Oh Zeiten, oh Sitten

Also, ich habe jetzt schon mal sicherheitshalber einen Asylantrag an die Botschaft von Ecuador gestellt. Nicht, dass ich mich einer direkten politischen oder anti-terroristischen Untersuchung ausgesetzt sähe, aber man weiß ja nie. In diesen Zeiten droht hinter dem PRISM offenbar auch schnell das Prison. Wir werden belauscht, bespitzelt und – fast noch am schlimmsten – über das wahre Ausmaß der Kommunikations-Kontrolle belogen; na, sagen wir: wissentlich im Unklaren gelassen.

Was mussten wir alles lernen? Dass die gerichtlichen Freigaben für PRISM-Abfragen in den USA doch weitaus grundsätzlicher und wohlwollender erteilt wurden als bisher angenommen. Dass auch US-Amerikaner von der NSA ausspioniert werden können, solange nur der Verdacht bestehen kann, es handele sich um Nicht-US-Bürger. Dass China nicht nur selbst ein großer Cyber-Warlord ist, sondern dass chinesische Telefon- und Mail-Accounts zu Millionen ausgeschnüffelt wurden. Und schließlich, dass das Spionageprogramm des britischen Geheimdienstes – Tempora – noch alles in den Schatten stellt, was über US-Amerikanische Schnüffeldienste bisher bekannt geworden ist.

Oh tempora, oh mores, rief Cicero vor 2075 Jahren und beschwor damit die Sittenlosigkeit seiner Zeitgenossen, insbesondere der Catilinas, dessen Verschwörung gegen den Staat Cicero aufzudecken half. Das bisschen Antichambrieren von damals ist ja eine Lappalie im Vergleich zur amerikanisch-britischen „Camerama“-Verschwörung, für die die beiden Regierungschefs jetzt ins Zwielicht geraten. Denn für beide zusammengenommen ist ja schließlich die gesamte Weltbevölkerung Ausländer. So erklärt sich auch, warum das britische Abhorch-Volumen so viel umfangreicher ist als das – bisher bekannt gewordene – amerikanische. Immerhin sind amerikanische Aktivitäten aus Sicht der Briten Auslandsaktivitäten – und damit das Abhorchen durch die Geheimdienstgesetze gedeckt. Und die Amis stehen nach wie vor für knapp die Hälfte des gesamten Email- und Telefonverkehrs weltweit.

Das schlimmste aber ist: Niemand kann sich mehr von der Sittenlosigkeit des Datenabhörens in diesen Zeiten lossagen – es sei denn, man kappt das Telefon- und Internetkabel. Auch das Versprechen einer „Deutschen Cloud“ wird durch die Auslandsspionage im Stil des Data Harvesting, der massenhaften Ernte von Daten und Informationen, ad absurdum geführt. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten. Aber schlimmer noch: Niemand wäre in der Lage, gegen diese Horchwut eine Mauer zu errichten.

Ebenso schwer wie das Abhören laufender Kommunikation – ob nun als Massendaten zu Verbindungen oder als stichwortgesteuertes Mithören – ist die Bedrohung, denen sich Unternehmen gegenübersehen, die ihre Firmendaten übers Netz – zum Beispiel in der Cloud – verschieben. Von der Feindspionage zur Wirtschaftsspionage ist es nur ein moralischer, aber kein technischer Schritt. Und die Moral ist in diesen abhörsicheren Zeiten nicht mehr so weit. – Übrigens: Abhörsicher im Sinne von „sicher abhören“.

Was können wir noch tun? Die Bundesregierung, die EU-Kommission müssen umgehend Aufklärung verlangen – über den G8-Gipfel hinaus. Und sie müssen europäische Datensicherheitsnormen zu einem Exportfaktor machen. Und: Wir müssen unsere Daten und Informationen verschlüsseln.

So zynisch es klingen mag: die Cloud ist durch die jüngsten Abhörskandale nicht unsicherer geworden. Fest steht jetzt, dass jede Online-Aktivität Unsicherheiten mit sich bringt. Das jedenfalls ist sicher. – Übrigens auch in Ecuador.

Privacy by Design

Also, ich gebe es jetzt zu: Ich habe kürzlich gegen einen Bußgeldbescheid wegen Falschparkens per Mail Widerspruch eingelegt mit der Begründung, meine Frau sei hochschwanger… Da ich aus US-amerikanischer Perspektive Ausländer bin und die Mail wahrscheinlich sowieso auf dem Weg von meinem Wohnort zum Ordnungsamt über einen amerikanischen Server geleitet wurde, gehe ich davon aus, dass die National Security Agency die ganze Sache jetzt eh rauskriegt. Ich bin nämlich 68 und habe nicht mehr die Absicht, noch einmal Vater zu werden. Und meine Frau ist nicht schwanger.

Aber genauso sieht die Sicherheitslage aus. Jede meiner Mails, meiner Facebook-Posts, Twitter-Tweets oder eben Bonnblogs geht mit hoher Wahrscheinlichkeit über einen Server in Amerika – und ist damit grundsätzlich im Zugriff amerikanischer Behörden. Das ist die bittere Konsequenz aus der Tatsache, dass deutsche – oder europäische – Unternehmen den Wettlauf ums Internet verloren haben. Bislang zumindest.

Derzeit mag noch spekuliert werden, ob der Zugriff, den sich amerikanische Behörden auf Kommunikationsdaten – ob nun Telefonverbindungen von Verizon, oder Freunde-Profile auf Facebook – genehmigen, direkt ist oder erst nach Anrufung eines (geheim tagenden) US-Gerichts erfolgt. Es darf auch weiter gerätselt werden, ob die Informationen tatsächlich Inhalte umfassen oder doch nur Verbindungsdaten. Entscheidend ist, wir werden ausspioniert – nicht nur, weil es Bedrohungen gibt, sondern auch, weil es technisch möglich ist.

Der Schlag, den die von Edward Snowden durchgesteckten PRISM-Folien jetzt dem arglosen Leben versetzen, ist allerdings enorm. Es ist ein Schlag gegen das Sicherheitsversprechen, das die Cloud mühsam aufgebaut hat. Der Generalverdacht, dass Daten, die auf einem anderen Server liegen, auch weitergegeben werden können (oder in diesem Fall offensichtlich müssen), ist wieder einmal erhärtet.

Die laut PRISM-Folien kooperierenden Unternehmen legen denn auch akribisch Wert auf die Unterscheidung, dass die NSA nicht nach eigenem Gutdünken Daten einsehen könne. Der gemeinsame O-Ton lautet hier: Es gibt keine Hintertür auf unsere Datensilos. Aber offensichtlich werden doch Anfragen zu Zehntausenden beantwortet, die durch nationale Gerichte durchgewunken wurden. Microsoft, Facebook und Google haben dazu jetzt Zahlen veröffentlicht.

Wie immer heiligt der Zweck die Mittel. Mindestens ein Terrorkomplott sei durch die Abfrageschlacht bereits aufgedeckt worden, wird argumentiert, ohne freilich einen überprüfbaren Hinweis für diese Aussage zu gewähren. Und Abfragen, die auf Entführungsopfer und Betrugsangelegenheiten führen sind ebenfalls in der Statistik enthalten.

Ob nun direkt oder sanktioniert, die PRISMA-Abfragen machen noch einmal deutlich, welche Macht Big Data-Analysen haben – im Guten wie im Schlechten. Wenn Amazon unsere Einkaufsgewohnheiten mit denen anderer vergleicht und daraus auf einen gemeinsamen Geschmack schließt, ist das eine Sache. Wenn unsere private Kommunikation aber im großen Stil sozusagen gewohnheitsmäßig abgegriffen wird, ohne dass das Ausmaß, noch die Zielsetzung auch nur ansatzweise transparent wären, ist die berühmte „rote Linie“ überschritten.

Was wir brauchen ist eine Privacy by Design. Smartphone-Betriebssysteme dürfen personenbezogene Daten in Verbindung mit GPS-Informationen nicht an Dritte verticken. Mailprogramme dürfen nicht willkürlich Serversysteme in datentechnischen Schurkenstaaten ansteuern. In Deutschland macht sich bereits eine „Internet made in Germany“-Bewegung vernehmbar, die für gewerbliche wie für private Kommunikation deutsche, oder auch harmonisierte EU-Datenschutzbestimmungen verfolgt.

Aber das Alter meiner Frau kriegt auch die NSA nicht raus.

Deutscher Komplexitäts-Komplex

Es ist alles noch viel komplexer – und das ist auch gut so. Oder doch nicht?

Unter dem Schlagwort „Industrie 4.0“ bastelt die Deutschland GmbH an ihrem neuesten Exportschlager. Denn die globale Vernetzung von Maschinen, Sensoren, Aktoren und menschlichen Akteuren soll den nächsten Schub bringen. Der Deutschen liebste Tugend, die kontinuierliche Geschäftsprozessoptimierung, soll durch „Industrie 4.0“ auf den nächsten Fertigungs- und Dienstleistungslevel gehoben werden.

Ein Mini-Kondratieff tut sich da auf, wie sich jetzt die Diskussionsteilnehmer in den Foren rund um die Messe transport logistic in München und bei der Fachtagung „Future Business Clouds“ in Berlin einig waren. „Industrie 4.0“ das ist im historischen Zusammengang nicht weniger als die vierte Stufe der industriellen Revolution, deren Vorstufen die Mechanisierung, Elektrifizierung und Automatisierung waren. Und jetzt eben Vernetzung im globalen Rahmen.

Dabei kommen die ersten Sendboten dieses Paradigmenwechsels noch recht überschaubar daher: InBin, zum Beispiel, der vom Fraunhofer Institut für Materialwirtschaft und Logistik entwickelte „intelligente Behälter“, mit dem Kommissionierprozesse verbessert und gesteuert werden können. Der Bin verfügt über ein Display, in dem die Kommissionieraufträge abgerufen, dargestellt und  die einzelnen Picks angezeigt und bestätigt werden können. InBin reiht sich damit auf den ersten Blick ein in die interaktiven Kommissionierstrategien Pick-to-Light oder Pick-by-Voice, die vor allem darauf abzielen, unnötige Handgriffe im Pick-Prozess zu eliminieren und die Fehlerquote zu reduzieren. Aber ist das dann schon „Industrie 4.0“?

Natürlich können solche intelligenten, intervernetzten, interaktiven Innovationen wie InBin mehr – und in Zukunft noch viel mehr. Sie sind aber vor allem flexible Subsysteme, die sich dynamisch mit anderen Subsystemen zu einem durchgängigen, belastungsfähigen Prozess zusammenfinden können, in dem sie dann auch ereignisgesteuert auf Veränderungen im Betriebsablauf reagieren. So wie das Fließband im Automobilbau, das erkennt, dass die Produktion hinter dem Zeitplan zurückbleibt und deshalb die nächste Just-in-Sequence-Lieferung kurzfristig verschiebt und so einen Stau vermeidet.

Das klingt nicht unbedingt nach Paradigmenwechsel. Aber das war der erste schwach leuchtende Glühdraht auch nicht – und doch hat er die elektrische Revolution eingeleitet, nein: eingeleuchtet.

Es ist gerade die Ingenieurleistung des deutschen Mittelstands, die die weltumspannende Vision von der Industrie der vierten Generation aus ihrem Komplexitäts-Komplex holt und in einer Art Evolution der kleinen Schritte zu umsetzbaren Innovatiönchen umdeutet.

Und das ist auch wirklich gut so. Besser kleine, schnuckelige Neuerungen im Rahmen einer großen Vision als sperrige, unverkäufliche Großkonzepte, die wegen ihrer Langfristperspektive zum Ladenhüter werden. Davon hatten wir im komplexitätsvernarrten Europa schon genug. Es sind vor allem die Amerikaner, die uns zeigen, wie man mit unvollkommenen, aber verkaufbaren Neuerungen einen globalen Wandel herbeiführen kann. „Industrie 4.0“ kommt nicht in einem großen, globalen Komplex, sondern In Trippelschritten. Da gehen Jahrzehnte ins Land.

Und auch das ist gut so.

Nie sollst du mich befragen…

Müssen wir künftig eine andere Richtung wählen, wenn wir uns gen SAP verneigen? Was sich in den vergangenen Tagen in der Chefetage des (noch) größten deutschen Softwarekonzerns tut, hat etwas von einer Wagner-Oper, wo Heroen um das Ewige, Gute ringen und am Ende – scheitern. Wie zum Beispiel Cloud-Vorstand Lars Dalgaard und Personalvorstand Luisa Delgado, die letzte Woche von der SAP-Opernbühne abtraten.

Wo allerdings der grüne Hügel für das Festspielhaus demnächst errichtet wird, scheint äußerst fraglich. In Walldorf jedenfalls herrscht Götterdämmerung, während sich im amerikanischen Palo Alto die neuen Gralshüter zusammenfinden.

Sicher ist bislang nur, dass aus der SAP AG ab kommendem Jahr eine SAP SE werden soll, eine Gesellschaft nach europäischem Recht. Doch zu welchem Behufe – außer zum Steuersparen? „Nie sollst du mich befragen“, singen die Wagnerianer bei der SAP und könnten im Lohengrin-Libretto tunlichst fortfahren: „Ob Ost, ob West – das gelte allen gleich.“

DIE Chefetage gibt es bei SAP, das mit weiter abnehmender Genauigkeit „der Walldorfer Softwarekonzern“ genannt wird, seit der vergangenen Woche ohnehin nicht mehr. Co-Vorstandschef Jim Hagemann Snabe sitzt meistens in Kopenhagen, sein Kollege Bill McDermott in den USA. Dort – in Palo Alto – haben auch der neue Entwicklungsvorstand Vishal Sikka und Aufsichtsratschef Hasso Plattner ihr Domizil. Und die künftige Kommunikationschefin Victoria Clarke wird auch eher aus einer der US-amerikanischen Niederlassungen der SAP die Marketing- und Kommunikations-Geschicke des Konzerns führen. In Walldorf sitzen hingegen die Urgesteine Gerhard Oswald (jetzt federführend für das Hana-Geschäft zuständig) und Finanzvorstand Werner Brandt, der bis zu seiner Pensionierung im kommenden Jahr nun auch die Personalangelegenheiten regelt.

Das alles sind erdrutschartige Veränderungen, die auch auf der Hauptversammlung des Konzerns am Dienstag dieser Woche interessieren. Denn nicht nur die Frage, wo das Unternehmen künftig sitzt, sondern auch die Zweifel darüber, wo das Unternehmen heute steht, beschäftigen die Aktionäre. Zwar zeigte das aktuelle Quartal wieder deutlich nach oben, riss aber mit ausgewiesenen 520 Millionen €uro Gewinn die Erwartungen der Analysten. In der Folge sank der Aktienkurs um fünf Prozent. Dennoch meinen die meisten Broker, das Kurspotenzial des Konzerns sei bei weitem noch nicht ausgeschöpft – zugetraut werden der SAP bis zu 80 Euro pro Aktie. Und dennoch herrscht Unsicherheit.

Für Besorgnis sorgt dabei auch, dass der Umsatz sich mehr und mehr um Cloud-Produkte und Hana rankt, während das traditionelle Geschäft mit Unternehmenssoftware und Unternehmensberatung zurückgehe – allerdings auf höchstem Niveau. An der neuen Diversität hat SAP hart gearbeitet- und heftig investiert: rund 17 Milliarden Euro wurden allein für Aufkäufe (Business Objects 2007, Sybase 2010, SuccessFactors 2011, Ariba 2012) aus der Hand gegeben. Die Konsequenzen zeigen sich nicht nur in einem gigantischen Integrationsprojekt, in dem unterschiedlichste Firmenphilosophien, Führungsstrukturen und Produktbereiche zu einer neuen, weltumspannenden Einheit zusammengefasst werden sollen. Auch der Umbau des Vertriebs, der auf neue, schnell drehende Produkte und Saleszyklen getrimmt wird, sorgt für zusätzliche Reibungen. Dies gilt auch für die neuen Salesregionen:  Nach der Zusammenlegung der beiden „Americas“ und dem starken Wachstum in Asien erscheint Europa wie ein abgehängter Kontinent.

Dalgaard und Delgado scheiterten offensichtlich in diesem Umbauprojekt: Vor allem die Talfahrt des ehemaligen „SuccessFactors“ Dalgaard war von vielen herbeigesehnt worden. Seit Monaten ließ der von Hasso Plattner schon mal zum neuen starken Mann erhobene Dalgaard kein gutes Haar an der Cloud-Strategie der SAP („Alles Mist“). Jetzt freilich heißt Plattners Favorit Vishal Sikka. Das muss nicht unbedingt ein gutes Omen sein: Auch Shai Agassi hatte schon mal diesen Ehrentitel. Frei nach Lohengrin sollte man ausrufen: „Nie sollst du mich befördern.“