Vielleicht hatte William Gibson, der Urvater des Cyberpunk, doch das bessere Sprachgefühl als er sein Wild Wucherndes Web kurz „Sprawl“ taufte. Der Begriff steht als Verb für die ungelenkte Ausdehnung (wuchern) und als Substantiv für das Ergebnis: das Siedlungsgebiet, das – ja eben: Netzwerk. Was ist dagegen eine Wolke, eine Cloud, der man kaum eine Manifestation zutraut, deren Regenneigung wildeste Befürchtungen zur Daten-Inkontinenz zulässt? Ein Hype!
Ein Hype? In der Wolke werden längst Milliarden bewegt. Der OnDemand-Anbieter von CRM-Lösungen, Salesforce.Com, zum Beispiel erlöst pro Jahr inzwischen rund eine Milliarde Dollar aus den Monatszahlungen für die Online-Nutzung seiner Software. Und die Summe der User hat zuletzt eine Steigerung im Jahresvergleich von rund 30 Prozent auf stolze 70.000 User geschafft. Die Dynamik ist beeindruckend – auch wenn es die Marge noch nicht ist.
Das mag aber kommen, je mehr Applications, kurz Apps, rund um SalesForce.Com entstehen. Bislang waren es vor allem Minimalerweiterungen, die auf der Entwicklungsplattform Force.Com entstanden – dies allerdings zu Hunderten. Jetzt geht SalesForce.Com offensichtlich in die Vollen und sucht Partner für die Entwicklung auch komplexer Apps. Das US-amerikanische Gesundheitsministerium beispielsweise hat jetzt einen Millionenauftrag erteilt, um auf der Basis der CRM-Lösung das Beziehungsmanagement zwischen Behörde, Fördergeld-Empfängern aus dem Konjunkturpaket und Dienstleistern im Gesundheitswesen zu verbessern. Offensichtlich setzt die Obama-Administration ganz entschieden auf die Wolke, um Kommunikations- und Konjunkturprozesse zu beschleunigen. Und dabei will man nicht trödeln: Das Projekt begann am 31. Januar und soll Mitte März bereits erste Ergebnisse zeitigen.
Die Cloud ist Speed. Kaum einer profitiert so stark von der rasanten Ausbreitung der Apps in der Cloud wie Apple. Im August 2008 – also vor dem Beginn der Wirtschaftskrise – erzielte Apple mit dem App Store zum ersten Mal mehr als eine Million Dollar – wohlgemerkt: täglich. Seitdem nimmt nicht nur die Zahl der iPhone-Benutzer und damit App-Käufer kontinuierlich zu, sondern auch die Zahl der downloadbaren Services, also der Apps. Im November 2009 wurde der 100.000ste Service im App Store ausgestellt. Bereits einen Monat zuvor – im September 2009 also – wurde der Zwei-Milliardste Download aktiviert.
Die Entwicklungen in Deutschland gehen im Vergleich dazu quälend langsam voran. Zweieinhalb Jahre nach der etwas großmäulig geratenen Ankündigung von Business by Design kommt SAP nicht nur mit einer funktional brauchbaren Version der ERP-Suite auf den Markt. Zur CeBIT präsentiert das Walldorfer Unternehmen auch die Entwicklungsumgebung SAP Business ByDesign Software Development Kit, mit der Partner künftig verstärkt Branchenanwendungen für ByD entwickeln sollen. Wie schnell das geschehen soll, wird das Jahr 2010 zeigen.
Seit März 2008 treibt die GUS Group als früher Entwicklungspartner der SAP zu ByD den Aufbau von sogenannten Verticals für die OnDemand-Suite voran. Jetzt wird offiziell der Startschuss auch für weitere Partner gegeben. Die Frage, wie schnell es SAP gelingen wird, eine Entwickler-Szene mit dem SAP Business ByDesign Software Development Kit zu stimulieren, wird auch den Markterfolg von ByD beeinflussen. Aber es ist ja schon ein Riesenschritt, dass SAP vom Alleinvertretungsanspruch Abstand nimmt und die Entwicklungsanstrengungen der Dynamik einer Community anvertraut. Am 2. März beginnt die CeBIT. Von da an läuft der Zähler. Wie viele Apps hat SAP in einem Jahr in der Wolke. Das ist kein Spiel, sondern die Existenzfrage.
Monat: Februar 2010
SAP: Was ist bloß mit dieser Firma los?
Ein Wort wird umgehen in den kommenden Tagen: was bedeutet es, eine „happy company“ zu sein. SAP-Aufsichtsratsvorsitzender Hasso Plattner brachte das Wort in die Telefonkonferenz am Tag Eins nach dem – für Außenstehende – überraschenden sofortigen Rücktritt des SAP-Vorstandsvorsitzenden Léo Apotheker. Die Mitarbeiterbefragungen, so gestand Plattner auf Rückfragen zu, haben keine besonders guten Ergebnisse erbracht: Bei internen Unternehmensprozessen sowie der Vermittlung der Unternehmensstrategien sei es nicht gelungen, die Mitarbeiter einzubinden und zu motivieren. Schlimmer noch: der sogenannte Employee Engagement Index, also der Orientierungswert, der die Identifikation der Mitarbeiter mit dem Unternehmen signalisiere, ist offensichtlich signifikant gesunken und liege nun „nur“ noch im Durchschnittsbereich der attraktivsten 25 Prozent der Unternehmen. Dem Aufsichtsrat scheint hier der Geduldsfaden mit seinem Vorstandsvorsitzenden gerissen zu sein.
Man wolle nun wieder „die Produktinnovationen mit den Kundenanforderungen“ zusammenbringen, hieß es in der eilig am Sonntag formulierten Erklärung. Diese Zielsetzung ist ebenso trivial wie essenziell. Die Pauschalität des Statements offenbart allerdings ein tiefes inneres Zerwürfnis. Als öffentlich gehandeltes Unternehmen muss SAP die Profitabilität hoch halten. Als Unternehmen, das mit seinen traditionellen Server-Lösungen leicht, aber eben doch kontinuierlich Marktanteile gegen jüngere und innovativere Anbieter verliert, ist aber ebenso Innovation gefordert. Das eine sollte durch die Anhebung der Wartungsbeiträge, das andere durch OnDemand-Angebote erreicht werden. Beides ist bislang nur beinahe erreicht worden. Offensichtlich hat der Aufsichtsrat auch hier das Ende des Langmuts erreicht.
Auch sonst werden mit Léo Apothekers Amtszeit Gesten in Verbindung gebracht, die alles andere als glücklich wirken: das Friedensangebot an Oracles Larry Ellison beispielsweise, das ein wenig hilflos und unmotiviert daherkam. Auch wenn der scheidende CEO die rechtlichen Auseinandersetzungen um TomorrowNow kaum alleine verantworten muss. Gelöst hat er sie auch nicht.
Knallen jetzt die Korken bei der SAP? Das Unternehmen ist mit 45.000 Mitarbeitern und einer vierzigjährigen Produktvergangenheit so beweglich wie ein Tanker unter Volllast im Suezkanal. Wenden ist nicht möglich – schon gar nicht in einem knappen Jahr. Aber Vollgas geben ist eine Alternative zum bisherigen Stop-and-Go: Großankündigung von Business by Design! Dann ein Jahr Pause zum Business Redesign. Vollgas bei der Wartung! Dann Rücknahme der Ankündigung. Das sind nicht unbedingt die Nachrichten, aus denen Anwender die Zuversicht für künftige Investitionsentscheidungen ziehen. Partner übrigens auch nicht.
Die personellen Entscheidungen lassen erkennen, dass SAP wieder stärker über Technologien auf ihren Markt einwirken will. Hasso Plattner machte vor allem auf die voraussichtliche Verfügbarkeit der In-Memory-Datenbank zur Sapphire in Orlando aufmerksam. Sie wird von dem Aufsichtsratsvorsitzenden seit langem mit aller Macht vorangetrieben. Ihre technologischen Hintergründe hatte nicht etwa Léo Apotheker auf der Influencer Conference in Boston gegenüber Analysten dargestellt, sondern Vishal Sikka, der als Chief Technology Officer nunmehr Vorstandsrang erhält. Und mit der Doppelspitze Jim Hagemann Snabe (Produktentwicklung) und Bill McDermott (Vertrieb) beendet SAP das Experiment, eine vertriebsgetriebene Company zu sein: Denn auch der Technologe Hasso Plattner wird sich künftig wieder stärker engagieren. Dann sind die Entwickler „happy“. Werden es Kunden und Partner auch?