Virales Industriemarketing 4.0

„Kennen Sie den?“ – So leiten veritable Witzeerzähler gerne ihren nächsten „Ankommer“ ein. Die Einleitungsfrage ist der Erfahrung geschuldet, dass sich Witze in der Gesellschaft viral bewegen. Sie tauchen plötzlich auf, sogar an mehreren Stellen gleichzeitig, und pflanzen sich über die „geborenen Witzeerzähler“ fort, während diejenigen, die sich einfach keine Witze merken können, sozusagen immun sind gegenüber dem Lachvirus, und den Zwerchfellerreger einfach nicht weiterleiten können…

„Kennen Sie Industrie 4.0?“ ist eine Fragestellung, mit der landauf landab Seminare und Workshops oder auch Sonderpublikationen in Fachblättern eingeleitet werden. Und zwangsläufig folgen dann Zukunftsszenarien, die von Zukunftsforschern und Business-Process-Optimierern erzählt werden. Auch das ist prinzipiell ein viraler Prozess. Nur – er findet in einem extrem begrenzten Zirkel statt, in dem sich andere Zukunftsforscher, Business-Process-Optimierer, Logistik- und Produktions-Manager großer Konzerne tummeln. Und manchmal verirrt sich auch ein Mittelständler in diese Kreise. Aber er ist immun und erzählt die Industrie 4.0-Szenarien einfach nicht weiter. Blondinen erzählen ja auch in der Regel keine Blondinen-Witze weiter…

Aber Industrie 4.0 ist kein Witz! „Der deutsche Mittelstand verhält sich dem Thema Industrie 4.0 gegenüber noch immer eher vorsichtig bis reserviert“, befand jetzt Prof. Dr. Michael Henke, Institutsleiter des Fraunhofer IML bei der Vorstellung einer in Zusammenarbeit mit agiplan erstellten Studie über die Chancen und Möglichkeiten der allumfassenden Digitalisierung. Dem Mittelstand rief sein Institutsleitungskollege Prof. Dr. Michael ten Hompel auf der gleichen Veranstaltung letzte Woche zu: „Wir halten alle Basistechnologien für die vierte industrielle Revolution in unseren Händen. Wir brauchen nur den Mut, sie endlich in Produkte und Geschäftsmodelle umzusetzen.“

Aber genau hier zeigt sich das Kommunikations-Dilemma des viralen Industriemarketings 4.0. Denn tatsächlich geizt die Studie nicht mit Optionen. Ob im vernetzten Heim, in der intelligenten Stadt, in der digitalisierten Produktion, in der integrierten Logistik oder in der multi-direktionalen Kundenkommunikation – überall lassen sich enorme Einsparungs-, Optimierungs- und Qualitätspotenziale schöpfen. Und keiner wird davon so unmittelbar profitieren wie der moderne Mittelstand. Der Grund: In den kleinen und mittleren Unternehmen sind die Entscheidungs- und Durchsetzungsprozesse so kurz, so schnell, so zielgerichtet. Im Konzern mit seinen Abstimmungs- und Widerspruchsgremien tun sich die Entscheider deutlich schwerer. Deshalb sprechen sie auch mehr darüber.

Mittelständler sind keine großen Kommunikatoren – sie schauen und schaffen nach innen, nicht nach außen. Die Pointe an Industrie 4.0 besteht darin, dass die ganz große Vision, die in den Expertenzirkeln diskutiert wird, zu mächtig, zu allumfassend ist, um virale Fahrt aufzunehmen. Die Details aber – hier ein Prozessfortschritt, dort ein Integrationsschritt und drüben eine Digitalisierung bisheriger analoger Vorgänge – finden im Mittelstand sehr wohl ihre Umsetzung. Jeden Tag, an jedem Standort in Deutschland. Aber der Mittelständler ist nun mal kein Weitererzähler. Er optimiert, während andere diskutieren.

Und am Ende dieses Prozesses gibt es für ihn nur eine Antwort auf die Frage „Kennen Sie Industrie 4.0“ – nämlich ein gelangweiltes „Das hat so´n Bart!“

 

Mainframe, dein Frame, Cloud-Frame

Es ist ja keineswegs so, dass die Dinosaurier ausgestorben sind – sie haben nur einfach ein neues Konzept umgesetzt, und ihre Nachfahren bevölkern als Vögel unseren Himmel. Sie haben sich sozusagen vom Boden in die Wolken erhoben…

Es ist auch keineswegs so, dass die Mainframes ausgestorben sind – sie haben nur einfach ein neues Konzept umgesetzt, und ihre Nachfahren leisten heute Schwerstarbeit in der Cloud.

Erstaunliche zwei Drittel des weltweiten Datenbestands in eCommerce- oder eBusiness-Anwendungen werden heute auf Speichersystemen gesammelt, die von Mainframes angesteuert werden. Gut 90 Prozent der 200 größten Unternehmen in Deutschland setzen unverändert auf Großrechner, um ihre Geschäftsprozesse zu steuern. In den USA dürfte der Anteil trotz der Technikverliebtheit der dortigen IT-Manager sogar noch größer sein.

Der Grund: Die Kosten pro Anwender sind deutlich geringer als bei Serverfarmen. Allerdings – und das ist der zweite Grund: Mehr als die Hälfte der Anwendungen auf den Mainframes hat mehr als 20 Jahre auf dem Software-Buckel. Und da diese Applikationen auch noch durchaus im produktiven Einsatz sind, nutzen sie auch etwa die Hälfte der zur Verfügung stehenden Rechnerzeit. Es ist die Software, die veraltet, während die Hardware durch kontinuierlichen Austausch jung bleibt.

Genau darin liegt das Problem für viele internationale ERP-Anbieter, die in den achtziger und neunziger Jahren zu Weltruhm gelangten, weil sie mit ihren Lösungen die Globalisierung der Konzerne beförderten und Software-Architekturen entstehen ließen, die nur mit erheblichem Upgrade-Aufwand auf einem Modernisierungspfad gehalten werden können. Über kurz oder lang steht für jeden CIO die Frage an: aushalten oder abschalten.

Die Lösung aus diesem Dilemma wird immer häufiger in der Totaloperation liegen: neue ERP-Lösungen, die auch einem geänderten Nutzungsverhalten entsprechen, werden die Altsysteme ablösen. Sie sind mit webbasierten Oberflächen, die vom PC-Arbeitsplatz bis zum Smartphone flexibel unterschiedlichste Endgeräte bedienen, ausgestattet und haben zugleich jene Offenheit, neue Megatrends wie Big Data, Predictive Analytics oder die Digitalisierung des Produktions-, Distributions- und Kommunikationsprozesse umzusetzen. Spätestens wenn die Altsysteme auch beim besten Willen nicht mehr den Marktprozessen und den Anforderungen an Transparenz entsprechen, wird es Zeit, software-technisch noch mal von vorne anzufangen.

Das wird der Moment sein, in dem Cloud-Computing auch im ERP-Umfeld seinen Durchbruch erlebt. Schon heute ist bei weltweit tätigen Unternehmen der Unterschied zwischen Cloud und Hosting im Prinzip kaum noch auszumachen – außer in der Frage, wer nun der Eigentümer der Infrastruktur ist. Das aber hat derzeit durchaus rechtliche Konsequenzen, wie die Debatte um NSA-Auslieferungsanträge für gespeicherte Daten, die auf von US-amerikanischen Unternehmen betriebenen Servern residieren, zeigt. Es hat aber auch Konsequenzen in der Frage, wer für die erheblichen Kosten fürs Systemmanagement aufkommen soll. Derzeit, so geben die globalen CIOs in Studien immer wieder zu Protokoll, fressen die Verwaltungsaufgaben bis zu drei Viertel des gesamten IT-Budgets. Schön, wenn sich das demnächst in die Cloud verflüchtigen würde.

Die Cloud ersetzt nicht den Mainframe, sondern die Software, die derzeit darauf läuft. Denn auch in den Data Centern der Cloud Provider wird mit Größtrechenanlagen gearbeitet – für viele Tausend Kunden gleichzeitig. Ein Mainframe in der Cloud ist immer noch ein Mainframe. Er ist nur irgendwie in die Wolken davongeflogen.

Die Grenzen des Wachstums

Es ist eine faszinierende Duplizität der Ereignisse (oder eher der Ursachen), die Google ausgerechnet in der Woche ihre fundamentale organisatorische Neuausrichtung verkünden lässt, in der Chinas Zentralregierung die Finanzmärkte mit einer ebenso fundamentalen währungstechnischen Neuausrichtung konfrontiert. Die Abwertung des Yuan/Renminbi durch Chinas Zentrale Notenbank ist ein ebensolcher Paukenschlag wie die Abwertung von Google durch Google.

In beiden Fällen ist die Ursache nahezu identisch – zumindest strukturell. Zwar haben weder China noch Google die Grenzen des Wachstums erreicht, aber wohl doch zumindest einen Schwellenwert, hinter dem es schwieriger wird, das bisherige Wachstumstempo beizubehalten. In beiden Fällen ist das sogenannte „low hanging Food“ der leicht zu erzielenden Wachstumspotenziale abgearbeitet. Was jetzt kommt ist Wachstum bei größeren Investitionen und kleineren Margen.

Chinas stürmisches Wachstum basiert darauf, dass es gelungen ist, innerhalb von nur einer Generation rund 400 Millionen Menschen in einen mit dem westlichen Niveau vergleichbaren Wohlstand zu katapultieren. Daraus entstand eine Kaufkraft, die auch die Phantasien westlicher Konsumgüterproduzenten (einschließlich der Automobilindustrie) lange Zeit beflügelt hat. Damit ist vorerst Schluss, denn es dürfte unendlich viel schwieriger werden, die infrastrukturellen Voraussetzungen zu schaffen, um der eine Milliarde Menschen großen ländlichen Bevölkerung Chinas einen vergleichbaren Lebensstandard zu bescheren. Deshalb soll nun nicht der Konsum ausländischer Waren, sondern der Export eigener Produkte gefördert werden.

Googles sagenhaftes Wachstum basiert darauf, dass es gelungen ist, innerhalb von nicht einmal zwei Dekaden rund einer Milliarde Menschen in den Industriestaaten einen Informations-Wohlstand zu bescheren, der durch die disruptive Kraft der Digitalisierung kontinuierlich beflügelt wurde. Aber mehr googlen als googlen geht nicht. Nach dem Ende des Wachstums bei den Werbeeinnahmen auf stationären Rechnern ist auch das Ende des Wachstums im mobilen Sektor in Sicht – es sei denn, es gelingt tatsächlich, die infrastrukturell unerschlossenen Gebiete Afrikas, Südamerikas und Asiens zu erschließen. Genau das soll mit der Super-Drohne Wings gelingen, die aus nichts als aus Flügeln und Sendekapazitäten besteht und monatelang über ansonsten Internet-freien Zonen kurven soll.

Aber die Entwicklung von Wings verlangt ein anderes unternehmerisches Engagement als der Ausbau von Suchmaschinen. Auch der Test und Betrieb von autonom-fahrenden Fahrzeugen – zumal wenn dies in Kooperation mit globalen Automobilmarken geschehen soll – verlangt einen anderen unternehmerischen Ansatz als das Bemühen, mit Android die Weltmarktführerschaft bei Smartphone-Betriebssystemen zu erhalten. Google Glass, die Brille mit dem Web-Durchblick, mag einfach nur ein weiteres mobiles Device sein – aber die Iterationsschritte, die offensichtlich noch nötig sind, um daraus das nächste ganz große Ding zu machen, verlangen die Spürnase eines Startup-Gründers, nicht die festgezurrten Prozesse eines Weltmarktführers.

China und Google haben in der vergangenen Woche jeweils nach dem Management-Trick der ersten Wahl gegriffen. China hat seine Wirtschaft gestärkt, indem es seine Währung klassisch einseitig abgewertet hat. Google hat sich mit Alphabet eine Holdingstruktur gegeben, in der Google nunmehr nur noch ein Teil ist. Die Cashcow wird von nun an anders gemanagt als die Versuchslabore, Entwicklungsprojekte oder die vielversprechenden Geschäftsideen, wie die Suche nach lebensverlängernden Maßnahmen und Mitteln unter dem Namen Calico oder Nest Labs, wo die Tools für das vernetzte Eigenheim entstehen.

Noch ist unklar, ob die Holding lediglich lose gekoppelte Einheiten vereinen soll, die getrennt marschieren und vereint erfolgreich sein sollen. Oder ob es sich um eine horizontal vernetzte Holding handeln wird, in der Kapital und Personal untereinander akkumuliert, ausgetauscht oder gar abgeworben werden kann. Beides kann funktionieren – und in beiden Fällen kann aus den Google-Schwestern das nächste ganz große Ding entstehen. Die Grenzen des Wachstums wären dann wieder einmal ein Stück weiter nach oben verschoben.

 

Beim Download, Schulterblick!

Microsoft wird in diesen Tagen nicht müde, die millionenfachen Downloads für Windows 10 zu feiern. Wie bei einem sich selbst verstärkenden Resonanzsystem befeuern die Nachrichten über das Interesse an Windows 10 das Interesse an Windows 10. Und das ebenfalls millionenfache Feedback, das die Computergemeinde aus dem Internet zum jüngsten Microsoft-Betriebssystem erfährt, trägt ebenfalls zum Hype bei. So geht virales Marketing.

Aber genau so soll Windows 10 auch künftig – nach dem Download-Hype, nach dem Auskurieren der schier unvermeidlichen Kinderkrankheiten – auch funktionieren: ein bisschen viral. Denn man darf nicht vergessen, dass Windows 10 beides ist: ein PC-Betriebssystem und ein Cloud-orientiertes Operating System. Es nutzt Funktionen und Services aus der Cloud und merkt sich deshalb bestimmte Aktivitäten der Anwender, um besser oder zumindest zielgerichteter agieren zu können.

Nur, auf wessen Ziele ist Windows 10 eigentlich ausgerichtet? Dass Microsoft Windows 10 zum freien Download ins Web stellt, ist alles andere als Altruismus. Ein neues Produkt einfach aus Gutmenschentum ohne eine Chance auf Umsatzwachstum in den Markt zu pressen, würde jeder rationalen unternehmerischen Denkweise widersprechen. Auch ist der Download for Free keineswegs eine Verzweiflungstat, mit der Microsoft etwa versuchen könnte, verlorengegangenes Terrain wiedergutzumachen. Windows 10 ist im Download kostenfrei, weil Microsoft in der Lage ist, über die Cloud-Funktionen anderswo Geld zu verdienen. Zum Beispiel bei Online-Anzeigen, die – weil nun stärker personalisiert – künftig für Microsoft ein Umsatzwachstum von mehr als zehn Prozent in dieser Sparte bringen sollen.

Kurz gesagt: Windows 10 ist ein bisschen vergoogled. Wer etwa durch sein Surfverhalten deutlich macht, dass er glühender Anhänger des 1. FC Köln ist, wird über die integrierten Search Engines wie Bing oder die Sprachauskunft Cortana mit Fanware-Angeboten rund um die Geißbockelf versorgt und umgekehrt vom Merchandising rund um Bayern München verschont. Wer sich über Staus auf dem Weg ins Rheinenergiestadion informieren will, muss damit leben, dass Windows 10 wissen will, wo man sich gerade befindet. Was zunächst trivial klingt, könnte durchaus weiter reichende Folgen im beruflichen Umfeld haben.

Es geht wie so oft in der Cloud wieder mal um Vertrauen. Microsoft versichert in seinen Geschäftsbedingungen zur Private Policy, dass Content gesammelt, aber anonymisiert gespeichert werde. Auch die Windows-ID, über die diese Content-Ergebnisse über PC und Smartphone synchron gehalten werden, sollen unabhängig von den persönlichen Daten gespeichert werden. Aber dies kann man glauben oder auch nicht. Wenn nicht, sollte man sich die Mühe machen, die insgesamt 13 Privacy-Einstellungen Menü für Menü zu deaktivieren – und damit leben, dass Windows 10 weniger Komfort bietet. Tatsächlich aber schaut Windows 10 kaum intensiver über die Schulter als beispielsweise Android. Neu ist allenfalls, dass dieses Geschäftsgebaren nun auch für den mit dem Web verbundenen PC gilt. Aber war das nicht auch schon immer so?

Schon mehren sich die Zweifel, ob sich Windows 10 mit diesen Features überhaupt in jedem beruflichen Umfeld einsetzen lässt. Im Gesundheitswesen beispielsweise reicht es nicht, nur darauf zu vertrauen, dass die personenbezogenen Daten geschützt bleiben. In einem stark wettbewerbsorientierten Umfeld ist es eben nicht egal, dass Windows 10 den Content mitschreibt – und das auch schon, während die Worte eingetastet oder gesprochen werden. Wer Windows 10 Enterprise im Unternehmen einführen will, sollte zunächst eine Risikoanalyse machen. Aber das sollte inzwischen sowieso bei jeder cloud-basierten Einführung der Fall sein.

Microsoft späht uns nicht aus – da bin ich mir persönlich sicher. Zumindest nicht mehr, als das Google und Facebook auch tun. Wir müssen uns nur darüber im Klaren sein: Ein bisschen Schulterblick ist immer.