Nach heftiger Kritik nicht nur vom ukrainischen Präsidenten Selenskyj stellt SAP nun doch seine Cloud-Services in Russland ein – nicht aber das deutlich größere Bestandsgeschäft mit Lizenzen: die vor Ort installierten Lösungen werden auch weiterhin gewartet. „Wir halten an unserer Verpflichtung fest, die Ukraine zu unterstützen, indem wir alle Verkäufe stoppen und den Cloud-Betrieb in Russland einstellen“, hieß es dazu aus Walldorf. Das Russland-Engagement, zu dem auch Kunden wie Aeroflot und die Sberbank gehören, umfasst nach Schätzungen des Handelsblatts rund eine halbe Milliarde Euro.
Erst die Sanktionen gegen Russland machen so richtig deutlich, über welche Macht Cloud Service Provider verfügen können, wenn sie für ihre Kunden unternehmenskritische Anwendungen wie Enterprise Resource Planning in Service-Rechenzentren betreiben. Nach dem Motto: „Drehst du mir den Gashahn zu, schneide ich dein Datenkabel durch“, können Organisationen nicht nur Lieferketten unterbrechen, sondern auch wichtigste Ressourcen kappen oder verknappen.
Um nicht missverstanden zu werden: Der Schritt bei SAP war längst überfällig. Die beschlossenen Sanktionen des Westens gegen Putin haben dies unausweichlich gemacht. Das gilt ebenso für Siemens, die Deutsche Telekom, für Microsoft ebenso wie für SalesForce oder Oracle. Aber die Cloud macht solche Durchgriffe überhaupt erst möglich, während bei vor Ort – womöglich noch mit hinterlegtem Quellcode – installierter Software ein solcher Eingriff nur schwer möglich ist. (Allerdings auch nicht unmöglich.)
Nun, die Cloud ist ein Kind des Friedens und der immer engeren Verzahnung von Unternehmen auch über Staatsgrenzen hinweg. Wo Wandel durch Handel und damit Annäherung geschehen sollte, ist offensichtlich auch das Gegenteil möglich – Entfremdung durch Entkopplung. Dass dies so ist, zeigen immer wieder die wechselnden Partnerschaften, die SAP mit anderen Marktteilnehmern in Sachen Cloud Computing schließt. Vor allem im bei SAP-Kunden durchaus umstrittenen Migrationsprogramm RISE with SAP, das Anwendern den Weg von OnPremises zu OnDemand ebnen sollte, bleibt SAP auf der Suche nach dem optimalen Partner – ganz nach dem Motto: Handel durch Wandel.
Denn vor einem Jahr war Microsoft mit der Cloud-Plattform Azure der präferierte RISE-Partner für die Walldorfer. Kurz darauf wurde die zunächst groß gefeierte Zusammenarbeit im Migrations-Vertrieb sang- und klanglos eingestellt, wohl auch, weil die SAP-Kunden lieber eine Multi-Cloud-Strategie verfolgen wollen und sich nicht von einem einzigen Cloud-Anbieter abhängig machen möchten. Schließlich kam vor wenigen Wochen IBM als RISE-Begleiter zum Zuge, obwohl Big Blue den Einstieg ins Cloud-Business kräftig verschlafen hatte – wie übrigens SAP auch.
Nun soll aber wieder Microsoft im RISE-Geschäft sein. Microsoft, selbst ein großer SAP-Anwender, stellt gerade seine Installationsbasis mit Hilfe von RISE auf Azure um. Joao Couto, Microsofts Vice President SAP Business Unit, betont, dass dies die erste „RISE with SAP“-Migration eines Cloud-Anbieters sei. SAP hingegen empfiehlt seinen Kunden nun wieder, das gleiche zu tun und mit RISE auf Azure zu migrieren. Die europäische Tierfutter-Handelsorganisation Fressnapf zum Beispiel hat dies schon erfolgreich vollzogen. Und auch im Partnerumfeld von Microsoft reüssiert die Kombi aus SAP, RISE und Azure: das IT-Beratungshaus Atos hat dieses Menü jetzt ebenfalls als präferierte Lösung im Angebot.
Die Geschichte der Annäherung durch Handel zwischen Microsoft und SAP ist seit Jahrzehnten ein ewiges Hin und Her. Schon vor der Jahrhundertwende kursierten Gerüchte, das größte deutsche Softwarehaus könnte von der Gates-Company geschluckt werden. Gemeinsame Arbeiten am Workplace der Zukunft folgten. Dann kam die Cloud und SAPs zögerlicher Weg dorthin, während Microsoft sich auf Aufholjagd zu Amazon Web Services begab und mit der Azure Cloud-Plattform neuen Wachstumsschub erzielte. Jetzt profitieren beide von einer neuerlichen Annäherung: denn eine eigene globale Cloud-Infrastruktur in der Größenordnung von AWS oder Azure wird SAP kaum stemmen können. Gleichzeitig bedeuten SAP-Anwendungen in der Azure-Cloud „Heavy Load“ für Microsofts Data Centers.
Und der nächste Schritt? SAP sucht gerade mehr oder weniger spontan einen neuen Finanzvorstand, nachdem Luka Mucic, das dienstälteste Vorstandsmitglied bei SAP, überraschend seinen Hut genommen hat. Schon zweimal hat SAPs Vorstandsvorsitzender Christian Klein sein Personal-Tableau bei Microsoft rekrutiert: Microsofts Marketing-Chefin Julia White und die ehemalige Deutschland-Chefin Sabine Bendiek haben den Sprung nach Walldorf schon gewagt. Geht jetzt wieder jemand auf die RISE?