Ich bin in der ersten Stunde des 9. Mai 1945 geboren – also am Tag nach der Unterzeichnung der „Bedingungslosen Kapitulation“ der Deutschen Reichswehr. Ich habe an die vielbeschworene „Stunde Null“, wenn es sie überhaupt je gab, keine direkte Erinnerung. Aber an die Zeit, in der die alte Funktionselite wieder in die Institutionen zurückkehrte, habe ich Kindheits- und Jugenderinnerungen. Ich habe handgreifliche Lehrer erlebt, die ihre NS-Gesinnung kaum verhohlen haben. Ich habe im Studium den „Muff aus Tausend Jahren unter den Talaren“ gerochen. So wurde ich ein 68er.
So lässt sich vielleicht verstehen, mit welcher Abscheu ich den rechten Pöbel betrachte, der sich vor den privaten Wohnsitzen von demokratisch gewählten Amtsträgern zu bedrohlichen Fackel-Aufzügen in der schlimmsten 30er-Jahre-Manier zusammenrottet oder bei „Spaziergängen“ nicht nur gegen Corona-Maßnahmen protestiert, sondern sie auch bewusst bricht. Unsere Demokratie ist stark genug, um diesen „Zurückgelassenen“, die in Wahrheit „Ewig Gestrige“ sind, ihre Freiheit zum Andersdenken zu überlassen. Aber sie signalisieren uns auch: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!“, wie Bertolt Brecht im Epilog zu seinem „Aturo Ui“ schrieb.
Aber ich habe auch noch eine andere Kindheits- und Jugenderinnerung – und die ist mit dem Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ verknüpft. Die Idee von einem Mittelweg zwischen Kapitalismus und staatlicher Planwirtschaft mit sozialer Komponente fand 1949 ins Ahlener Programm der CDU und zehn Jahre später ins Godesberger Programm der SPD. Seitdem markiert dieses Bekenntnis die Mitte unserer Gesellschaft, auch wenn von Keynes bis Hayek immer wieder daran gerüttelt wurde. Auch jetzt, angesichts der bevorstehenden großen Aufgaben in der Pandemie, bei der Nachhaltigkeit und bei der Digitalisierung unseres Gemeinwesens diskutieren wir wieder, ob wir mehr Liberalismus oder mehr Dirigismus brauchen. Aber aus der Erfahrung der Jahre des Wiederaufbaus kann ich darauf nur antworten: wir brauchen vor allem mehr Zuversicht, mehr Anstrengungsbereitschaft und daraus folgend mehr Initiative.
Wir brauchen eine Revolution in unseren Köpfen, die weiter reicht als der vom damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog geforderte „Ruck“. Es ist immer falsch, Epochen miteinander zu vergleichen, aber wir brauchen so etwas wie die Zukunftseuphorie dieser Nachkriegs-Ära. Es muss ja nicht gleich ein Wirtschaftswunder sein. Oder ja, eigentlich doch.
Erinnert sich noch jemand, mit welch hohen Erwartungen wir auf das Jahr 2000 geblickt haben: Alles was modern klingen sollte, wurde mit der Zahlenkombination 2-0-0-0 verknüpft. 2000 und ebenso das magische Jahr 2001, in dem wir nach Arthur C. Clarke den Jupiter mit einem KI-gestützten Sternenschiff erreichen sollten, waren der Fixpunkt unserer Zukunftsplanung. Kaum etwas haben wir davon wirklich erreicht. Am Ende wird von der Jahrtausendwende nur der Y2K-Bug übrigbleiben. Und auch unsere Performance in den beiden darauffolgenden Jahrzehnten war nicht wirklich von Zuversicht geprägt. Stattdessen haben wir uns eingeigelt. Cocooning nannte das die amerikanische Trendforscherin Faith Popcorn. Heute erleben wir, wie die eigene Echo-Blase auch noch intellektuelles Cocooning hinzufügt. Wir hören nur noch, was wir selbst in die sozialen Medien hineinblasen.
Die Revolution in unseren Köpfen ist längst überfällig. Sie muss unseren Blick auf das Mögliche schärfen und uns davon befreien, lediglich das Nötige zu tun. Wir können die Maßnahmen zu mehr Nachhaltigkeit und Klimaschutz als notwendiges Übel betrachten. Wir könnten aber auch darin einen sehr großen Innovationsimpuls erkennen, den zu wagen es lohnt, weil wir dadurch nicht nur das Klimaproblem lindern, sondern auch unsere Wirtschaft wettbewerbsfähiger machen. Mit dieser Sichtweise kann es uns übrigens egal sein, ob der deutsche Beitrag zum Klimaschutz ausreicht, während China und die USA weiter CO2 in die Atmosphäre blasen. Aber wir könnten zumindest einen neuen Exportschlager haben.
Wir könnten auch bei digitalen Plattformen mit den USA gleichziehen, wenn wir unsere Engstirnigkeit beim übertriebenen, weil missverstandenen Datenschutz aufgäben. Und wir könnten in der deutschen Kernbranche, der Automobilindustrie, wieder weltweit führend werden, wenn wir die Elektromobilität mit Visionärem anreicherten, statt bei Batterien, Connected Cars und alternativen Antrieben nur hinterherzufahren. Wir könnten – wenn wir bloß nicht so schlecht im Revolution-Machen wären.
In diesem Sinne wünsche ich allen besinnliche Tage „Zwischen den Jahren“ und zugleich einen guten, zukunftsgewandten Start ins neue Jahr.