Krise! Welche Krise?

„Damit hatten wir nicht gerechnet“, gestand Torsten Schmidt, Konjunkturchef am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung, dem Handelsblatt. Und Jens-Oliver Niklasch kommentierte in der FAZ, das alles sei „absolut verblüffend“. Der Grund: Die deutsche Wirtschaftsleistung war im dritten Quartal nicht wie vorhergesagt eingebrochen, sondern um 0,3 Prozent gewachsen. Und nicht nur das: damit stieg das  Bruttoinlandsprodukt erstmals wieder über das Vorkrisenniveau. Gemeint ist dabei nicht die Energiekrise, sondern die Corona-Krise. Damals – im dritten Quartal 2019 – lag die Wirtschaftsleistung ein Weniges unter dem heutigen Wert. Man ist versucht zu fragen: Krise – welche Krise?

Sind die Unternehmer, die unter ihren Energiekosten schier zusammenbrechen, nur von den Medien aufgeputschte Nörgler? Mitnichten! Es ist zu befürchten, dass das dicke Ende noch kommt. Denn der jetzige Konjunkturanstieg speist sich vor allem aus dem Nachholbedarf der privaten Verbraucher, die es im Sommerurlaub so richtig krachen ließen, wieder lange vermisste Dienstleister wie Friseur und Restaurants aufsuchten und sich „mal was gönnten“, wie die Konsumforscher der GfK feststellten. Das böse Erwachen mit Nachzahlungen zur Gas- und Stromrechnung kommt noch. Wie werden sehen, wie sich das auf das Weihnachtsgeschäft auswirken wird, wenn im Einzelhandel und bei den Konsumgüterherstellern die stärksten Umsatzmonate ausfallen.

Denn die Langzeitprognosen sind eben doch düster. Zwar erwartet die Bundesregierung ein Wirtschaftswachstum fürs ganze Jahr von 1,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr, doch im kommenden Jahr, wenn mit Corona, Russlandkrieg und Energiekosten alle Krisen zusammenfallen, erwartet die OECD für Deutschland einen Rückgang um bis zu 0,7 Prozent gerechnet. Das wäre noch glimpflich – aber das Gespenst der Rezession geht um in Europa.

Schon jetzt ist die Stimmung der Unternehmer im Keller. Zwar ist der Geschäftsklimaindex des Münchner Ifo-Instituts nur um 0,1 Punkt auf jetzt 84,3 Zähler gesunken – liegt aber eben doch deutlich unter dem Nominalwert von 100 Punkten. „Wir werden der Rezession nicht entgehen“, fürchtet ifo-Präsident Prof. Clemens Fuest – „auch wenn sie vielleicht nicht so drastisch ausfallen wird, wie viele befürchtet haben.“ Für die Stabilisierung nach dem deutlichen Einbruch in den Sommermonaten haben wohl die zuletzt guten Nachrichten geführt: Die Gasläger sind voll, der Gaspreis sinkt, das Wetter ist mild.

Doch da niemand wissen kann, was kommen wird und mit welchen Mitteln „der Mann im Kreml“ noch den Westen drangsalieren wird, stellen sich die Unternehmen auf das Schlimmste ein und verschieben alle Projekte, die sich verschieben lassen – allen voran die Investitionen in die digitale Transformation. Das ist durchaus gefährlich, denn wenn die Konjunktur wieder anzieht, sind es die digitalen Vorreiter, die dann schnell an Tempo gewinnen, während die Nachzügler den Versäumnissen hinterhertrauern. Das war schon vor Corona so, als vor allem der Mittelstand angesichts der vollen Auftragsbücher die Produktion hochgefahren hat und die Innovationen warten mussten.

Im Grunde genommen ist das die wahre Krise der deutschen Wirtschaft. Denn wieder wird versäumt, was doch so dringend notwendig ist, wenn die deutsche Wirtschaft im globalen Wettbewerb bestehen soll. Sonst droht statt „Made in Germany“ ein „Made in Overseas“. Deutschland ist das letzte Land des Westens mit einem vergleichsweise hohen Industrieanteil an der Wertschöpfung – und wird deshalb auch von der Rezession stärker getroffen als andere, befürchtet die OECD.

Dass die Unternehmen weltweit ihre Digitalprojekte sistieren, bekommen gerade die großen US-amerikanischen Technologieunternehmen zu spüren, die im zurückliegenden Quartal durch die Bank mit schwachem Wachstum und negativen Aussichten für Negativschlagzeilen sorgten. Das hat Folgen an der Börse. Um zusammengenommen 2,5 Billionen Dollar ist deren Marktkapitalisierung gesunken. Der Aktienkurs von Meta brach um dramatische 25 Prozent ein. Dagegen wirken die minus 9 Prozent von Alphabet, die minus 7 Prozent von Amazon und die minus 6 Prozent von Microsoft bescheiden. Dabei stecken die Tech-Giganten auch weiterhin tief in den schwarzen Zahlen. Aber das Signal ist gesetzt.

Die Corona-Krise hatte den Tech-Unternehmen höchste Wachstumsraten und satte Gewinne geliefert, weil Unternehmen im Lockdown ihre informationstechnische Infrastruktur umbauen mussten. Das ist inzwischen abgeschlossen. Für Neues fehlen derzeit Geld und Nerven. Und der Wechsel in die Cloud stärkt zwar auf lange Sicht die Einnahmen aus Abonnements, senkt aber kurzfristig den Gewinn, wenn Lizenzgebühren entfallen. Und wenn die Konjunktur abflaut, sinken die Aktivitäten in den digitalen Medien, wodurch auch dieser Geldhahn weniger stark liefert.

Wenn die Flaute anhält, könnte es für die Tech-Giganten schwierig werden, die die erheblichen Ausgaben in Forschung und Entwicklung, in ihre globale Präsenz und in ihre Cloud-Rechenzentren weiter stemmen müssen. Ihr Geschäftsmodell ist auf fortgesetztes Wachstum im großen Stil ausgerichtet. Es wäre vielleicht die nachhaltigste Krise, mit der die Wirtschaft zu kämpfen hätte, wenn die Digital-Lieferanten nicht mehr so performen, wie wir das gewöhnt sind. Dann würde auf die Energiekrise eine Digitalkrise folgen.

Mehr durch Weniger

Cyril Northcote Parkinsons erstes Gesetz von der Arbeit, die sich proportional zur Zeit ausdehnt, die für sie zur Verfügung steht, klingt wie die Leitplanken, an denen der Wirtschaftsstandort Deutschland seit Jahrzehnten vorbeihangelt. Nur, dass hierzulande sich die Erledigung der Arbeiten noch über das Zeitmaß hinaus verzögert. Ob die Fertigstellung des Berliner Flughafens immer wieder verschoben wurde oder der Abbau der Bürokratie ebenso schleppend vor sich geht wie der Aufbau einer digitalisierten Welt – immer wieder werden Ressourcen wie Zeit und Geld, Geist und Geduld nachgeschoben, ohne dass wir uns den gesteckten Zielen auch nur nähern. Gaia-X, die souveräne Datencloud, macht da ebenso wenig eine Ausnahme wie der Umbau der Energiewirtschaft oder der Ausbau der 5G-Netze.

Weniger bekannt ist Parkinsons zweites Gesetz – auch Trägheitsgesetz genannt: „Verzögerung ist die tödlichste Form der Verweigerung.“ Doch diese soziologische These feiert bedauerlicherweise in den Kernbereichen der deutschen Industrie fröhliche Urstände. Sie verweigert seit Jahren die digitale Transformation in praktisch jeder Daseinsform: die Automobilindustrie verschläft die Elektromobilität und die Mobilitätswende, die Photovoltaikbranche verpennt die Energiewende, die Pharmaindustrie übersieht – mit Ausnahme des Startups BioNTech – die Pandemien. Und der Mittelstand beharrt auf seinen überkommenen Geschäftsmodellen, weil – wie der Österreichische Philosoph Martin Buber postulierte – man alles ändern müsste, wenn man etwas ändern will.

Die Langsamen bremsen die Schnellen. Das spürt sogar die deutsche SAP, die in ihrem 50. Jahr der Existenz in Sachen Innovation ohnehin eher einer Schildkröte als einem Hasen gleicht. Ihre Kunden gehen den Weg in die Cloud nur äußerst zögerlich und verlängern damit das Tal der Tränen, durch das SAP hindurchmuss, wenn es vom klassischen Lizenzmodell zum Mietmodell wechseln will. Und gleichzeitig wollen die großen Kunden auch nicht mehr endlos in den Moloch der SAP-Anwendungen investieren, die sich längst im Dschungel ihrer Algorithmen als hinderlich auf dem Weg in die digitale Runderneuerung erweisen.

Inzwischen entwickeln sich die US-amerikanischen und chinesischen Tech-Konzerne in einer Geschwindigkeit weiter, mit der die Abnehmer ihrer Produkte – zum Beispiel der deutsche Mittelstand – praktisch nicht mehr mithalten können. Frappierend deutlich wurde das auf der jüngsten Entwickler-Konferenz von Microsoft, auf der mehr als 100 Weiterentwicklungen der Lösungsplattformen von Azure bis Windows vorgestellt wurden. Allen voran sind es Lösungen der künstlichen Intelligenz, die sich hinter diesen Plattformen verbergen, die ein technisches Innovationstempo mit sich bringen, das jedem mittelständischen IT-Spezialisten den Atem rauben muss, der zwischen Cyber-Security und Kundenbeziehungsmanagement gar keine Zeit mehr findet für die Weiterqualifizierung im – zum Beispiel – Metaversum. Man möchte meinen, weniger Innovation wäre mehr Fortschritt.

Im Ergebnis lebt Parkinsons zweites Gesetz weiter – und die Verweigerung der technischen Innovation führt zur Gefährdung der eigenen wirtschaftlichen Existenz in Zeiten der sich überlappenden Krisen. Und es scheint, als gäbe es daraus keinen Ausweg. Denn je komplexer die digitale Welt und ihre Lösungsangebote werden, desto schmerzhafter wirkt sich der Fachkräftemangel im Bereich der Informationstechnik aus. Es fehlt an Menschen, die aus den Angeboten Visionen kreieren. Und erst recht an Menschen, die diese Visionen in zukunftsweisende Digitalstrategien umsetzen. Und der einfache Anwender ist froh, nicht weiter dazulernen zu müssen.

Doch es gibt Hoffnung – und sie besteht gerade im Weniger als im Mehr. Es ist abzusehen, dass die Gestaltung der Wirtschaft und der sie tragenden Geschäftsmodelle wieder in die Hände der Prozess-Owner und Stakeholder gegeben wird, die mit ihrem Branchenwissen und ihrer Erfahrung den Laden bisher auch ohne digitale Transformation am Laufen hielten. Und es sind ausgerechnet Elemente der künstlichen Intelligenz, die dabei helfen werden. Immer seltener benötigen Anwendungsentwickler tatsächlich Informatik- oder Programmierkenntnisse, wenn sie einen Prozess digital gestalten wollen. Immer mehr Entwicklungsumgebungen versprechen Gestaltungsmöglichkeiten durch Low-Code oder gar No-Code. Ein Click, ein Drop reichen aus, um Beziehungen zwischen Objekten zu „programmieren“ und damit Prozessschritte an Prozessschritte zu reihen. Niemand dürfte dazu besser geeignet sein als der agile Facharbeiter, der Wirtschaftsingenieur oder Betriebswirt. Käme es dazu, gäbe es keine Entschuldigung für die Trägheit.

Dann ließe sich Mehr durch Weniger erzielen. Die Planer bei Microsoft scheinen das zu ahnen – denn unter genau diesem Motto haben sie in diesem Jahr ihre Entwicklerkonferenz ausgerichtet. SAP, pass auf!

Ein Land am Tropf

Erst gab´s die Bazooka – das war zu Beginn der Corona-Pandemie. Dann gab´s den Wumms angesichts der zersprengten Lieferketten. Jetzt gibt es den Doppel-Wumms gegen die explodierenden Energiekosten. Und das Ergebnis? Volkes Stimmung wendet sich gegen die da oben, weil sie „nichts“ tun. Oder höchstens einen Tropfen auf den heißen, aber in diesem Winter allmählich erkaltenden Stein fallen lassen. Und die Gaspreisbremse kommt erst, wenn der Winter vorbei ist und sowohl die privaten Haushalte als auch die mittelständischen Unternehmen vor dem Offenbarungseid stehen könnten.

Dabei – kein Staat kann dauerhaft gegen hohe Energiepreise ansubventionieren. Dieser Versuch wäre nicht nur kontraproduktiv, weil er zwar den Energiepreis senkt, dafür aber auch die Bereitschaft, Energie einzusparen und die Amortisation von Investitionen in alternative Energien auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verlängern würde. Es würde aber auf lange Sicht die Marktregeln aushebeln, wenn die Nachfrage künstlich hochgehalten wird, während das Angebot – wie jetzt durch die aktuellen OPEC-Beschlüsse geschehen – ebenso künstlich verknappt wird.

Diese Zeiten werden in die Geschichte eingehen als die Monate und Jahre, in denen sich das globale Energieregime grundlegend wandelt und die Abhängigkeit von fossilen Energien durch die Abhängigkeit von Sonnenlichtverwöhnten, Wasser- und Windkraftnutzern und Uranbesitzern ersetzt wird, die grünen Wasserstoff, Atomkraft liefern oder den Strom direkt in globale Netze einspeisen können. Nur wie werden Gesellschaft und Wirtschaft aussehen, wenn in diesem Tal der Tränen die Zahl der Privatinsolvenzen und Geschäftsaufgaben in die Höhe schnellen? Haben wir dann überhaupt genügend Industrielle?

Wir sind ein Land am Tropf. Wir waren es schon immer – aber jetzt tut es allmählich weh. Die Subventionitis hat uns zu einer verzagten Republik gemacht, die sich am Überlebenswillen der Ukraine ein Vorbild nehmen müsste, wenn das nicht zu pathetisch klingen würde. Das Baltikum hingegen – Estland, Lettland und Litauen – hat uns gelehrt, wie man aus dem europäischen Hinterhof binnen kurzem in die digitale Spitzengruppe aufsteigen kann und dabei zugleich in der NATO militärisch gerüsteter Frontstaat sein kann. Natürlich ist es leichter, ein Gebiet von der Größe Niedersachsens digital auf Vordermann zu bringen. Aber gäbe es denn ein Bundesland, in dem wir eine vergleichbare Erfolgsgeschichte vorzuweisen hätten?

Nun betreiben wir also Rabulistik und nennen Schulden nicht mehr Schulden, sondern Kredite und Kredite Sondervermögen. Dabei werden bereitgestellte Mittel noch nicht einmal richtig und vollständig abgerufen, wie zum Beispiel der Digitalpakt Schule beweist. Nach einer Studie der Universität Hildesheim und des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung aus dem vergangenen Mai sind von den bereitgestellten 6,5 Milliarden Euro nicht einmal zehn Prozent tatsächlich geflossen und gerade einmal gut zwei Milliarden Euro im Rahmen von Schulprojekten beantragt. Und schlimmer noch: erst ein Drittel der Schulen in Deutschland verfügt über ein belastbares W-LAN. Wie soll da digitaler Unterricht möglich und Medienkompetenz vermittelt werden?

Nicht viel anders sieht es bei den KfW-Förderungen für Innovationsprojekte im Mittelstand aus. In beiden Fällen – Schule und Mittelstand – sind die bürokratischen Hürden oftmals zu hoch, um die Förderanträge schnell und erfolgversprechend durch die Instanzen zu bringen. Ähnlich läuft es bei der Energiewende, bei der die Bürokratie die Betreiber von Solaranlagen daran hindert, die fertigen Systeme in Betrieb zu nehmen, weil die notwendigen Zertifikate fehlen. Und diese fehlen nur deshalb, weil es am Personal fehlt, die nötigen Zertifikate auszustellen.

Kaum anders wird es mit dem jetzt beschlossenen Bahnticket für den bundesweiten Nahverkehr für 49 Euro laufen. Schon die drei Monate Testbetrieb mit dem Neun-Euro-Ticket – ohne Frage ein Erfolgsmodell der Subventionierung – haben bewiesen, dass die Bahn-Infrastruktur für einen möglichen Ansturm auf die Nahverkehrslinien überhaupt nicht ausgelegt ist. Es fehlt an Schienen, Zügen, Personal und damit schließlich an Linien, die den Bedarf überhaupt bedienen könnten. Nicht anders bei den Buslinien im ÖPNV, die vor allem dort ausgedünnt wurden, wo sie am dringendsten benötigt werden – nämlich auf dem Lande.

Wir sind ein Land am Tropf, das überall dort, wo Investitionen überfällig sind, das Schlimmste mit Subventionen zu heilen versucht. Das geht lange gut – denn die Gelddruckmaschine arbeitet auf Hochtouren. Aber es hilft nicht gegen unsere eigentlichen Probleme. Wir müssen raus aus dieser Verzagtheit und mehr Mut – auch zum Risiko – schöpfen. Wir brauchen Adrenalin im Tropf, nicht Valium.

Abbauen oder abhauen?

Früher war alles besser. Sogar die Krisen waren besser – oder zumindest fairer: Sie wechselten sich ab und gewährten Wirtschaft und Gesellschaft zwischendurch eine Auszeit zur Erholung – oder wie man jetzt sagt: zur Resilienz. Im 21. Jahrhundert kommen die Krisen lediglich zeitversetzt, türmen sich dann aber auf und führen zu multiplen Herausforderungen. Wie sehr sich alles verdichtet, zeigt eine kleine Auflistung: Dotcom-Blase 2000, Finanzkrise 2008, Schuldenkrise 2011, Krimkrise 2014, Flüchtlingskrise seit 2015, Brexit seit 2017, Corona-Krise seit 2020, Lieferkettenkrise seit 2021, Energiekrise seit 2022 und über allem die Klimakrise, die sich kontinuierlich verschärft.

Es ist praktisch unmöglich, in diesen Zeiten eine tragfähige Zukunftsperspektive zu entwickeln – das gilt für unternehmerische Visionen ebenso wie für die individuelle Lebensplanung. Soll man die Produktion drosseln, weil die Energiekosten jeden Gewinn auffressen? Soll man Konsumzurückhaltung üben, weil die Inflation inzwischen zehn Prozent erreicht hat? Soll man alternative Rohstoffquellen suchen, weil die bewährten Lieferketten nicht mehr funktionieren? Soll man Kerzen, Mineralwasser und Toilettenpapier auf Vorrat einkaufen, weil der Winter dunkel und kalt zu werden droht?

Europaweit ist der Wohlstand in Gefahr – das gilt für die Briten, die ihre Mangelwirtschaft durch den EU-Austritt selbst forciert haben, ebenso wie für die Russen, deren Gesellschaftsleben durch Kriegssanktionen und Teilmobilmachung ins Wanken gerät. Und es gilt für die deutsche Bevölkerung auf ganz besondere Weise, weil der Wohlstand hierzulande auch an dem vergleichsweise hohen Grad der Industrialisierung in der Wertschöpfung hängt. Denn das jetzige Krisengemenge könnte das Ende des „Geschäftsmodells Made in Germany“ sein. Betriebe stehen vor der Wahl: Produktion abbauen oder abhauen – zum Beispiel zu Auslandsstandorten, an denen man noch zu erträglichen Wettbewerbsbedingungen Waren herstellen kann.

Das Gespenst der Deindustrialisierung hat – nach langem Widerstand in der deutschen Wirtschaft – nun auch unser Land erreicht. Andere westliche Wohlstandsnationen haben den Weg raus aus der industriellen Fertigung längst vollzogen und ihr Heil im Dienstleistungssektor gesucht. Allen voran die Briten, die seit der Thatcher-Ära das Produzieren verlernt zu haben scheinen: Britannia rules the world of Finance – und ist dadurch inzwischen anfällig geworden für Krisen wie kaum ein anderes Land der westlichen Welt.

Aber die Zahlen zeigen ein eindeutiges Bild. Unter den wirtschaftsstarken Nationen haben nur noch China und Russland einen höheren Industrialisierungsanteil an der Wertschöpfung als Deutschland, der derzeit bei rund 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt. In Frankreich (16 Prozent), Großbritannien und den USA (17 Prozent) liegt er deutlich niedriger. Doch der schleichende Exodus der Industrieproduktion ins Ausland hat auch hier längst eingesetzt. Kamen 1990 noch nur rund zehn Prozent der Waren aus dem Ausland auf den deutschen Markt, sind es im vergangenen Jahr schon knapp ein Viertel gewesen. Wenn sich die Betriebe jetzt fürs langfristige Auslagern entscheiden, dürfte sich diese Entwicklung beschleunigen.

Dabei hatten wir noch mitten in der Corona-Pandemie die schmerzhaften Lehren aus zuviel Outsourcing und Offshoring gezogen, als die Lieferketten zusammenbrachen und sich bis heute – insbesondere durch die Zero-Covid-Strategie in China – nicht erholt haben. Und wir haben auch feststellen müssen, wie gefährlich es sein kann, wichtige Industriezweige, Kernprozesse und Knowhow erst zu verlagern und dann zu verlieren. Von der Pharmaproduktion über die Solarenergie bis zur Batteriefertigung hat die Deindustrialisierung immer das gleiche Ergebnis gezeitigt: Abhängigkeit von Dritten.

In die Abhängigkeit ist Deutschlands Wirtschaft allerdings ohne es sich jemals richtig einzugestehen, auch zuvor schon geraten. Denn die energieintensiven Industrien mussten immer schon zukaufen, wenn sie wettbewerbsfähig sein wollten. Auf die heimische Kohle folgten Kohleimporte, auf die Erdölimporte folgte der Ölpreisschock – und auf das Russengas folgte der Energiekrieg. Das „Geschäftsmodell Made in Germany“ war immer schon am Tropf der internationalen Energielieferanten. Jetzt soll grüner Wasserstoff aus Nahost und Kanada langfristig den Ausweg weisen. Auch das wäre eine Abhängigkeit – aber sie würde deutsche Industriearbeitsplätze sichern.

Ohnehin dürfte der Schritt ins Ausland den internationalen Konzernen leichter fallen als den an die eigene Region emotional und personell gebundenen mittelständischen Familienunternehmen. Doch angesichts der galoppierenden Energiekosten bliebe ihnen nur die Cholera statt der Pest – nämlich Abbauen statt Abhauen. Auch das führte dann in die Deindustrialisierung.