme des sozialen Netzwerks LinkedIn kostete Microsoft 26,5 Milliarden Dollar. Dessen Integration ist noch kaum richtig abgeschlossen.

Die Einbindung von LinkedIn in die Office 365-Suite ergab und ergibt auf den ersten Blick Sinn. Doch warum sollte Microsoft TikTok kaufen? Die Gefahr, dass die 100 Millionen US-amerikanischen User fluchtartig die App deaktivieren und sich dem nächsten Hype zuwenden könnten, ist schließlich ziemlich groß. Die Antwort: hinter TikTok verbirgt sich ein KI-Algorithmus, der deutlich innovativer ist als die Codes von Google oder Facebook, mit denen User-Profile angelegt und ausgewertet werden und mit denen – dies vor allem – individuelle Werbebotschaften vermittelt werden. Denn wie bei allen sozialen Netzwerken ist auch bei TikTok der User nicht der Kunde, sondern das Produkt.

Google und Facebook werten User-Profile vor allem aus vergangenheitsbezogenen Daten heraus aus. Wer viele Likes oder Friends hat, bekommt auch künftig viele Likes und Friends. Wer mit einem Video Erfolg hatte, hat gute Chancen, auch mit dem nächsten Post viral zu gehen. Oder anders ausgedrückt: Google kennt nicht das beste Steak in den USA, aber es kennt das Steakhaus mit den meisten und besten Bewertungen. Diese Vorgehensweise ist ein klassisches Spiegelbild der amerikanischen Gesellschaft: Erfolg hat, wer bereits Erfolg hatte. Deshalb – dies sei nebenbei erwähnt – sind Präsidentschaftskandidaturen in den USA auch so teuer. Sie zeigen, der „Potus“ ist vor allem potent.

ByteDance nutzt offensichtlich eine vollkommen andere Herangehensweise, die davon profitiert, dass alle Vorlieben der User überwacht werden können. Dabei werden nicht so sehr die Daten derer bewertet, die Inhalte posten, sondern von jenen, die sich diese Inhalte anschauen. Diesen eher konfuzianischen Denkansatz hat ByteDance nicht nur in TikTok implementiert, sondern allen seinen – vor allem in China erfolgreichen – Apps zugrunde gelegt. Vom Newsfeed, der kein klassisches Nachrichtenportal, sondern eine Plattform für selbst-produzierte News ist, über einen Musikdienst bis zum eCommerce-Portal gewinnt ByteDance vor allem in Asien, aber mehr und mehr auch in der westlichen Welt das Rennen im Aufmerksamkeitswettbewerb. In den USA genießt TikTok bereits knapp eine Stunde Aufmerksamkeit pro User pro Tag – ein, zwei Minuten mehr als Facebook. Wenn das junge Amerika aufpasst, dann achtet es inzwischen ebenso sehr auf Angebote aus China wie aus dem eigenen Land.

Das ist es, was Donald Trumps Berater umtreibt. Aber sollte es auch Satya Nadella, den CEO von Microsoft umtreiben? Diese Woche wird noch viel in Hinterzimmern antichambriert! Die Jüngeren können diesen Begriff ja googlen. Oder gleich bei ByteDance nachfragen – denn eine Suchmaschine gibt es von diesem Startup auch längst.

Und wir Europäer? Wir diskutieren über eine eigene Cloud-Infrastruktur, die nach der Einschätzung von Akatech-Präsident Karlheinz Streibich ohnehin zehn Jahre zu spät käme. Und wir diskutieren über die ethischen Implikationen von künstlicher Intelligenz, während wir längst unsere Seelen an US-amerikanische oder chinesische Algorithmen verkauft haben. Wenn Amerika aufpasst, leiden wir Europäer unter einem massiven digitalen Aufmerksamkeitsdefizit – besser bekannt unter dem Kürzel ADHS.