SAP: Deutschland in der Nussschale

SAPs Vorstandsvorsitzender Christian Klein verbreitete bei der Vorstellung der Zahlen für das soeben beendete Geschäftsjahr Selbstbewusstsein, Angriffslust und Progressivität: „Unsere Stärke im Cloud-Geschäft ist offensichtlich.“ Ganz so offensichtlich ist diese Stärke aber wohl doch nicht, sonst müsste der Konzernlenker gar nicht erst darauf aufmerksam machen. Doch die Zahlen, die Klein vorlegte, sind auf den ersten Blick gar nicht so schlecht: Bei einem Umsatz von 27,8 Milliarden Euro kam ein Betriebsergebnis von 8,4 Milliarden Euro heraus. Das sind Zahlen, die ansonsten in der deutschen IT-Branche unerreicht sind.

Doch auf den zweiten Blick zeigt sich, dass SAP trotz des Auftriebs in der Wolke langsamer wächst als der globale Softwaremarkt und sich vor allem weniger dynamisch entwickelt als der weltweite Markt für Cloud-Services. Die „Stärke im Cloud-Geschäft“ ist also gar keine, nimmt man die internationalen Konkurrenten zum Vergleich. Amazon Web Services bleiben als Frühstarter in die Cloud unangefochten Marktführer mit einem Anteil von geschätzten 40 Prozent. In der Verfolgerposition holt Microsoft Jahr um Jahr gegenüber AWS auf und wächst kontinuierlich schneller als die gesamte Konkurrenz.

Microsofts Umsatz kletterte im gerade abgeschlossenen zweiten Fiskalquartal gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 20 Prozent auf 51,7 Milliarden Dollar. Der Nettogewinn erhöhte sich um 21 Prozent auf 18,8 Milliarden Dollar. Die Intelligent Cloud Group, zu der Azure und andere Cloud-Services zählen, steuerte 18,33 Milliarden Dollar zum Gesamtumsatz bei – und 8,20 Milliarden Dollar (plus 26 Prozent) zum operativen Ergebnis. Zum Vergleich: SAP erzielte übers Jahr gerechnet mit Cloud-Diensten 9,42 Milliarden Euro und damit rund die Hälfte von Microsoft Cloud-Umsätzen im Quartal!

Und doch ergehen sich deutsche Kommentatoren bei Berichten über SAP immer noch in Superlativen wie „Software-Tanker“ (Computerwoche) oder – wie die Tagesschau-Redaktion – schreiben von einer Konkurrenz, die SAP „im Nacken hängt“. Das Gegenteil ist der Fall: Die Konkurrenz eilt – wie Microsoft – davon oder zieht – wie Salesforce – gerade vorbei. Der CRM-Pionier beispielsweise peilt für sein aktuell laufendes Fiskaljahr 2022 ein Umsatzplus von 24 Prozent an und würde dann mit 26,4 Milliarden Dollar Jahresumsatz nahezu gleichauf mit SAP liegen – und das bei deutlich weniger breit aufgestelltem Lösungsportfolio.

Es scheint in der Natur der deutschen Technologie-Wahrnehmung zu liegen, die eigenen Leistungen zu überschätzen. Ob bei Investitionen in künstliche Intelligenz, in die europäische Cloud-Initiative Gaia-X  oder in der Elektromobilität – stets werden die eigenen Anstrengungen als gigantisch dargestellt, obwohl sie im Vergleich zu US-amerikanischen oder chinesischen Initiativen naturgemäß zwergenhaft wirken müssen. SAP ist insofern ein Spiegelbild der deutschen Selbstwahrnehmung in einer – wenn auch 27 Milliarden Euro großen – Nussschale.

SAP zahlt jetzt aber auch den Preis für jahrzehntelange Zögerlichkeit – und auch darin ist SAP ein Spiegelbild der deutschen Technologie-Politik. Den konsequenten Einstieg ins Cloud-Geschäft haben die Entscheider in Walldorf mehrfach verweigert, weil sie sich dem klassischen Lizenzmodell ihrer Vertriebsmannschaft und der ihrer Partner verpflichtet glaubten. Am Lizenzumsatz hängen Incentives und Karrieren. Der Weg in die Cloud aber führt über ein drei Jahre währendes Tal der Tränen, in dem der Umsatzeinbruch  beim Wegfall von Lizenzumsatz durch das Abo-Modell in der Cloud nicht wettgemacht werden kann. Dort hängt SAP immer noch fest. Und Wartungseinnahmen sind mit gut elf Milliarden Euro immer noch der größte Einzelposten im Sparten-Mix. SAPs Konkurrenten haben dies längst hinter sich und profitieren inzwischen von einem boomenden Markt.

SAP laboriert aber auch an einer weiteren deutschen Krankheit – dem „Komplexitäts-Komplex“. Mit S/4Hana ist die Produktlandschaft in Walldorf nicht einfacher geworden und die zahlreichen Zukäufe haben zwar Lücken im Lösungsangebot gefüllt, die Anwendungsarchitektur aber nicht einfacher gemacht. Der jetzt aktuelle Zukauf des Fintechs Taulia macht das Portfolio nicht gerade stromlinienförmiger.

„Der Weg in die Cloud geht für die Anwenderunternehmen mit einigen Herausforderungen einher“, warnen Christine Grimm, DSAG-Fachvorständin Transformation, und Thomas Henzler, DSAG-Fachvorstand Lizenzen, Service & Support gegenüber der Computerwoche. „Klassische ERP-Strukturen, wie Anwender sie aus der Vergangenheit im On-Premises-Kontext kannten, sind in der Cloud häufig zu komplex und lassen sich nur schwer in Einklang mit einer Cloud-Philosophie bringen.“ Da fällt es schwer zu glauben, dass die Anwender SAP nach der Cloud auch gleich ins Metaverse folgen werden. Auch hier will SAP mitmischen. Eine Ankündigung soll dieses Jahr folgen.

Auch da ist SAP wie Deutschland in einer Nussschale: der digitalen Transformation fehlt die Leichtigkeit, wie wir sie zum Beispiel in den USA beobachten können. Es wirkt alles schwerblütig und verzagt, um nicht zu sagen: Klein-Klein.

Das Metaversum schlägt zu

Seine Vision von einem Metaversum hat Mark Zuckerberg selbst so sehr überzeugt, dass er gleich sein ganzes Unternehmen umbenannt hat – aus Facebook wurde Meta, sonst ändert sich erstmal nichts. Oder doch? Seit die Vorstellung von einem alles und alle miteinander virtuell verknüpfenden kohärenten „Multiversum“ in der Welt ist, durch das wir in Gestalt unserer selbst geschaffenen Avatare streifen, kaufen, verkaufen, tauschen, chatten und – vor allem – spielen, dreht sich das Übernahme-Karussell immer schneller. Microsofts geplante Übernahme des Spieleherstellers Activision Blizzard für knapp 69 Milliarden Dollar in Cash ist nur der aktuelle Höhepunkt, aber sicher nicht das Ende dieses ganz realen Monopoly-Spiels um die Marktherrschaft im Metaverse.

Denn dies haben die Lenker der Tech-Giganten sofort begriffen, die im Kampf um die Weltherrschaft im Metaversum mitbieten. Erstens: das Metaversum wird kommen, koste es was es wolle. Zweitens: Das Metaversum wird ein Mega-Business. Und drittens: Wer an diesem Metaversum tatsächlich Geld verdienen will, braucht vor allem Content. Und Content steht in diesem Metaversum offensichtlich weniger für eine Wissens-Enzyklopädie wie Wikipedia, sondern vielmehr für zeitfressende Computerspiele, die bereits heute ihren zweifelhaften Charme dadurch entfalten, dass sie die Gamer in eine andere Welt entführen. Früher, als es nur eine Welt – und zwar die reale – gab, nannte man dieses Phänomen Eskapismus, vulgo; Weltflucht.

Dabei ist weder der Begriff „Metaversum“ eine Neuschöpfung des Silicon Valley, noch hat es bislang an Warnungen vor der Wirklichkeitsflucht durch virtuelle Welten gemangelt.

  • Das Metaversum wurde bereits vor genau drei Jahrzehnten Neal Stephenson in seinem Science Fiction-Roman „Snow Crash“ verwendet. Darin entwarf er eine Parallelwelt, in die die Menschen flüchten, um ihren harten Lebensbedingungen in der realen Welt zu entfliehen.
  • Auch Steven Spielberg schuf in seinem Film „Ready Player One“ eine virtuelle Realität, in die die Menschen mittels VR-Brillen fliehen. Die doppelbödige Ironie dabei: Um aus der dystopischen realen Welt zu entkommen, suchen sie Entspannung in einer virtuellen, aber ebenso dystopischen Welt.
  • Und schließlich weist auch die „Matrix“ auf ein Metaversum hin, in dem die Avatare so lebensecht sind, dass sie sich von ihren Originalen nicht mehr unterscheiden und Realität und Virtualität sich miteinander vermischen.
  • Und wer sich noch an die Neuromancer-Romane von William Gibson erinnert, weiß, dass man durch das Sprawl nicht nur der Realität entkommen kann, sondern in ihm auch überwacht wird.

Das alles sind Visionen, die so im Metaversum des Mark Zuckerberg nicht virtuelle Wirklichkeit werden müssen. Aber schon jetzt zeichnet sich ein Weg ab, in dem Computerspiele nicht länger nur ein Milliardengeschäft für sich sind, sondern der vielleicht entscheidende Content, ja sogar die Schlüsseltechnologie für die virtuelle Parallelwelt im Netz sein können. Wer wie jetzt Microsoft, mit Activision Blizzard einen Giganten der Game-Szene zu übernehmen versucht, kauft nicht nur einen Markterfolg wie „Call of Duty“, sondern zugleich eine Marke und nicht zuletzt die Technologie, um Avatare zum Leben zu erwecken.

Das Wettrennen ins Metaversum ist also längst eröffnet – und Facebook, pardon: Meta, ist keineswegs in der Pole-Position. Microsoft arbeitet schon länger ganz konkret an einem Leben im virtuellen Raum – nur dass bislang damit vor allem die Kommunikation in einer zeitlich und räumlich verteilten Arbeitswelt gemeint war. Und diese Aktivitäten haben durch die Corona-Shutdowns zusätzlich Auftrieb erhalten. Aber vor einem guten halben Jahrzehnt präsentierte Microsoft Konzepte und Lösungen wie Windows Holographic, ein virtuelles Computer-Interface, oder mit Holoportation eine Lösung, um Personen bei Videochats als Hologramm ins Büro zu bringen. Und mit der Plattform Microsoft Mesh zeigt Microsoft Pläne für ein Office im virtuellen Raum. Im Grunde sind dies schon Elemente des Metaversums, denn auf der Mesh-Plattform kann man als Hologramm auftreten und im dreidimensionalen virtuellen Raum interagieren.

Mit Microsoft Teams hat das Unternehmen sozusagen eine Einstiegsversion in die hybride Arbeitswelt geschaffen, die Dank Corona von Millionen Angestellten genutzt wird. Mesh setzt darauf auf, um das Office vollends zu virtualisieren. Aber die hybriden Arbeitswelten sind möglicherweise nur ein Nebenschauplatz im Metaversum. Der Homo Ludens, der spielende Mensch, will vor allem seiner Welt entfliehen und sich Ersatzbefriedigungen im Spiel holen. Deshalb will Microsoft knapp 69 Milliarden Dollar in Activision Blizzard investieren.

Auf diesem Weg liegt für Microsoft ein nicht ganz überraschender Stolperstein aus der realen Unternehmenswelt. Die jetzt zu übernehmende Company entspricht – vorsichtig ausgedrückt – in keiner Weise den Compliance- und Etiquette-Guidelines von Microsoft. Schon begehren Mitarbeiter auf, die in Activision Blizzard Sodom und Gomorrha erkennen. Sensibilisiert durch eigene Untersuchungen möglicher sexueller Übergriffe zu Zeiten von Bill Gates, warnen die Mitarbeiter vor der Übernahme dieses Ungeists.

Und auch die US-amerikanische Regierung hat plötzlich Bedenken – wenn auch aus ganz anderen Gründen. Sie will das Übernahme-Karussell wieder verlangsamen und Mega-Deals wie diesen künftig eindämmen. Dann würde das Metaversum nicht zuschlagen, sondern zurückschrecken. Es bleibt spannend – und vielleicht bleibt auch alles Science Fiction, egal ob damit eine Utopie oder eine Dystopie verbunden sein wird.

Deutschlands ITK-Szene: So gut, so schlecht

Deutschlands Anbieter für Informations- und Telekommunikationstechnik sind schlechter Dinge: Das im Auftrag des Hightech-Verbands Bitkom erhobene Stimmungsbarometer der Branche weist dies aus. Nach einem Stimmungshoch Mitte des vergangenen Jahres mit 40,5 Punkten sank der ifo-Digitalindex des Bitkom mit aktuell 24 Punkten wieder auf ein solides Mittelmaß. Ein Jahr wie 2021, als Unternehmen wie Privatpersonen intensiv in die Aufrechterhaltung ihrer Handlungsfähigkeit investierten, gibt es – so scheint die Branche zu fürchten – so schnell nicht wieder.

Aber so schlecht geht es der ITK-Industrie in Deutschland nun auch wieder nicht: 2021 wuchs der kombinierte Umsatz gegenüber dem Vorjahr um 3,9 Prozent auf 178,4 Milliarden Euro. Und für das neue Jahr rechnet der Bitkom mit einem Branchenumsatz von 184,9 Milliarden Euro. Neben den bereits in diesem Industriezweig beschäftigten 1,25 Millionen Menschen sollen weitere 39.000 Jobs geschaffen werden. Das wäre ein Wachstum um knapp drei Prozent.

Aber so gut ist das nun auch wieder nicht: Schon jetzt fehlen über alle Industriezweige hinweg rund 96.000 IT-Fachkräfte. Der Expertenmangel bremst nicht nur die Wachstumspotentiale der digitalen Transformation in Deutschland aus, er bringt uns auch im Innovationswettbewerb mit anderen Ländern weiter ins Hintertreffen. Deutschlands Anteil an den weltweiten ITK-Ausgaben geht Jahr für Jahr zurück und wird 2022 voraussichtlich noch bei 3,9 Prozent liegen.

Aber so schlecht ist das nun auch wieder nicht: Zwar sind Indien (plus 9,1 Prozent) und China (plus 5,3 Prozent) derzeit die unangefochtenen Wachstumsspitzenreiter, doch ihr Nachholbedarf ist ungleich größer als in den industrialisierten Ländern des Westens. Und wenn auch mehr als ein Drittel des ITK-Weltmarkts auf die USA (36 Prozent) entfallen und China mit deutlichem Abstand mit gut einem Neuntel (11,6 Prozent) dahinter folgt – diese Märkte sind allein wegen der deutlich größeren Bevölkerungszahl nicht unbedingt eins zu eins mit Deutschland zu vergleichen. Im Europa der nach wie vor gut abgeschotteten ITK-Märkte ist Deutschland unverändert der mit Abstand größte Einzelmarkt.

Aber so gut ist das nun auch wieder nicht: Seit Jahrzehnten ist SAP der alleinige Vertreter der IT-Branche auf Weltniveau, mit Abstand gefolgt vom ewigen Zweiten Software AG. Im Telekommunikationsmarkt darf man getrost die Deutsche Telekom zu den globalen Playern zählen. Doch der Rest rangiert unter „ferner liefen“. Keines der deutschen Startups hat es zu einer Weltgeltung gebracht, die auch nur annähernd mit der Marktposition von Google oder Facebook vergleichbar wäre. Und trotz einer erneut einsetzenden Konsolidierungsphase im Markt für Unternehmenssoftware ist kein weiterer Großanbieter für ERP, Cloud und eCommerce in Sicht.

Aber so schlecht ist das nun auch wieder nicht: Immerhin hat SAP ausweislich der jüngsten Geschäftszahlen nach einer Phase des Strauchelns wieder Kurs aufgenommen und wächst nunmehr im Cloud-Business mit 26 Prozent schneller als der Markt. Dass SAP vor mehr als einem Jahrzehnt den Markt für Cloud-basierte Anwendungen mit seinem innovativen Angebot namens Business by Design überhaupt erst geschaffen, dann aber nicht besetzt hat, ist einer alten deutschen Krankheit geschuldet: im Erfinden sind sie fix, doch mit Produkten wird es nix.

Aber unterhalb der Produktebene tut sich einiges. Immerhin sind mehr IT-Fachkräfte außerhalb der IT-Branche in Lohn und Brot als innerhalb des Industriesegments selbst. Der Durchdringungsgrad mit Spezialisten für Informationstechnologie und Telekommunikationstechnik ist in den anderen Leitbranchen – allen voran der Automobilindustrie, dem Maschinen- und Anlagenbau, dem Chemie- und Energiesektor – besonders hoch. Sie entwickeln Lösungen für Elektromobilität, smart Factories, smart Cities sowie moderne Materialien, die die Produkte von morgen beeinflussen und damit Umsatzpotentiale der Zukunft bieten. Daran ändert übrigens auch der anhaltende Trend ins Cloud Computing nichts, der gerade von mittelständischen deutschen Unternehmen nicht dazu genutzt wird, IT-Personal einzusparen, sondern intelligent umzuwidmen.

Es gibt angesichts von Klimawandel, digitaler Transformation und Innovationswettbewerb wahrlich genug Wichtiges zu tun, wofür es IT-Skills im eigenen Haus bedarf. Vermutlich besteht ja das größere Wertschöpfungspotential nicht in den ITK- Produkten und -Services selbst, sondern vielmehr darin, was man damit macht. Das wäre eine zweite Chance, die man nicht auslassen sollte.

Nachhaltige Nachzügler

Der Mittelstand in Deutschland gleicht einer Katze mit neun Leben – so oft ist ihm schon erfolglos der bevorstehende Tod vorhergesagt worden. Zugegeben, kleine und mittlere Unternehmen waren die letzten, die den klassischen Büroboten aufgegeben haben, jenen liebenswerten, leicht verschrobenen Mitmenschen, der das gesamte Dokumentenmanagement in seinem Aktenwagen vor sich her schob. Noch in den neunziger Jahren hat man sie vereinzelt durch die Verwaltung der Betriebe schlürfen sehen. Aber wer so lange gezögert hat, hat immerhin eine Reihe von Innovationen in der Büroautomatisierung einfach übersprungen, die jeweils als das Non-Plus-Ultra galten: Rohrpost, Microfiche, Datex P und – ja sogar ISDN. Nur das Fax überlebt – sozusagen als Bürobote 2.0.

Anders lief es beim Management der Fertigungsprozesse, weil dort der unmittelbare Nutzen sofort zu erkennen war – vor allem in den Bilanzen: von der Material-Bedarfsplanung über Produktionsplanung und –steuerung und Enterprise Resource Planning bis zu Electronic Data Interchange und Global Marketplaces zogen die Mittelständler getreulich mit, was ihre globalen Geschäftspartner ihnen vorgaben. Das hatte auch seinen Grund darin, dass mittelständische Unternehmen nur so ihren Platz in den globalen Lieferketten behalten konnten. Insofern war der Mittelstand auch hier eher Getriebener als Treiber.

Das scheint heute in Sachen Digitalisierung nicht anders zu verlaufen. Die von der Akademie der Wissenschaften ausgerufene „Vierte Industrielle Revolution“ – oder „Industrie 4.0“ – fand lange Zeit im Mittelstand keinen großen Widerhall. Erst hatte man wegen der vollen Auftragsbücher keine Zeit für sowas, dann kein Geld. Dann kam Corona und die digitale Revolution kam durch die Haustür ins Homeoffice. Und mit Lösungen zur Zusammenarbeit auch über räumliche Trennung hinweg wurden nicht nur Leben gerettet, sondern das Überleben ganzer Branchen gesichert.

Es ist bemerkenswert, wie schnell mittelständische Unternehmen reagieren können, wenn sie müssen. Darin schlagen sie ihre globalen Partner und erst recht die Öffentliche Verwaltung um Längen. Das zeigt sich jetzt – im dritten Pandemie-Jahr – auch mit Blick auf die vulnerablen Lieferketten. Neue Bezugsquellen, alternative Lieferwege, Online-Bestellungen und intensivierte Kundenkommunikation – all das steht inzwischen bei mittelständischen Managern ganz oben auf der Agenda. 60 Prozent der befragten mittelständischen Manager sagen dies. Oder sollte man sagen: doch nur 60 Prozent?

Denn die Corona-Wellen schlagen immer schneller zu. Es wäre gegen alle Wahrscheinlichkeit, dass nach der fünften, der Omikron-Welle, nicht doch noch eine sechste auftaucht. Mittelstandsforscher sehen eine Corona-Entlastung für den Mittelstand ab Sommer 2022. Doch ist zu befürchten, dass nicht alle kleinen und mittleren Unternehmen dieses Licht am Ende des Tunnels noch sehen werden. Die Bundesregierung hat im Dezember zügig die Mittelstandsbeihilfen erneuert, so dass die größte Not gemildert scheint.

Und schon kommt die nächste Herausforderung: der innovationsgetriebene Kampf gegen den Klimawandel. Er wird nicht nur die Lieferketten beeinflussen, in denen die Partner ihren Nachhaltigkeits-Nachweis erbringen müssen. Er  wird unmittelbar die bestehenden Geschäftsprozesse verändern – schon allein durch die CO2-Bepreisung, die künftig auch an EU-Grenzen für Importe erhoben werden soll. Da rechnet es sich womöglich künftig, Produktionsprozesse wieder in die Europäische Union, wenn nicht nach Deutschland zurückzuholen.

Und ein zweiter Punkt wird die Innovationskraft im Mittelstand fordern: der Mittelstand, besonders die Familienunternehmen, sind stark in  ihrer Region verbunden. Schon jetzt haben vor allem die im Familienbesitz befindlichen Unternehmen Nachhaltigkeits-Projekte angestoßen. Es könnte – bei aller Globalisierung – eine Klima-Innovation aus der Region heraus nach sich ziehen. Das wäre dann eine wahrhaft fünfte industrielle Revolution – ausgerechnet eingeleitet von den nachhaltigen Nachzüglern im Mittelstand.