SAPperlot!

Es hat schon viele Würdigungen für SAP zum 50. Geburtstag – offiziell am 1. April, faktisch wohl aber einiges früher – gegeben. Warum also jetzt noch eine? Weil sich offensichtlich kaum einer der Gratulanten so richtig an die Zeit vor einem halben Jahrhundert erinnert – teils, weil die Laudatoren selbst diese Zeit nicht erlebt haben, teils aber auch, weil die IT-Branche eine schrecklich geschichtsvergessene Gesellschaft ist. Hier deshalb die notwendige SAP-Würdigung von einem, der (fast) von Anfang an dabei war – und unter der SAP genauso gelitten hat, wie er sie bewundern musste. Aber – diese Pointe sei schon einmal vorweggenommen – die Bewunderung ist längst in Frustration wegen so vieler verdaddelter Chancen umgeschlagen. Aber – und das ist wieder irgendwie versöhnlich – in diesem Sinne ist SAP ein Spiegelbild der Deutschen. Oder ist das jetzt nicht sogar noch frustrierender?

Rücksturz ins Jahr 1972: Ostverträge und Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR; die Olympischen Spiele in München und der schreckliche Anschlag auf die israelischen Athleten; Wiederwahl für Willy Brandt und Richard Nixon; das Wahlalter in Deutschland wird von 21 auf 18 Jahre gesenkt und in Cape Canaveral startet mit Apollo 17 zum letzten Mal eine bemannte Mission Richtung Mond. – Oder erklärt man das Jahr 1972 besser über das, was es damals nicht oder nicht für jeden gab: Computer oder auch nur Zeit am Computer, Computerprogramme, kabelloses oder mobiles Telefonieren, Datenbanksysteme, Laptops,, Tablets, Smartphones, Internet, World Wide Web, eCommerce oder gar die Cloud. Obwohl die Cloud gab es in gewisser Weise schon, weil Anwender, die Zugriff auf einen Computer haben wollten, sich ein Zeitfenster bei einem Service-Rechenzentrum buchen mussten.  Time Sharing nannte man das damals.

In dieser Zeit machten sich die Gründer Dietmar Hopp, Hasso Plattner, Claus Wellenreuther, Klaus Tschira und Hans-Werner Hector daran, ein eigenes Computerprogramm für die deutsche Niederlassung von Imperial Chemical Industries (ICI) zu entwickeln. Ein Kunde wie ICI war wichtig, weil es ohne das Rechenzentrum des Kunden keinen Computer für die Software-Entwicklung gab. Man saß an Computerausdrucken auf Endlospapier, korrigierte die Programmierfehler, aktivierte das Ganze noch einmal – Debuggen war eine Arbeit für Menschen, die bereit sind, sich einer Sache voll und ganz zu verschreiben.

Aber – und dieser Teil der Geschichte wird gerne unterschlagen – verschrieben hatten sich die fünf Gründer zunächst dem Nonplusultra der Informationstechnik, die damals noch ADV oder Angewandte Datenverarbeitung hieß, nämlich der Internationalen Büromaschinen GmbH, dem deutschen Ableger der US-Amerikanischen IBM. Die hatte soeben im Antitrust-Verfahren der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft verloren und musste die Preise, die sie für Rechnerzeit und Programmierstunden in Rechnung stellte, offenlegen. Als die fünf IBM-Programmierer die Zahlen sahen, wussten sie, dass sie künftig die Ausbeutung durch IBM lieber mit der Selbstausbeutung ihrer intellektuellen Leistung ersetzen wollten. So wurde die „SystemAnalyse Programme“ gegründet. Ihr innovativer und sogar in gewisser Weise disruptiver Ansatz bestand darin, Individualprogrammierung nach und nach in Standardprogramme weiterzuentwickeln. Die Idee des Standardvertriebs anstelle des „Body-Leasings“ war geboren.

Nur wenige Unternehmer haben damals diesen Schritt gewagt, auf der Basis von gemieteten Großrechnern der IBM /370-Architektur eine Computerprogrammierung zu beginnen, die in Standards münden sollte. Die schon zehn Jahre früher, also 1962, in Wilhelmshaven gegründete ADV/Orga war in den Siebzigern zwar größer als die SAP, wuchs aber mit Spezialaufträgen für die Marine. Der Nachteil: Keine Standards, keine Skaleneffekte. Anders die SAP: Ihre Lösungen vertickten die Gründer bei praktisch allen DAX-Unternehmen.

Nicht jedoch im Mittelstand, der sich Rechnerzeit auf einem Großrechner der IBM /370-Architektur gar nicht leisten konnte, geschweige denn einen eigenen Mainframe in den Keller stellen konnte. Das änderte sich erst, als IBM mit den Strich-Drei-Systemen Hardware für kleine und mittlere Unternehmen die Chance auf eigene „EDV“, wie das inzwischen hieß, eröffnete. Damit explodierte die Software-Szene, weil viele Unternehmer, darunter zahlreiche Ex-IBMer, die Chance für Standardsoftware im Mittelstand erkannten. Ihr Geheimnis: Sie setzten die Branchen-Spezialitäten minutiös um und erwarben sich so eine Nische.

So trat ich 1980 mit Lösungen für die pharmazeutische Industrie in die Software-Szene ein – und traf immer wieder auf die exzellente Finanzsoftware der SAP. Es wäre ein smarter Move gewesen, damals die beiden Lösungen – Finanz hier, Branchenkompetenz dort – miteinander zu verbinden. Doch SAP beanspruchte den ganzen Kuchen. So wurden wir Wettbewerber.

Doch die Branchenkompetenz in zahllosen mittelständischen Einzelbranchen ist nicht so einfach abzubilden. Als die IBM mit dem Midrangesystem AS/400 überraschend breiten Erfolg hatte, musste etwas geschehen. SAP bot den inzwischen Hunderten branchenorientierten Softwareunternehmern einen Deal an: die Selbstentleibung. Wer seine eigene Lösung zugunsten des künftigen Supports von SAP im Mittelstand vernachlässigte, würde alle Segnungen des größten deutschen Softwarehauses genießen: Internationalität, Marketing, Vertrieb und – den Nachbau der eigenen Lösungen. So wurde SAP zur Weltmacht, während sich in der deutschen Software-Szene ein Exodus ereignete. Im Midrange-Sektor entstand deshalb nie ein deutscher Anbieter mit Weltbedeutung.

Doch inzwischen gab es Personal Computer und damit wieder eine völlig neue Infrastruktur. Und wieder schaffte es die SAP, die eigene Großrechner-Architektur in die neue Welt zu verlagern. Das wiederholte sich bis in die Neuzeit noch einige Male: Internet, Workplaces, mobile Devices, flexible Geschäftsprozesse – die Liste ist endlos und die Zahl der Adaptionen durch SAP auch. Doch als die Cloud am Horizont auftauchte, musste irgendwas mit dem Erneuerungswillen innerhalb der SAP passiert sein, das den nötigen Erneuerungswillen in Walldorf gebrochen hat. Seitdem läuft SAP dem Weltgeschehen hinterher, statt ihm voranzugehen. Aber auch hier gilt: Es entstand nie ein neuer deutscher Anbieter mit Weltgeltung.

Dabei hätte alles ganz anders laufen können. Mit Business by Design bot SAP plötzlich eine völlig neue Architektur an, die zudem Cloud-geboren war und für kleine und mittlere Unternehmen ebenso attraktiv gewesen wäre, wie für globale Konzerne. Doch die modernste aller SAP-Architekturen erhielt nie die funktionalen Weihen der großen Standardprogramme von R/3, All-in-One, SAP ERP oder dem heutigen S/4 Hana. Ich selbst habe damals den letzten Versuch unternommen, Business by Design mit den Branchenfunktionen aus meinem Haus zu verknüpfen und musste feststellen, dass die Beharrungskräfte in der SAP stärker schienen als die Innovationspotenziale. Das war der Moment, wo die SAP aus meiner Sicht den Wettlauf in die Cloud verloren hat. Seitdem ist sie – auch wegen der milliardenschweren Investitionen in eine weltweite Infrastruktur an Data Centern – ins Hintertreffen geraten.

Der Wechsel in die Cloud ist weniger eine technische als vielmehr eine vertriebstechnische und damit bilanzielle Herausforderung. Denn wenn sich Umsätze vom Verkaufen ins Vermieten verlagern, dann sinken die Einnahmen zunächst, ehe sie exponentiell anwachsen. Mittelständische Softwareanbieter können dieses dreijährige „Tal der Tränen“ angesichts der dünnen Finanzdecke kaum überstehen. Startups, die von Anfang an auf dieses Modell setzten, aber schon. Deshalb sitzt SalesForces als Pionier der cloud-basierten Unternehmenslösung allen etablierten Anbietern im Nacken. Microsoft hatte mit Dynamics 365 eine Antwort bereit. Andere aber lange nicht.

Aber SalesForce brachte noch eine weitere Innovation, wenn nicht Disruption: Fehlende Funktionen, vor allem wenn sie branchenspezifisch waren, ließ die Company einfach von der User Community entwickeln. Das war in Walldorf undenkbar, wo die alte Software-Architektur gehütet wurde wie der Schatz der Nibelungen. Und dieses Beharrungsvermögen zieht sich bis heute fort.

Mir geht es nicht darum, Aktienkurse, Quartalsumsätze oder Gewinneinbrüche angesichts der Russland-Sanktionen oder Lieferketten-Probleme zu kommentieren. Mir geht es darum, deutlich zu machen, wie das einzige deutsche Softwarehaus von Weltruhm diese Position aufs Spiel zu setzen beginnt, weil es zu lange auf sich, auf seine Vergangenheit und damit auf seine Beharrungskräfte schaut, statt auf sein Innovationspotenzial. Es ist so, wie die Anwendergemeinde inzwischen unkt, dass SAP sich zum 50. Geburtstag selbst das größte Geschenk macht und sich organisatorisch und technisch völlig erneuert. Anregungen von NewUps und Startups gibt es genug.

Am Ende bleibt aber doch ein „Sapperlot“ als Ausruf der Anerkennung, das allerdings der Vergangenheit gewidmet ist. Ich fürchte aber, dass die Nachrichten über „SAP in Not“ doch künftig häufiger die Schlagzeilen prägen werden, wenn wir in Deutschland technisch und wirtschaftlich nicht die überfällige „Zeitenwende“ einläuten. SAP kann dazu beitragen – oder getragen werden.

Unabhängig davon entbiete ich den Gründern meinen Respekt – auch dafür, was sie inzwischen durch ihre Stiftungen an notwendigem Innovationspotential gefördert haben.

Mein Michel, was gibst du noch her?

Ausgerechnet Anton Hofreiter! Der gelernte Biologe und Grüne Vorsitzende des Ausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union, der in Interviews so rüberkommt, als könne er noch nicht einmal ein Osterlamm opfern, fordert jetzt, dass die deutsche Bundesregierung schwere Waffen an die Ukraine liefert. Konkret schlägt er vor, 20 bis 30 funktionsfähige Marder-Schützenpanzer aus Bundeswehr-Beständen zu liefern und die bei Rheinmetall stehenden 70 ausgemusterten Panzer innerhalb weniger Wochen ertüchtigen, aufarbeiten und der Ukraine zur Verfügung stellen zu lassen. Ein für grüne Politiker unglaublicher Vorgang!

Ausgerechnet Frank-Walter Steinmeier! Der soeben wiedergewählte Bundespräsident, der in Interviews so wirkt, als verkünde er die frohe Botschaft zu Ostern von der Kanzel des Berliner Doms, bekommt gerade die gesamte Breitseite des ukrainischen Shitstorms wegen seiner Russlandpolitik ab, die sich zwar im Nachhinein als Fehler erwiesen haben mag, zu seiner Zeit aber durchaus die utiima ratio der deutschen Entspannungspolitik gewesen war. Das machte das deutsche Staatsoberhaupt  jetzt in der Ukraine zur unerwünschten Person. Ein im diplomatischen Gebrauch unerhörter Vorgang.

Ausgerechnet Andrij Melnyk! Der ukrainische Diplomat, der sich mehr und mehr vollkommen undiplomatisch als Waffen-Lobbyist geriert, wirkt in seinen Interviews und Tweets inzwischen so, als mache er die Deutschen und insonderheit die Sozialdemokratie für alles Unrecht, seit Jesus ans Kreuz geschlagen wurde, verantwortlich. An Sigmar Gabriel gewandt, der sich vor Steinmeier geworfen hatte, twitterte er jetzt:  „Bösartig ist vor allem Ihre und Ihrer SPD-Kumpane jahrelange Putin-freundliche Politik gewesen, die den barbarischen Vernichtungskrieg gegen den UAStaat, UANation, UAKultur, gegen UAFrauen & Kinder erst herbeigeführt hat.“ Ein unmöglicher Vorgang!

Und so drängt sich allmählich das Bild auf von einem, der in die Hand beißt, die ihn füttert. Immerhin ist die Liste deutscher Waffenlieferungen an die Ukraine schon 300 Millionen Euro schwer. Und es würde wohl nicht zur Beruhigung der Gemüter beitragen, wenn man Melnyk jetzt an seinen Besuch am Grab des NS-Kollaborateurs Stepan Bandera erinnerte, den er 2014 sehr zum Missfallen der damaligen Bundesregierung als „unseren Helden“ bezeichnet hatte.

Die Nerven liegen blank angesichts des verbrecherischen Überfalls Putins auf die Ukraine. Und diese Nervosität zieht sich inzwischen auch durch die deutsche Wirtschaft. Denn…

Ausgerechnet Rainer Dulger und Reiner Hoffmann! Der Vorsitzende des Arbeitgeberverbands BDA, Rainer Dulger, und der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Reiner Hoffmann, die ansonsten eher konträre Positionen vertreten, warnen in einer gemeinsamen Presseerklärung über dpa vor einem verfrühten und (für die deutsche Wirtschaft) riskanten Gasboykott. Anlass zu dieser konzertierten Aktion gab wohl die Tatsache, dass sich in der deutschen Bevölkerung allmählich eine Mehrheit für diese Maßnahme findet – obwohl niemand wirklich abschätzen könnte, wie groß der Schaden für Russland oder umgekehrt für Deutschland wäre.

Es wird höchste Zeit für Fakten:

Die Gasmillionen aus dem Westen finanzieren den russischen Krieg nicht! Putin bezahlt seine Soldaten in Rubel, die der Kreml jederzeit nachdrucken kann. Für Öl und Gas braucht Russland keine Devisen. Sicher ist aber, dass die deutsche Wirtschaft schon jetzt unter den hohen Energiekosten ächzt.

Die Sanktionen sollten eigentlich dem russischen Staat den Zugriff auf Hochtechnologie verwehren, mit der er seine Armee nachrüsten könnte. Doch einerseits findet die russische Wirtschaft nach und nach Alternativen im Land und andererseits gibt es mit China und anderen noch immer Länder, die diesen Boykott nicht nur nicht unterstützen, sondern auch für sich nützen.

Die deutschen Marder wären zwar in anderthalb Monaten lieferbar, doch ob sie auch von ukrainischen Soldaten genutzt werden können, ist eine Frage der Ausbildung, die noch einmal sechs Wochen dauern würde. Wäre eine solche Ausbildungstätigkeit – wenn nicht schon die Lieferung von schwerem Kriegsgerät – nicht als Eingreifen zu werten? Niemand könnte Putin daran hindern, dies so zu sehen und den Krieg in die Nato auszuweiten. „Deutsche Berater“ in der Ukraine – das wäre dann der ultimative „Marder-Schaden“.

Und schließlich – vom Ende her gedacht: Würden Waffenlieferungen und Gasboykott tatsächlich das Ende des Krieges beschleunigen? Wohl kaum. Es ist zu befürchten, dass ein in die Enge getriebener Putin zu immer katastrophaleren Mitteln greifen wird – aber keinesfalls zu einem Verhandlungsfrieden, bei dem er das Gesicht verliert. Auch die schlimmen Gräueltaten und Kriegsverbrechen, die die Russen an der ukrainischen Bevölkerung verüben, können so nicht verhindert werden. Der Ukraine-Krieg wird in einen Guerillakrieg übergehen. Das gilt es zu unterstützen, denn einen asynchronen Partisanenkrieg kann die stärkere Partei nicht gewinnen.

Meine Osterbotschaft lautet: Es wäre falsch, schweres Gerät zu versenden, ukrainische Soldaten an ihnen auszubilden und uns gleichzeitig selbst den Gashahn zuzudrehen. Wir müssen der Versuchung widerstehen, Kriegspartei zu werden. „Du hast Bataillone, Schwadronen, – Batterien, Maschinengewehr, – du hast auch die größten Kanonen… – Mein Michel, was willst du noch mehr?“ lautet ein deutsches Antikriegslied, das Kurt Tucholsky zugeschrieben wird. Diese Frage wird heute durch ein 100 Milliarden Euro großes Sondervermögen beantwortet. Die Stimmung kippt allmählich gefährlich zugunsten der Waffenexporteure und Säbelrassler, denen das Bisherige nicht genügt: „Mein Michel, was gibst du noch her?“

PS: Ich bin am 9. Mai 1945 geboren – in der ersten Stunde des Friedens.

PPS: Dies ist kein russlandfreundlicher Beitrag. Ich bitte also von Zuschriften aus den Reihen der Querdenker und Russlandversteher abzusehen.

Unzufrieden mit den „Bazooka Boys“

Gegen die Pandemie-Folgen hatte der damalige Bundesfinanzminister Olaf Scholz die – wie er es selbst nannte – „Bazooka“ herausgeholt. Wer im ersten Lockdown 2020 als kleines Unternehmen oder Selbstständiger Liquiditätsengpässe hatte, sollte mit bis zu 15.000 Euro vom Bund schnell Hilfe bekommen. Die Soforthilfe verzögerte sich allerdings im Dschungel der Bürokratie und hat jetzt – da viele Empfänger ihre Hilfe nun zurückzahlen sollen – einen üblen Nachgeschmack.

Seitdem hat es eine Reihe weiterer Bazookas gegeben: Allen voran die „Bundeswehr-Bazooka“, mit der das deutsche Militär eher ausgerüstet als aufgerüstet werden soll. Von warmer Unterwäsche bis zu waffenfähigen Drohnen ist die Bestellliste umfangreich. Gleichzeitig soll eine Reform des Bestellwesens sicherstellen, dass neues Gerät nicht nur zeitnah eingekauft werden kann, sondern Gelder nicht in den Mühlen der Bürokratie des Bundeswehrbeschaffungsamtes in Koblenz versickern. Und inwieweit die ausgelobten 100 Milliarden Euro der „Bundeswehr-Bazooka“ zusätzlich zu den Rüstungsaufwendungen von mindestens zwei Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts gesehen werden oder doch in ihnen aufgehen, bleibt im nebulösen Politsprech verborgen.

Kurz darauf sollte mit dem Energiekosten-Entlastungspaket die nächste Bazooka gezündet werden, die vor allem privaten Verbrauchern finanziell unter die Arme greifen soll. Zu den Maßnahmen gehören neben der einmaligen Energiepauschale von 300 Euro ein verbilligtes ÖPNV-Ticket, weitere 2100 Euro pro Kind für Familien und weitere Einmalzahlungen für „Empfangende von Sozialleistungen“, wie es gendergerecht im Bundesfinanzministerium heißt. Der Nachteil: bisher sind diese Entlastungen noch nicht auf den Weg gebracht.

Auch die Bazooka namens Steuerentlastungsgesetz 2022 wirkt erst später – auch wenn das Gesetz rückwirkend ab dem 1. Januar gilt und den Arbeitnehmerpauschbetrag auf 20 Prozent auf 1200 Euro sowie den Grundfreibetrag auf 10347 Euro anhebt, während die Entfernungspauschale ab dem einundzwanzigsten Kilometer auf 37 festgesetzt wird, wovon also nur Fernpendler profitieren.

In beiden Fällen fühlt sich der Mittelstand durch die Bazookas schlecht unterstützt, weil der Geldregen nicht sofort, wenn überhaupt, fließt und bei den vorgesehenen Einmalzahlungen, die über die Lohntüte ausgezahlt werden sollen, die Arbeitgeber in Vorleistung treten müssten. Deshalb ist auch bei der zuletzt gezündeten Bazooka – dem Maßnahmenpaket zur Bewältigung der Auswirkungen des Krieges in der Ukraine – die Skepsis im Mittelstand groß. Denn erstens werden die Maßnahmen wohl kaum vor dem 1. Juni die Gesetzgebungsverfahren passiert haben und zweitens befürchtet der BDI, dass die Hilfsmaßnahmen an restriktive Bedingungen wie zum Beispiel Effizienzvorgaben geknüpft sein könnten. Doch wenn der Mittelstand aus dem Würgegriff zu hohen Energiekosten befreit werden soll, muss „schnell und unbürokratisch“ wie es immer wieder gebetsmühlenartig heißt, geholfen werden.

Die „Bazooka Boys“ im Bundeswirtschafts- und -finanzministerium haben zwar das „große Besteck“ herausgeholt, doch ist es zu befürchten, dass der Mittelstand nicht mehr an die Fleischtöpfe gelangen kann, weil er vorher an den Folgen von Corona, Krieg und Kostenexplosion ersticken wird. Tatsächlich hat jeder dritte mittelständische Unternehmer nach einer – allerdings vor dem Ausbruch des Ukrainekriegs durchgeführten – Studie der Wochenzeitung „Die Zeit“ schon einmal darüber nachgedacht, die eigene Firma aufzugeben. Und aktuell unzufrieden mit den von der Bundesregierung gesetzten Rahmenbedingungen ist jeder Sechste.

Umgekehrt sieht sich der Mittelstand der Studie zufolge auch mit den eigenen Leistungen durchaus selbstkritisch. Zwar sind 95 Prozent der befragten Mittelständler überzeugt, dass ihr Unternehmen großen und positiven Einfluss auf die jeweilige Region hat und 90 Prozent sehen sich als wirtschaftliches Rückgrat der Gesellschaft. Aber fast die Hälfte (genau: 45 Prozent) gesteht ein, zu langsam auf neue Trends wie zum Beispiel die Digitalisierung zu reagieren. Und zugleich sieht sich der Mittelstand als zu introvertiert: Drei Viertel (genau: 77 Prozent) nehmen sich als in gesellschaftlichen Debatten zu leise wahr. Und 21 Prozent – also etwa jeder Fünfte – erkennt auch die unmittelbaren Folgen: Sie finden, dass dem Mittelstand die angemessene gesellschaftliche Anerkennung verweigert wird.

Letzteres sollte uns zu mehr Aktivitäten in der öffentlichen Debatte anregen. Man braucht keine „Bazooka“, um sich Gehör zu verschaffen. Und ein Beitrag in den sozialen Medien ist auch nicht so teuer, als dass hier ein „Sondervermögen“ bereitgestellt werden müsste. Es reicht, seine Meinung als Mittelständler regelmäßig zu äußern, um dem ganz persönlichen Lobbyismus zu genügen. Das Rückgrat der Gesellschaft sollte sich halt nicht nur melden, wenn es schmerzt – oder man unzufrieden ist mit den „Bazooka Boys“.

Eisenhower-Method revisited

Eine böse, böse Einmischung, zugegebenermaßen – aber die Verhältnisse, die sind halt so.

Wäre es nicht so zynisch, man müsste Wladimir Putin für den Friedensnobelpreis vorschlagen. Und für einige andere Nobelpreise – für Wirtschaft und Chemie beispielsweise – auch. Denn er macht sich gerade für einige bahnbrechende Entwicklungen stark: die Einigung und Wiedererstarkung des Verteidigungsbündnisses im Nordatlantikpakt, für den beschleunigten Ausstieg aus fossilen Energieträgern, für eine globale humanitäre Hilfe gegenüber Flüchtlingen, für eine Zeitenwende, wie Bundeskanzler Olaf Scholz es nannte, ja vielleicht sogar für das Ende der ungehemmten Globalisierung.

In der Tat: es wäre zynisch. Aber vor allem deshalb, weil es zurzeit keinen unbarmherzigeren Zyniker gibt auf dieser Welt als Wladimir Putin. Es gibt andere mit entsprechendem Potential – aber mit Ausnahme des chinesischen Präsidenten Xi keinen, der auch die Mittel für diesen angewandten Zynismus hätte, durch den dieser völkerrechtswidrige Überfall auf die Ukraine überhaupt erst möglich wurde. Dieser Zynismus gipfelt in Bombardierung auf Zivilziele, in Schandtaten gegenüber der Bevölkerung, in der Zerstörung von Krankenhäusern, Geburtshäusern und Altersheimen. Dieser Zynismus wird auf dem Rücken einer unschuldigen Bevölkerung ausgetragen. Deshalb wäre es auch zynisch, Wladimir Putin für irgendwelche Auszeichnungen vorzuschlagen.

Denn es gibt kein Richtiges im Falschen, wie Theodor W. Adorno in seiner „Minima Moralia“ ausgerechnet über Asyl für Obdachlose und der allgemeinen Schwierigkeit resümierte, sich in modernen Zeiten irgendwo häuslich einrichten zu können. Adorno spekulierte darüber, ob der Mensch überhaupt noch in der Lage wäre, in einer richtigen Welt zu bestehen: „Wahrscheinlich wäre für jeden Bürger der falschen Welt eine richtige unerträglich, er wäre zu beschädigt für sie“, fürchtete er 1947. Und in den 75 Jahren seither haben wir ihm genügend Anlass gegeben, dass diese Befürchtung substanziell ist.

Und dennoch: Putin hat schon jetzt die Welt gelehrt, das Wichtige vor dem Dringenden ins Auge zu fassen. Hunderttausenden von Managementberatern ist es bislang offensichtlich nicht gelungen, diesen Führungs- und Verhaltensgrundsatz – das „Eisenhower-Prinzip“ – in den Management-Köpfen zu implementieren: Eisenhower hat sozusagen das Vier-Quadranten-Prinzip, mit dem heute die Gartner Group Technologien einschätzt, vorweggenommen: Erledige sofort, was wichtig und dringend ist, dann das, was wichtig ist, dann erst das, was dringend, aber nicht wichtig, und vergiss, was weder wichtig, noch dringend ist.

Wichtig ist zum Beispiel Nachhaltigkeit und die Senkung des CO2-Ausstoßes. Aber bislang war uns das nicht dringend genug, obwohl der jüngste UN-Bericht uns warnt, dass sich das Window of Opportunity, in dem wir noch etwas an der globalen Erwärmung ändern können, allmählich schließt. Der Ausstieg aus den fossilen Energien ist zu teuer, hieß es stets. Jetzt zeigt sich, dass der Verbleib bei fossilen Brennstoffen wegen der Abhängigkeit von Russland uns noch teurer zu stehen kommt.

Auch die Ausrüstung und Aufrüstung der Bundeswehr war stets wichtig, aber irgendwie nie dringend. Jetzt ist sie beides und wird mit einem 100 Milliarden Euro großen Sonderprogramm und somit künftig mit mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts behoben. Und irgendwo sind diese Sonderausgaben auch ein Konjunkturprogramm, das die Wirtschaft in Krisenzeiten stärken kann. Schon jetzt positioniert sich der Mittelstand als Lieferant der ersten Wahl für Wehraufgaben: „Wir können liefern, wir wollen liefern. Der Mittelstand ist innovativ. Wir brauchen uns nicht zu verstecken, auch nicht in Bezug auf zukunftsfähige Systemlösungen, Künstliche Intelligenz oder Digitalisierungsanwendungen“, erklärt beispielsweise der Vorsitzende der BVMW-Kommission Bundeswehr und Mittelstand, Ferdinand Munk.

Folglich ist auch die Digitalisierung plötzlich und unerwartet eine mittelständische Kernkompetenz, von der sogar die Bundeswehr profitieren kann. Zwar war die digitale Transformation von Wirtschaft und Privatleben immer schon wichtig – nur, dringend war sie halt nie. Jetzt ist auch das anders. Nunmehr finden sich neue Wege der gemeinsamen Wertschöpfung auch über alternative Lieferketten hinweg. Da kommen hochindividualisierte Kabelbäume von jetzt auf gleich aus Nordafrika. Es geht doch, wenn man nur will.

Wieder mehr wollen wollen – dazu hat Wladimir Putin den Westen gezwungen. Wir sind endlich in der Eisenhower-Methode wach geworden. Dass dies mit dem unsagbaren Leid der Ukrainer bezahlt werden muss, ist an sich unfassbar und zynisch. Wir sollten diese Opfer ehren, indem wir unsere Lehren daraus ziehen. Und zwar dringend, denn das ist wichtig.