SAP: RISE durch Annäherung

Nach heftiger Kritik nicht nur vom ukrainischen Präsidenten Selenskyj stellt SAP nun doch seine Cloud-Services in Russland ein – nicht aber das deutlich größere Bestandsgeschäft mit Lizenzen: die vor Ort installierten Lösungen werden auch weiterhin gewartet. „Wir halten an unserer Verpflichtung fest, die Ukraine zu unterstützen, indem wir alle Verkäufe stoppen und den Cloud-Betrieb in Russland einstellen“, hieß es dazu aus Walldorf. Das Russland-Engagement, zu dem auch Kunden wie Aeroflot und die Sberbank gehören, umfasst nach Schätzungen des Handelsblatts rund eine halbe Milliarde Euro.

Erst die Sanktionen gegen Russland machen so richtig deutlich, über welche Macht Cloud Service Provider verfügen können, wenn sie für ihre Kunden unternehmenskritische Anwendungen wie Enterprise Resource Planning in Service-Rechenzentren betreiben. Nach dem Motto: „Drehst du mir den Gashahn zu, schneide ich dein Datenkabel durch“, können Organisationen nicht nur Lieferketten unterbrechen, sondern auch wichtigste Ressourcen kappen oder verknappen.

Um nicht missverstanden zu werden: Der Schritt bei SAP war längst überfällig. Die beschlossenen Sanktionen des Westens gegen Putin haben dies unausweichlich gemacht. Das gilt ebenso für Siemens, die Deutsche Telekom, für Microsoft ebenso wie für SalesForce oder Oracle. Aber die Cloud macht solche Durchgriffe überhaupt erst möglich, während bei vor Ort – womöglich noch mit hinterlegtem Quellcode – installierter Software ein solcher Eingriff nur schwer möglich ist. (Allerdings auch nicht unmöglich.)

Nun, die Cloud ist ein Kind des Friedens und der immer engeren Verzahnung von Unternehmen auch über Staatsgrenzen hinweg. Wo Wandel durch Handel und damit Annäherung geschehen sollte, ist offensichtlich auch das Gegenteil möglich – Entfremdung durch Entkopplung. Dass dies so ist, zeigen immer wieder die wechselnden Partnerschaften, die SAP mit anderen Marktteilnehmern in Sachen Cloud Computing schließt. Vor allem im bei SAP-Kunden durchaus umstrittenen Migrationsprogramm RISE with SAP, das Anwendern den Weg von OnPremises zu OnDemand ebnen sollte, bleibt SAP auf der Suche nach dem optimalen Partner – ganz nach dem Motto: Handel durch Wandel.

Denn vor einem Jahr war Microsoft mit der Cloud-Plattform Azure der präferierte RISE-Partner für die Walldorfer. Kurz darauf wurde die zunächst groß gefeierte Zusammenarbeit im Migrations-Vertrieb sang- und klanglos eingestellt, wohl auch, weil die SAP-Kunden lieber eine Multi-Cloud-Strategie verfolgen wollen und sich nicht von einem einzigen Cloud-Anbieter abhängig machen möchten. Schließlich kam vor wenigen Wochen IBM als RISE-Begleiter zum Zuge, obwohl Big Blue den Einstieg ins Cloud-Business kräftig verschlafen hatte – wie übrigens SAP auch.

Nun soll aber wieder Microsoft im RISE-Geschäft sein. Microsoft, selbst ein großer SAP-Anwender, stellt gerade seine Installationsbasis mit Hilfe von RISE auf Azure um. Joao Couto, Microsofts Vice President SAP Business Unit, betont, dass dies die erste „RISE with SAP“-Migration eines Cloud-Anbieters sei. SAP hingegen empfiehlt seinen Kunden nun wieder, das gleiche zu tun und mit RISE auf Azure zu migrieren. Die europäische Tierfutter-Handelsorganisation Fressnapf zum Beispiel hat dies schon erfolgreich vollzogen. Und auch im Partnerumfeld von Microsoft reüssiert die Kombi aus SAP, RISE und Azure: das IT-Beratungshaus Atos hat dieses Menü jetzt ebenfalls als präferierte Lösung im Angebot.

Die Geschichte der Annäherung durch Handel zwischen Microsoft und SAP ist seit Jahrzehnten ein ewiges Hin und Her. Schon vor der Jahrhundertwende kursierten Gerüchte, das größte deutsche Softwarehaus könnte von der Gates-Company geschluckt werden. Gemeinsame Arbeiten am Workplace der Zukunft folgten. Dann kam die Cloud und SAPs zögerlicher Weg dorthin, während Microsoft sich auf Aufholjagd zu Amazon Web Services begab und mit der Azure Cloud-Plattform neuen Wachstumsschub erzielte. Jetzt profitieren beide von einer neuerlichen Annäherung: denn eine eigene globale Cloud-Infrastruktur in der Größenordnung von AWS oder Azure wird SAP kaum stemmen können. Gleichzeitig bedeuten SAP-Anwendungen in der Azure-Cloud „Heavy Load“ für Microsofts Data Centers.

Und der nächste Schritt? SAP sucht gerade mehr oder weniger spontan einen neuen Finanzvorstand, nachdem Luka Mucic, das dienstälteste Vorstandsmitglied bei SAP, überraschend seinen Hut genommen hat. Schon zweimal hat SAPs Vorstandsvorsitzender Christian Klein sein Personal-Tableau bei Microsoft rekrutiert: Microsofts Marketing-Chefin Julia White und die ehemalige Deutschland-Chefin Sabine Bendiek haben den Sprung nach Walldorf schon gewagt. Geht jetzt wieder jemand auf die RISE?

Wir sind noch nicht paranoid genug

Schon vor dem Angriff der russischen Armee auf die Ukraine am 24. Februar war das Lagezentrum des Bundesamts  für Sicherheit in der Informationstechnik bereits in Alarmbereitschaft – ausgelöst durch die Manöver an der Grenze zur Ukraine. Was dort beobachtet wurde, nannte Dr. Dirk Höger, der das BSI-Lagezentrum leitet, „Nadelstiche“: Webseiten ukrainischer Behörden wurden mit sogenannten DDoS- und Wiper- Angriffen überzogen.

DDoS – oder Distributed Denial of Service – sind Angriffe auf Webserver, bei denen eine massive Menge an (unsinnigen) Anfragen an den Server so lange gesendet werden, bis das System unter der Flut zusammenbricht. Die zweite Kategorie hat eigentlich einen ganz legalen Ursprung: Wer Festplatten weiterverkaufen will, tut gut daran, diese so zu löschen (also zu „wischen“), dass die darauf befindlichen Daten nicht mehr rekonstruiert werden können. Wenn dies aber von außen geschieht, wird dies einerseits getan, um Lösegeld für die Herausgabe der gelöschten Daten zu erzielen, oder kritische Infrastrukturen auf Dauer vom Web zu nehmen.

Vor Angriffen wie diesen hat lange Zeit und bis heute die Systemsoftware von Kaspersky-Lab geschützt. Jetzt soll das nicht mehr so sein, weil wer Hintertüren kennt und die Art, wie man sie schließt, der weiß auch, wie man sie wieder öffnet. Kasperskys Antivirus-Software und Firewalls werden jetzt vom BSI unter Generalverdacht gestellt, weil sie russischer Herkunft sind und Eugene Kaspersky damit potenziell, wenn nicht Täter, so doch zumindest erpressbar sein könnte. Unternehmen sollten, so rät das BSI, nach Alternativen suchen, um ihre IT-Infrastruktur zu schützen. Avast, Norton und andere reiben sich die Hände.

Ist das noch Sicherheitsbewusstsein oder schon Mobbing, so wie russisch sprechende Schüler und Schülerinnen auf dem Pausenhof gemobbt werden? Es gibt bislang keinen Hinweis darauf, dass Kaspersky oder andere russische Anbieter sich dem „Input von Putin“ gebeugt hätten. Das Ganze erinnert an den Generalverdacht, unter dem noch immer US-amerikanische Cloud Service Provider stehen, weil sie – theoretisch – dem US Cloud Act unterliegen, der sie im Falle eines Verdachtsfalles dazu zwingen könnte, personenbezogene Daten auch dann zu veröffentlichen, wenn sie auf europäischen Servern lagern. Und es erinnert auch an die – bis heute nicht erhärtete – Warnung vor Hintertüren, die der chinesische Smartphone-Anbieter Huawei produziert haben könnte. Denn auch hier gilt: Wer weiß, wie digitale Hintertüren funktionieren, kann sie ebenso zugunsten seiner Kunden schließen, wie auf Befehl seiner autokratischen, wenn nicht diktatorischen Regierung wieder öffnen.

Wem soll man also noch trauen? Frei von Ideologie hieße die Antwort: Weder Russen, noch Chinesen, noch Amerikanern. Als wenn der Bundesnachrichtendienst nie mit Hilfe der Schweizer Crypto AG, an der er sogar Anteile erwarb, fremde Staaten ausgespäht hätte. „Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht“, schimpfte die damalige Kanzlerin Angela Merkel, als 2017 die Abhöraktivitäten der US-amerikanischen NSA ruchbar wurden. Und unter Staaten, die sich – wenn nicht feindlich – dann aber doch nicht freundlich gegenüberstehen, ist das Ausspähen, Desinformieren und Manipulieren inzwischen zum guten Ton avanciert.

Also heißt es wachsam sein. Wieder muss man fragen: Sind wir schon paranoid genug? Das BSI warnt vor möglichen Cyberangriffen von russischen Hackerhorden auf die deutsche Wirtschaft und für die Aufrechterhaltung unserer Infrastruktur relevante Systeme. Wenn Putin mit dem Äußersten droht, wenn sich der Westen in seine räuberischen Krieg einmischen sollte, muss das nicht zwangsläufig Hyperschall-Raketen und Atomsprengköpfe bedeuten. Es könnte auch einen totalen Cyberkrieg meinen, der erst unsere Wirtschaft, dann unsere Demokratie und schließlich unser gesellschaftliches Gefüge zerstört. Das BSI und im Gefolge der Hightech-Verband Bitkom warnen schon und weisen den Weg zur Wachsamkeit: „M it dem Angriffskrieg Russlands ist auch im deutschen Cyberraum volle Aufmerksamkeit und größtmögliche Wachsamkeit aller Unternehmen, Organisationen und staatlichen Stellen geboten“, warnt Sebastian Artz, Bereichsleiter Cyber- & Informationssicherheit beim Bitkom, und ergänzt, Unternehmen müssten für die Schutzmaßnahmen klare Verantwortlichkeiten festlegen und die Mitarbeiter sensibilisieren. Denn, so der Bitkom, mit zunehmender Kriegsdauer könnten sich die Angriffe russischer Hacker, die vor allem kurz vor dem Einmarsch in die Ukraine zugenommen hatten, „auch unmittelbare Konsequenzen für Deutschland und seine Wirtschaft haben, da die Distanzen im digitalen Raum kurz sind und die Grenzen nicht so klar, wie sie sein sollten.“

Was kann man tun? Das sind die Grundsätze:

  • Spielen Sie so zeitnah wie möglich Sicherheits-Updates ein und führen Sie Backups mindestens täglich durch. Natürlich sollten die letzten drei Backups an einem anderen Ort gelagert werden.
  • „Härten“ Sie Ihr System durch Zwei­-Faktoren-Authentifizierung.
  • Minimieren Sie die Rechte für Benutzer. Das mag weniger komfortabel sein, schützt aber in krisenhaften Zeiten.
  • Definieren Sie Verantwortlichkeiten. Nur wenn Ihr Sicherheitsbereich strukturell und personell geregelt ist, können Sie im Notfall schnell reagieren.
  • Deshalb sollte auch ein dezidierter Notfallplan erstellt werden, in dem geregelt wird, was wer wann zu tun hat.
  • Klären Sie Ihre Mitarbeiter über die potenziellen Gefahren auf. In der Regel ist der Mensch die Schwachstelle im System.
  • Und nicht zuletzt: Verfolgen Sie die Hinweise des BSI oder der Allianz für Cybersicherheit.

Aber auch wenn der Ukraine-Krieg zu einem hoffentlich baldigen und friedlichen Ende gefunden haben wird, gelten diese Grundsätze weiter. Die nächste Angriffswelle könnte aus einer Weltregion kommen, die wir derzeit noch nicht auf dem Radar haben. Oder sie könnte – was noch viel verstörender wäre – von innen kommen. In der Tat: Wir sind vielleicht noch nicht paranoid genug.

Hätte, hätte, Lieferkette

Der Ukraine-Krieg – oder um es unmissverständlich zu formulieren: der völkerrechtswidrige, menschenverachtende, durch Russlands irrlichternden Diktator Wladimir Putin veranlasste Überfall auf die Ukraine – hat wie unter einem Mikroskop die großen Menschheitsherausforderungen im Detail erkennbar gemacht. Plötzlich findet eine mögliche Abkehr von Erdöl, Erdgas und Steinkohle deutliche Mehrheiten. Was mehrere Weltklimakonferenzen nicht schafften, bewirkt nun die Erkenntnis, dass Russlands Energielieferungen auch Krieg und Kleptokratie befördern: ein wahres Wunder im Umdenken und in der Bereitschaft, nun das Notwendige einzuleiten.

Eben hat mit Fitch die letzte große Ratingagentur die Bonität des russischen Staates auf Schrottniveau herabgesenkt, da sollen auch die russischen Energieeinnahmen aus dem Westen von einer Milliarde Euro täglich auf Null gesenkt werden. Die Mehrheit der Deutschen wünscht es laut Politbarometer so, obwohl sie die Zeche an der Tankstelle zahlt. Doch die Mehrheit der mittelständischen Wirtschaft bangt um ihre Existenz, weil sie die Zeche in praktisch jedem Geschäftsprozess bezahlen muss – vom Einkauf teurer Rohstoffe über die energieintensive Produktion bis zum dieselgetriebenen Transport.

Jetzt wird teuer, was jahrelang verschleppt wurde. Der Strompreis stieg im vergangenen halben Jahr um 160 Prozent, der Gaspreis um 235 Prozent und das Barrel Öl der Marke Brent um 66 Prozent – und wir können uns nicht dagegen wehren. „Wenn das derzeitige Energiepreisniveau länger andauert, dann habe ich sicher keine Chance mehr“, sagt der trigema-Chef Wolfgang Grupp und spricht damit sicherlich für alle mittelständischen Unternehmen – zumindest aus den energieintensiven Branchen wie zum Beispiel der Chemie-, Metall- oder Papierproduktion. Grupps Rechnung ist in der Tat alarmierend: Bis zum August, so rechnet er dem Handelsblatt vor, hatte er eine monatliche Energierechnung von 100.000 Euro zu bezahlen. Jetzt sind es 500.000 Euro – im Monat.

Doch woher soll die Entlastung kommen? Alternative Energiequellen sind weder schnell noch günstig zu erschließen. Der Widerstand gegen die „Verspargelung der Landschaft“ durch Windräder und künstlich herbeigeführte Bürokratiehürden wie zum Beispiel kaum umsetzbare Abstandsregeln und langwierige Genehmigungsverfahren haben den Ausbau der Erneuerbaren verschleppt. Gut 40 Prozent des deutschen Energiebedarfs wird durch Wind, Sonne und Wasser gedeckt. Der Rest ist fossilen Ursprungs und ist, da überwiegend importiert, ein Spielball der Weltpolitik.

Schon fordert ein wahlkämpfender Ministerpräsident die Entlastung der tankenden Bevölkerung, weil sich weder die „Geringverdienenden“, noch die „fleißig Arbeitenden“ die aktuellen Spritpreise leisten können. Die unselige Differenzierung stammt nicht vom Autor dieser Zeilen, sondern vom Landeschef selbst und wird nicht weiter kommentiert. Immerhin, so heißt es, verdiene der Staat durch erheblich gestiegene Steuereinnahmen an der Tankstelle mit. Dem widerspricht Bundesfinanzminister Christian Lindner. Die höheren Steuereinnahmen hier werden durch geringeres Konsumverhalten anderswo wieder ausgeglichen – ein Nullsummenspiel.

Nicht viel anders liefe es bei der durchaus notwendigen Entlastung der Wirtschaft. Eine Deckelung der Energiekosten würde aus einem unvermeidlichen weiteren Sondervermögen gegenfinanziert werden müssen. Der Verzicht auf Energie- und Mehrwertsteuer würde auch hier zu einem erheblichen Verlust bei den Steuereinnahmen führen und den Handlungsspielraum des Staates einengen. Der Verlust von Arbeitsplätzen oder die Stilllegung von Betriebsstätten aber wäre noch teurer. Jetzt muss also irgendwie überbrückt werden, was jahrelang versäumt wurde.

Denn fossile Energie, ob aus Russland oder anderswo, war lange Zeit alternativlos. Jetzt, angesichts der kriegs- und krisenbedingten Teuerung, geht die Suche nach Alternativen los. jetzt soll alles schnell gehen mit der großen Entkopplung von russischer Energie: Fracking ist dreckig, der Krieg aber ist dreckiger. Öl- und Gasbohrungen in Ost- und Nordsee sind plötzlich für den Bundesfinanzminister wieder denkbar, obwohl es im Koalitionsvertrag anders steht. Andere schlagen vor, die letzten drei Atommeiler länger in Betrieb zu lassen, obwohl die Beschaffung von spaltbarem Material nicht innerhalb eines Jahres zu bewerkstelligen wäre. Und eine Gruppe von 45 Gasnetzbetreibern will jetzt die deutschen Rohrleitungen für den Wasserstofftransport umrüsten, um eine Lieferinfrastruktur aufzubauen, auf der die Wasserstoffelektrolyse und damit die Energiegewinnung aufbauen können. Doch auch der Import von „grünem“ oder zumindest „blauem“ Wasserstoff ist alles andere als geklärt.

Dabei ist die Suche nach alternativen Energiequellen oder zumindest alternativen Quellen für fossile Energie nur das derzeit brennendste Beispiel für die Abhängigkeit der deutschen Industrie von internationalen Lieferketten, deren Gestalt und Gestaltung sie längst nicht mehr in den Händen hat. Die inzwischen schon sprichwörtlichen Kabelbäume aus der Ukraine und anderen Ländern, die weitgehend in Handarbeit für einen Billiglohn erstellt werden, zeigen, wie verletzlich die deutsche Wirtschaft inzwischen ist. Dieses Risiko haben wir sehenden Auges herbeigeführt, weil ein veritabler Krieg ebenso fern hinter unserem geistigen Horizont lag wie der Klimawandel.

Der Schrecken einer Abhängigkeit von russischer Willkür ist offensichtlich inzwischen größer als der Schrecken vor hohen Abschlägen, sollte der wirtschaftliche Abschied von Russland gelingen. Längst ist der Krieg als Cyber-War global geworden und bedroht auch mittelständische Unternehmen hierzulande. Die Angst vor ABC-Waffen hat längst mit D für Digital-Waffen aus Russland eine vierte Dimension erlangt, wie der Hightech-Verband Bitkom ebenso wie Microsoft warnen.

Doch was ist nach Krieg und Krise? Irgendwann werden die wirtschaftlichen Beziehungen mit einem wie auch immer gearteten Russland wieder aufleben. Die Sanktionen werden fallen, sobald der Grund für ihre Verhängung entfällt. Werden dann die alten Lieferketten wieder geknüpft und die Abhängigkeit erneuert. Lernen wir aus Krise, Krieg und Klima oder heißt es irgendwann wieder: hätte, hätte, Lieferkette?

Mittelstand zwischen Sanktionen und Hilfen

In diesen Tagen fahren die ersten von 20 geplanten Sattelschleppern von München aus in die Ukraine. Sie liefern Hilfsgüter, die mittelständische Unternehmen aus dem IHK-Bezirk München gespendet haben. Kein Einzelfall: Überall in den Industrie- und Handelskammern werden derzeit Lastwagen und Kleinbusse bestückt, die die Bevölkerung der von Putin überfallenen Ukraine mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln und Wintersachen versorgen sollen. Und viele planen, auf dem Rückweg ukrainische Flüchtlinge aufzusammeln und nach Deutschland zu bringen.

„Das Engagement wächst von Tag zu Tag“, staunt DIHK-Präsident Peter Adrian über die Wirkmächtigkeit der spontanen Initiative #Wirtschafthilft. „Nicht nur die großen Betriebe, auch viele sehr kleine und auch unsere Mittelständler sind hier mit Herzblut dabei“, sagt er gegenüber dem Handelsblatt. „Es bringen sich nicht nur Unternehmen mit eigenen Kontakten und Geschäftsbeziehungen in die Ukraine ein. In vielen Belegschaften unserer deutschen Betriebe arbeiten Menschen mit ukrainischen Wurzeln – und dann will der ganze Betrieb helfen.“

Auch unterhalb der Wahrnehmungsschwelle in der Medienöffentlichkeit helfen mittelständische Unternehmen, wo sie können. Auf billige, aber durchaus zu billigende Publicity zu verzichten – das gehört zur Mittelstands-DNA. „Es gibt vielfältige Hilfsprojekte von mittelständischen Unternehmen, due Flüchtlinge aufnehmen und sich direkt engagieren“, ergänzt Hans-Toni Junius, Geschäftsführender Gesellschafter der Hagener Waelzholz Gruppe und zugleich Vorsitzender des gemeinsamen Mittelstandsausschusses von BDI und BDA. Er sieht auch die Auswirkungen in den beiden kriegsführenden Ländern: „Viele Unternehmen sind direkt oder indirekt mit Geschäftspartnern in der Ukraine oder auch in Russland verbunden. Der dadurch entstandene Wohlstand und die wirtschaftliche Prosperität in der Mittelschicht in beiden Ländern wird nun zerstört,  weil diese Geschäftsbeziehungen völlig zum Erliegen kommen.“

In der Tat: Die Hilfsbereitschaft im Mittelstand ist überwältigend. Aber die Hilfsbedürftigkeit, die sich aus den Folgen einer zusammengebrochenen Infrastruktur in der Ukraine und aus den Folgen der Sanktionen gegenüber Russland für mittelständische Unternehmen ergeben, ist ebenfalls groß. Viele bangen nicht nur um ihre Lieferketten und ausländischen Dependancen – einschließlich der dortigen Mitarbeiter. Sie fürchten auch um ihre Existenz, wenn Produktionsausfälle und Außenhandelsgeschäfte auf Null gestellt werden.

Rund 2000 deutsche Unternehmen sind in der Ukraine aktiv. Ihnen ist völlig unklar, ob sie die eigenen Niederlassungen, Maschinen und Einrichtungen jemals wieder nutzen können. Und zugleich ergeben sich erste Engpässe. Es sind nicht nur die Kabelbäume für die deutsche Autoproduktion, an denen es fehlt. Gleichzeitig haben deutsche Unternehmen rund 20 Milliarden Euro in Russland investiert. Davon sind derzeit rund 7,4 Milliarden Euro durch den Staat garantiert. Weitere elf Milliarden Euro sind durch Hermes-Bürgschaften besichert. Doch Auslandsinvestitionen sind zunächst einmal das Risiko der Unternehmen selbst. Das könnte existenzgefährdende Ausmaße annehmen. Deshalb plant das Bundeswirtschaftsministerium ein Kreditprogramm mit der staatlichen Förderbank KfW, das deutschen Firmen, die Einbußen in Russland zu gewärtigen haben, finanziell unter die Arme greift. Diese Kredite sollen genutzt werden, um für die betroffenen Unternehmen neue Geschäftsfelder aufzubauen. Das könnten andere Außenhandelsregionen sein oder andere Produkte und Dienstleistungen.

Der Mittelstand bangt und wankt zwischen Sanktionen und Hilfen. Deshalb wird damit gerechnet, dass der Staat weitere Sicherheitsgarantien für Investitionen in Russland und der Ukraine übernimmt. Doch gleichzeitig drohen wieder Kurzarbeit und Produktionsausfall durch zerstörte Lieferketten, Materialmangel und den Wegfall von Produktionsstätten.

Doch auch die Inflation im eigenen Land drückt den Mittelstand und die Bevölkerung an die Wand. Es zeigt sich, dass wir derzeit die Energiewende im Fast-Forward-Modus erleben, wenn tatsächlich der Gashahn – von welcher Seite auch immer – abgedreht wird. Schon rechnet das Institut der deutschen Wirtschaft mit einem Anstieg des Preisniveaus um fünf Prozent im kommenden Jahr, wenn der Gaspreis noch einmal um die Hälfte anzieht. Das würde das Wirtschaftswachstum hierzulande um 0,6 bis 1,6 Prozentpunkte reduzieren. Bliebe der Gaspreis – womit allerdings keiner ernsthaft rechnen kann – auf dem Niveau des vierten Quartals 2021, lägen die negativen Auswirkungen bei 0,2 bis 0,7 Prozentpunkten.

Schon warnt der BDI in einer Mittelstandsstudie, dass die hohen Energiekosten gerade mittelständische Unternehmen außer Landes treiben könnten, indem Produktionsstätten in Länder mit deutlich niedrigeren Energiekosten verlagert würden. Das klingt ein wenig unsolidarisch in Zeiten, da sich alle an Hilfen und Sanktionen beteiligen. Aber tatsächlich denken auch Grüne inzwischen darüber nach, die Laufzeit für die verbliebenen Atommeiler zu verlängern und die Braunkohle wieder stärker zu nutzen, um Zeit zugewinnen für den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien, die derzeit gut 40 Prozent des Energiebedarfs decken.

Doch darf man umgekehrt auch sehen, dass beispielsweise das 100 Milliarden Euro große Sondervermögen für Investitionen in die Modernisierung der Bundeswehr und die Erhöhung des Wehretats auf mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts selbst wie ein Konjunkturprogramm wirken. Armin Papperger, Vorstandschef der Rheinmetall – nun nicht direkt ein mittelständisches Unternehmen – rechnet bereits mit mehreren Tausend zusätzlichen Mitarbeitern. Und einen ersten Auftrag hat er auch schon erhalten. Er soll – und das ist kein Witz, wenngleich eine gute Pointe – Helme für die Bundeswehr produzieren.