Verbandskasten

Die Digitalisierung ist immer und überall! Sie betrifft alles und jeden. Weil sie überall greift und angreift, kann sich ihr niemand entziehen. Es gibt praktisch keinen Lebensbereich mehr, in dem man nicht irgendwie Stellung beziehen muss über das Ausmaß und die Wirkungsweise der Digitalisierung. Man konnte vor zwei Jahrhunderten völlig unbeeindruckt von der Dampfmaschine weiter leben, vor 100 Jahren auch ohne Elektrifizierung arbeiten, vor 50 Jahren auch ohne Großrechner erfolgreich sein oder vor 25 Jahren auch ohne das Internet am Weltgeschehen teilnehmen. Doch selbst wer heute auf Smartphone, Computer oder soziale Vernetzung verzichtet ist dennoch ein zumindest passiver Player in der digitalen Welt.

Wenn aber die Digitalisierung in die Zuständigkeit von jedem Einzelnen fällt, dann ergibt auch ein zentrales Ressort für die Digitalisierung keinen Sinn. Gerade weil die Digitalisierung Themen der inneren Sicherheit und juristische Implikationen nach sich zieht, weil sie einen Infrastrukturausbau verlangt und unser wirtschaftliches Gefüge berührt, gibt es in der jetzigen Bundesregierung gleich vier Ministerien, in denen die Digitalisierung beheimatet ist. Und eigentlich sollten es sogar viel mehr sein: die Veränderungen in der Arbeitswelt betreffen das Ministerium für Arbeit und Soziales, die geforderte Bildungsoffensive das Bildungsministerium, die Digitalisierung des Gesundheitswesens das Gesundheitsministerium und nicht zuletzt sind das Außen- und Verteidigungsministerium mit der zunehmenden Digitalisierung unserer Außenbeziehungen befasst. Wie auch immer die neue Bundesregierung aussehen wird – die Digitalisierungsbranche bekommt es mit immer mehr Ansprechpartnern zu tun. Kein Wunder also, dass beispielsweise der IT-Verband Bitkom sich einen zentralen Ansprechpartner in der Politik wünscht und deshalb ein Digitalisierungsministerium fordert.

Aber ist der Bitkom, der sich selbst auch gerne als Hightech- oder Digitalverband titulieren lässt, denn noch selbst der alleinige oder zumindest dominierende Fürsprecher der Digitalisierungsbestrebungen? Anders als bei der Computerisierung geht die Digitalisierung heute nicht von einer Gruppe von Anbietern aus, sondern von den Anwendern, die überhaupt erst einmal eine Digitalstrategie mit Blick auf ihre Branche und ihre Geschäftsmodelle entwickeln müssen, ehe sie an die Umsetzung gehen können. So beschäftigen Versicherungen mehr Softwareentwickler als die meisten Softwarehäuser, weil ihr Produkt ganz wesentlich auf Berechnungsverfahren für Risiken und Margen beruht. Ein Maschinenbauer reichert sein Produkt durch Steuerungen und Sensoren an, ein Automobilbauer seine Modelle durch Fahrassistenzsysteme und Infotainment-Anlagen. Und auch die Gesundheitsdienstleister optimieren ihren Service durch elektronische Patientenakten, verbesserte Kommunikation und Big Data-Analysen. Und umgekehrt sind viele Startups von heute gar nicht so sehr mit der Entwicklung von Software befasst, als vielmehr mit der Digitalisierung und Umwälzung eines Geschäftsprozesses. Und so verwischt die Grenze zwischen Anbietern und Anwendern von Informationstechnik in dem Maße, in dem Software, Chips und Netz Bestandteil des Produktangebots werden. Jede Organisation, jede Branche ist ihr eigener digitaler Mittelpunkt, ihr eigener „Digital Hub“.

Ein Digitalverband mit Alleinvertretungsanspruch müsste also über das klassische Kastendenken hinausgehen und jeden digitalen Player in seine Reihen aufnehmen und in seine Lobbyarbeit einbeziehen. Das wäre das Ende des Spartenverbands und der Beginn eines „Bundesverbands der digitalen Industrie“. Aber den BDI gibt es schon. Er muss nicht noch einmal erfunden werden. Und es gibt auch die Digital Hubs schon, die auf Initiative des Bitkom auf dem Digital-Gipfel beschlossen und inzwischen an zahlreichen Standorten mit Branchenschwerpunkten umgesetzt worden sind. Unter der Führung eines Digitalverbands sind die Digital Hubs der Lösungsweg für eine generelle Vertretung digitaler Interessen, weil sie die vertikale Branchenausrichtung mit der horizontalen Sicht auf die Querschnittstechnologie Digitalisierung verbinden.

Das alles wird der neue Bitkom-Präsident Achim Berg in seiner Dokumentenmappe vorfinden, wenn er jetzt eine Woche nach seiner Wahl die Arbeit aufnimmt. Er muss das Profil des Verbands schärfen und gleichzeitig über die ganze Bandbreite der Digitalisierung ausweiten, ohne es aufzuweichen. Und da ist es durchaus ein Glücksfall, dass mit Achim Berg ein Mann an der Spitze des Bitkom steht, der mehrfach Schreibtisch, Branche und damit Perspektive gewechselt hat: von der Bürokommunikation über Telekommunikation zur Software und schließlich über die Dienstleistung zu Private Equity.

Dabei ist es auffällig, dass diese Selbstfindung im Bitkom durch die Repositionierung der CeBIT gespiegelt wird. Auch in Hannover gilt es, das Profil der Sparten-Messe für „Bürokommunikation, Informationsverarbeitung und Telekommunikation“ – dafür stand das CeBIT-Kürzel schließlich einmal – gegenüber der Industrie-Messe zu behaupten. Denn auch dort zeigt sich, dass die Digitalisierung das klassische Kastendenken aufgehoben hat und in jeder Halle und in jedem Außengelände zu besichtigen ist.

So lösen sich unter der Digitalisierung auch die klassischen Verbands-Kasten auf: die Automobilhersteller im VDA, die Maschinenbauer im VDMA, die Elektroniker im ZVEI, die Mittelständler im BVMW oder die eCommerce-Treibenden im eco und die Startups im BVDS – sie alle „machen in Digitalisierung“. So vielfältig die Ressortzuteilung in der Bundesregierung, so variantenreich ist die Interessensvertretung in den Verbänden. Ein Digitalverband muss die Partikularinteressen der einzelnen Verbands-Kasten bündeln, kanalisieren und steuern. Da wartet ein Berg an Arbeit.

 

Nach dem Gipfel ist vor dem Berg

Sicherheit und Gerechtigkeit und Digitales – so klingt das Lied der Deutschen vor der Bundestagswahl im Sommer 2017. Es ist das gemeinsame Bekenntnis der größtmöglichen Koalition aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Und während es bei den Themen Sicherheit und Gerechtigkeit „Europe First“ heißt, tönte es auf dem Gipfel zur Digitalisierung Anfang der vergangenen Woche laut und vernehmlich „Germany First“.

Doch die Meinungen gehen auseinander in der Frage, ob es sich bei der Positionierung der Deutschen im digitalen Wettstreit um eine Standortbestimmung des bereits Erreichten handelt oder doch eher um eine Zielvorgabe für die kommenden Jahre. Der Digitalgipfel schwankte zwischen Stolz auf die erbrachte Leistung und Bangen vor den anstehenden Aufgaben. Dass es voran gehen muss in Deutschland mit dem digitalen Wandel – darüber waren sich alle 1100 Besucher einig, die auf den Gipfel in der Hightech-Region Ludwigshafen, Mannheim, Darmstadt gepilgert waren. Auch über das Wie gab es kaum Dissens. Aber die Frage, wer das Steuer in der Hand halten soll, wer nur mitfährt und wer nur Ballast ist – entzweite und erhitzte die Gemüter.

Denn das Mantra von der verschlafenen Zukunft wurde wieder einmal über den Mittelstand gesprochen, dessen Innovationskraft mit zunehmendem Alter des Managements nachlasse und dem es an Digitalstrategien fehle. Verhandelt wurde über die Frage, inwieweit die Telekom-Carrier beim Breitbandausbau in Vorleistung zu treten haben und wie ihr ROI ausfallen darf. Gehadert wurde mit den digitalen Großprojekten des Bundes und der Länder, in denen die Verwirklichung der digitalen Behörde nicht und wieder nicht voranschreitet. Und gestritten wurde auch schon über die Ziele der nächsten Legislaturperiode.

Unstreitig ist, dass Deutschland eine erstklassige Infrastruktur braucht, auf der die Wirtschaft ihre Geschäftsmodelle aufbauen, die Wissenschaft ihren Diskurs eröffnen und die Gesellschaft ihren Lebensstil ausleben kann. Zugegeben – ohne Breitbandvernetzung geht da nichts. Aber ohne digitale Visionen und Strategien transportiert auch das schnellste Netz nur Stagnation. Und nicht jeder, der analoge Maschinen durch digitalisierte Steuerungen ersetzt, der seinen Vertrieb mit den sozialen Medien verknüpft oder 3D-Druck zur Individualisierung der Produktion nutzt, denkt gleich auch an eine Umwälzung der eigenen Branche. Viele Digitalisierungsanstrengungen dienen einfach nur der Rationalisierung. Das führt zwar nicht zum Wandel, ist aber mehr als nichts.

Dabei wies der Digitalgipfel eine Vielzahl von Aktionsfeldern auf, in denen Deutschland aus einer Führungsposition auch weiterhin Weltklasse bleiben kann und die Märkte strategisch neuzuordnen in der Lage wäre. Einen Schwerpunkt der Debatte nahm dabei das Gesundheitswesen ein, für dessen wirtschaftlichen Betrieb nicht nur weitere Kosteneinsparungen durch Technologie notwendig sind. Vor allem im Erkenntnisgewinn durch künstliche Intelligenz in der Medizin und in der Pharmaforschung, im Betreuungsplus für Patienten durch Telemedizin, in der Verbesserung der Therapie und Pflege durch eine vernetzte Patientenakte zeigen sich die Potentiale. Kaum ein Aufgabenfeld eignet sich besser als Operationsfeld für den digitalen Wandel als das Gesundheitswesen, wo Patienten, Dienstleister, Hersteller, Versicherungen und Finanzhaushalt einen direkten gemeinschaftlichen Nutzen erzielen beziehungsweise könnten.

In der digitalen Welt geht alles schneller – theoretisch. Aber in der realen Welt gibt es Hemmnisse, die auch durch den Erfolg in der Vergangenheit hervorgerufen werden können. Kaum eine Branche zeigt dies derzeit so eklatant wie die Automobilindustrie, die zu einem Großteil den deutschen Export befördert. Die Transformation vom herkömmlichen fahrergesteuerten, durch Verbrennungsmotoren angetriebenen Privatwagen zum CASE-Produkt, das connected, autonomous, shared und electric ist, fällt hierzulande deutlich schwieriger aus als beispielsweise in China, wo eine Automobilindustrie erst im Entstehen ist und von Anfang an auf Alternativen setzen kann. Ein allzu schneller Übergang würde in Deutschland hunderttausende von Arbeitsplätze kosten.

Der digitale Wandel ist mal eine Ente, mal ein Jaguar. Entscheidend ist, wie gut die Strategie an die Realität angepasst ist. Mit dem nötigen Pragmatismus ausgestattet hat der Mittelstand schon immer gewusst, wann er auf die Bremse treten und wann das Gaspedal durchgedrückt werden muss. Dazu braucht es freilich Planungssicherheit, die langfristig ausgelegt ist und nicht von Bundestagswahl zu Bundestagswahl neu justiert werden muss. Denn Digitalisierung ist kein Einmal-Projekt, nach dem man sich getrost zurücklehnen kann. Nach dem Digitalisierungsschritt ist vor dem Digitalisierungsschritt. Nach dem Gipfel ist vor dem Gipfel.

Das wissen auch die Seilschaften am Gipfel: Der Bundesverband der deutschen Industrie und der Hightech-Verband Bitkom sehen sich als Speerspitze der Digitalisierungsoffensive, weil sie eine pluralistische Wirtschaftswelt abbilden. Sie sahen sich auf dem Digitalgipfel neben der Kanzlerin gleich vier Ministern aus drei Parteien gegenüber. Bei aller Freude über die prominente Besetzung wurde deshalb auch wieder der Ruf nach einem Digitalministerium als ordnende Kraft und starkem Gesprächspartner für die Wirtschaft laut. Doch die Welt ist viel zu facettenreich, als dass Digitalisierung in einem Schwerpunktressort aufgefangen werden sollte. Deshalb ist es auch nicht überraschend, dass der Hightech-Verband Bitkom offensichtlich seinen neuen Präsidenten diese Woche außerhalb der Digitalwirtschaft finden wird. Dann könnte auf den sich nun seinen neuen Aufgaben im Vorstand der Lufthansa widmenden Thorsten Dirks der Private Equity Experte und Aufsichtsratsvorsitzende des Bitkom-Mitglieds Flixbus, Achim Berg, folgen, der freilich als ehemaliger Deutschlandchef von Microsoft genügend Stallgeruch mit sich bringt. Nach dem Gipfel ist nun mal vor dem Berg.

Fürchtet Euch nicht

„Und ob ich schon wanderte im finsteren (Digi)Tal, fürchte ich kein Unglück.“ Es scheint, als sollte die Zeile aus dem 23. Psalm zu Beginn des Digital-Gipfels der Bundesregierung stehen. Denn zum Auftakt des ab morgen stattfindenden Spitzentreffens hagelt es mal wieder schlechte Umfragewerte – nicht für Politiker, sondern für die Deutschen im Allgemeinen.

Das schlechteste Zeugnis haben sie sich dabei selbst ausgestellt. Auf die Frage des Hightech-Verbands Bitkom nach der eigenen Digitalkompetenz haben sich die Deutschen über 14 ein mäßiges „ausreichend“ ausgestellt. Dabei sah die Rentnergeneration (ab 65 Jahre) sich „mangelhaft“ auf das Leben in Digitalien vorbereitet. Und selbst die jüngeren Jahrgänge (14-29 und 30-49) mochten ihre Kompetenzen lediglich als „befriedigend“ deuten.

Im Gegensatz zu früheren Meinungsäußerungen sind die Deutschen aber gegenüber der Informationstechnik nicht mehr rundweg ablehnend – es ist also ein weiter Weg seit der bundesweiten Verweigerung von Volksbefragungen und Internetzugängen. 77 Prozent der 14- bis 29jährigen gaben an, dass die Digitalisierung eine große Bedeutung in ihrem Leben hat. Bei den 20- bis 49jährigen ist dieser Zustimmungswert sogar noch höher: 82 Prozent. Aber drei von fünf Rentnern gaben an, dass die Digitalisierung keine Bedeutung für sie hat.

Das wächst sich aus – könnte man meinen. Doch das wäre nicht nur zynisch, sondern auch gefährlich. Denn die Diskrepanz zwischen Neigung und Kompetenz ist durchaus eklatant. Gerade weil die Digitalisierung eine so hohe Bedeutung in Gesellschaft, Wirtschaft und im Privatleben erreicht hat, sollte die Digitalkompetenz dringend ausgeweitet werden. Das beginnt in der Schule, wo der – wohlgemerkt: richtige – Umgang mit Computern und vernetzten Systemen schon früh nahegebracht werden sollte, setzt sich bei der Berufswahl und Berufsausbildung fort und schließt schließlich das berufliche Leben mit ein. Gerade bei mittelständischen Betrieben wird ja allgemein konstatiert, dass es an belastbaren Digitalstrategien fehlt.

Da ist es sinnvoll, wenn Bildungsministerin Johanna Wanka Milliarden in die Digitalausstattung der Schulen stecken und – als zweite Seite der Medaille – auch die Digitalkompetenz der Lehrer voranbringen will. Da ist es auch löblich, dass mit den Digital Hubs zwölf Standorte hervorgehoben werden, deren Kernkompetenz in „digital plus X“ – also beispielsweise Mobilität, Logistik oder Finanzwesen – weiter gestärkt werden sollen. In einer dieser Regionen mit ausgewiesener hohen Kompetenzdichte – der Region Rhein-Neckar im Länderdreieck Hessen, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg – soll nun auch der Digital-Gipfel als Nachfolge-Event des nationalen IT-Gipfels tagen.

Dort werden aber in echter deutscher grüblerischer Manier Themen diskutiert, deren Fragestellung schon bange machen muss: „Verschlafen wir die Digitalisierung?“, „Verfügen wir über die neuesten Technologien?“, „Verfügen wir über die entscheidenden Kompetenzen?“, „Gelingt der Sprung von der Innovation zu Wachstum und Beschäftigung?“

„Ja, ja, ja und nochmals ja“, möchte man den Diskutanten zurufen – darunter das halbe Bundeskabinett, die Ministerpräsidenten der drei gastgebenden Länder und jede Menge Unternehmens-Vorstände. „Fürchtet euch nicht!“ Und vor allem: „Lasst das Lamentieren.“ Die Deutschen sind besser als der Ruf, den sie sich selber geben.

Einem Briten würde es auch nach Brexit und Wahlchaos nie in den Sinn kommen, sich selbst mangelnder Kompetenzen zu bezichtigen. Ein US-Amerikaner wird auch jetzt immer noch den Toast ausgeben: „Right or wrong, my country!“ Und in Frankreich singen Schüler spontan die Marseillaise, wenn sie sich über den Ausgang der Präsidentschaftswahl dort erleichtert zeigen. Die Deutschen, so scheint es, kennen nur die beiden Extreme – Sack und Asche oder Großmannssucht. Nur einen realistischen Blick auf uns selbst – das kriegen wir nicht hin.

Dabei ist die richtige Einschätzung der Notwendigkeiten ohne Panikmache und ohne Größenwahn die Herausforderung, die der Digital-Gipfel meistern muss. Es gilt, die richtigen Weichen richtig zu stellen und nach der Bundestagswahl darauf aufzubauen. Vier Leistungen fordert Bitkom-Präsident Thorsten Dirks im Vorfeld des Gipfeltreffen: eine grundsätzliche Neuausrichtung unseres Bildungssystems, eine konstante Datenpolitik, Ökosysteme der digitalen Transformation und die leistungsfähigste Infrastruktur. Das klingt ein wenig abstrakt, ist aber im Kern durchaus richtig – wenngleich erst die konkrete Umsetzung zeigen wird, ob der eingeschlagene Weg zukunftsweisend ist.

Ein Beispiel: In der aktuellen Debatte wird die Bildungsfrage gern auf die Aussage verkürzt, dass nur der erfolgreich sein kann, der zu programmieren versteht. Das ist Unsinn. Code ist nur eine Disziplin – und vielleicht nicht einmal die entscheidende. Wichtiger noch scheinen mir die Fähigkeit zu sein, andere Menschen zu verstehen, Geschäftsideen zu entwickeln, technische und kulturelle Zusammenhänge zu begreifen und zu wissen, wie man im Wirtschaftsleben agiert. Das sind die Fähigkeiten, die vor der Gründung eines erfolgreichen Startups stehen. Wer weiß, was zu tun ist, findet auch Partner, die es tun. Dazu braucht man Kreativität, Mut und Verantwortungsbewusstsein. Deshalb: „Fürchtet Euch nicht!“

 

Mittelstand First

Im Reformationsjahr, in dem daran erinnert wird, dass Martin Luther vor 500 Jahren seine berühmt gewordenen Thesen wider den Ablasshandel an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg hämmerte, gerät die Erinnerung an andere, vielleicht für den Weltenlauf minder wichtige Festlegungen bedauerlicherweise in den Hintergrund: So zum Beispiel die Verordnung Nr. 1234 der Europäischen Gemeinschaft über eine „gemeinsame Organisation der Agrarmärkte“, die vor ziemlich genau zehn Jahren verabschiedet wurde. Darin findet man auch „Sondervorschriften für bestimmte landwirtschaftliche Erzeugnisse“ wie etwa wie die Feststellung, dass ein Liter Milch – also das „Gemelk von einer oder mehreren Kühen“ – mit dem Fettgehalt von 3,5 Prozent mindestens 1028 Gramm pro Liter zu wiegen hat.

Wir wollen uns nun keineswegs über die Ordnungsliebe der Europäischen Kommission lustig machen – schließlich wünscht niemand das gepanschte oder gestreckte „Gemelk“, das bei nur 28 Gramm weniger pro Liter nur noch reines Wasser wäre – und damit etwas völlig anderes.

Aber allzu genaue – oder allzu vordergründige Kategorisierungen können in die Irre führen. Oftmals geht es vielmehr um gefühlte Unterscheidungen, die sich einer eindeutigen Definition entziehen. Die Europäische Kommission weiß zum Beispiel ganz genau, dass ein Unternehmen dann als mittelständisch zu bezeichnen ist, wenn es mit weniger als 250 Beschäftigten weniger als 50 Millionen Euro Umsatz generiert. Klein ist ein Unternehmen demnach, wenn es zwischen zehn und 49 Mitarbeiter beschäftigt und dabei zwischen zwei und zehn Millionen Euro umsetzt. Und „Kleinst“ nennt die Europäische Kommission jene Firmen, die bis zu neun Mitarbeiter haben und damit nicht über einen Umsatz von zwei Millionen hinauskommen. Jahr für Jahr geraten aber Hunderttausende von Unternehmen schon allein durch die Auswirkungen der Inflation in die nächsthöhere Kategorie, ohne dass sie real zulegen. Auch das ist eine Auswirkung des sogenannten Mittelstandsbauchs.

Die Einteilung ist auch insofern bemerkenswert, als einem Kleinstunternehmen damit ein Umsatz pro Mitarbeiter von bis zu 250.000 Euro zugetraut wird. Darüber hinaus wird aber eher ein Pro-Kopf-Umsatz von unter 200.000 Euro unterstellt. Tatsächlich sieht aber die Realität genau umgekehrt aus. Als Daumenregel kann gelten: Je größer ein Unternehmen ist, desto größer ist auch seine Produktivität gemessen am Pro-Kopf-Umsatz. Und es hat den Anschein, als würde die Europäische Kommission ihre Förderpolitik auch genau nach dieser Daumenregel ausrichten. So werden zum Beispiel 80 Prozent der Ausgaben, die im EU-Haushalt im Rahmen des Förderprogramms „Horizont 2020“ vorgesehen sind, an Großunternehmen vergeben, wie das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft betont.

Eine zweite Daumenregel besagt aber, dass kleine und mittelständische Unternehmen von Bürokratielasten stärker betroffen sind als Großunternehmen. Das liegt in der Natur der Sache: Der Aufwand für eine Betriebsgenehmigung beispielsweise ist die gleiche – unabhängig von der Zahl der Beschäftigten und der dabei erzielten Wertschöpfung. Der von der Entbürokratisierungsrunde um Edmund Stoiber geforderte „Bürokratie-TÜV“, der eine Gesetzesfolgenabschätzung mit Blick auf etwaige Bürokratiekosten betreiben sollte, ist leider bislang nur auf dem Papier verwirklicht. Zudem ist es unbestritten, dass global agierende Unternehmen mehr Möglichkeiten haben, Steuerabgaben dadurch zu verringern, dass sie Gewinne an einem Standort durch Verluste an einem anderen nivellieren können.

Es liegt in der Besonderheit der deutschen Wirtschaft – und wohl auch des deutschen Wirtschaftswunders, dass hierzulande die Definition von Mittelstand ganz anders formuliert wird als in der Europäischen Kommission. In Deutschland zählt auch zum Mittelstand, wer bis zu 500 Personen beschäftigt. Und darüber hinaus gehören auch deutlich größere Unternehmen zum klassischen Mittelstand, wenn sie Eigentum und Unternehmensführung verbinden – also in familiengeführten Firmen, die es in dieser Ausprägung in anderen europäischen Ländern gar nicht oder nur vereinzelt gibt. Hier könnte eine echte Mittelstandspolitik ansetzen. Denn das deutsche Erfolgsmodell ist ja – dies sei in aller Bescheidenheit, aber voller Selbstbewusstsein gesagt – durchaus nachahmenswert.

Denn ohnehin zeigt die Realität, wie wir sie aus Statistiken wahrnehmen, dass der Mittelstand – egal in welcher Definition – der Garant für Prosperität und Stabilität in Europa ist. Dies gilt es vor allem in Zeiten festzuhalten, in denen die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht. Aber es sind 23 Millionen kleinste, kleine und mittlere Unternehmen (nach EU-Definition), die in der europäischen Staatengemeinschaft 90 Millionen Menschen „Lohn und Brot“ geben – das sind immerhin zwei Drittel aller Erwerbstätigen im Unternehmenssektor. Nimmt man den Agrarsektor hinzu, erhöht sich der Anteil sogar auf drei Viertel, denn trotz aller Konzentration in der Landwirtschaft wird der größte Teil der Erzeugerleistung von familiären Agrarbetrieben erbracht.

Mittelständische Unternehmen sind jedoch trotz des 2008 verabschiedeten „Small Business Act“ die Stiefkinder der europäischen Förderpolitik. Das sollte sich rasch ändern. Denn „Mittelstand First“ wäre eine vielversprechende Förderpolitik mit Blick auf die Digitalisierung. Auch hier gilt nämlich die Daumenregel, dass der Return on Invest bei Großunternehmen schneller eintritt als bei kleinsten, kleinen oder mittleren Unternehmen. Wer also lamentiert, dass Europa den Anschluss an die digitale Revolution zu verpassen droht, sollte vor allem diejenigen in ihre Weiterentwicklung fördern, die für die Beschäftigungssituation in der Europäischen Union den entscheidenden Beitrag leisten. Egal, wie die Kategorien definiert werden – „Mittelstand First“ ist Trump(f)!