Bedingt abwehrbereit

Es gibt mal wieder Anlass, den Kopf zu schütteln über die Zustände „in diesem, unseren Lande“, um eine Floskel des verstorbenen Bundeskanzlers Helmut Kohl zu verwenden. Der wusste ja bekanntlich nicht zwischen Bundesautobahnen und Datenautobahnen zu unterscheiden – was heutzutage auch nicht mehr möglich ist, weil beide gleichermaßen in einem schlechteren Zustand sind als im europäischen Vergleich. Noch bedenklicher ist aber, dass nach dem aktuellen Bericht der EU-Kommission über den digitalen Fortschritt in Wirtschaft und Gesellschaft gerade mal die Hälfte der Bundesbürger über digitale Grundkenntnisse verfügt. EU-weit sind es durchschnittlich 54 Prozent – auch nicht gut, aber immerhin besser.

Überhaupt „digitale Grundkenntnisse“: Dazu gehören laut Kommissionsbericht Fähigkeiten wie das Lesen von Online-Nachrichtenseiten, die Suche nach Informationen im Netz oder die Überprüfung von Quellen. Das ist Klötzchen-Niveau! Zu den digitalen Grundkenntnissen sollte eher das Basisverständnis gehören, wie Tastatur, Hauptspeicher, Festplatte und Monitor miteinander kooperieren, oder wie – wenn schon nicht das Programmieren selbst – dann wenigsten die Individualisierung von Anwendungen mit Hilfe von „No Code / Low Code“ funktioniert. Aber das scheint nach dem Verständnis der EU-Kommission bereits ebenso zum Fachwissen zu gehören wie das Wissen über Gefahrenpotenziale im Internet. Hier sind Wirtschaft und öffentliche Hand offensichtlich derzeit nur „bedingt abwehrbereit“.

Da klafft eine Bildungslücke vom Ausmaß einer Schlucht. Sie wirft einen Schatten über das wahre, verheerende Ausmaß des digitalen Fachkräftemangels vor allem in mittelständischen Unternehmen. Die Arbeitskräfte, die das Internet seit 1969 live haben entstehen sehen, sind schon in Rente, die Generation WWW hat bereits die Frührente im Visier. Dass die Jüngeren, die mit den digitalen Technologien aufgewachsen sind, nicht über bessere digitale Kenntnisse verfügen, lässt einen geradezu verzweifeln. Soviel Bildungsnotstand war nie – und auch hier sind wir nur „bedingt abwehrbereit“.

Dabei können wir uns einen Bildungsnotstand weder bei grundlegenden Lese- und Schreibkenntnissen noch in den vier Grundrechenarten oder eben bei digitaler Kompetenz überhaupt nicht leisten. Unsere wirtschaftliche – und wohl auch intellektuelle – Zukunft hängt davon ab. Wenn im Mittelstand die digitale Visionskraft vermisst wird, dann offensichtlich wohl auch, weil mangels digitaler Grundkenntnisse die Vorstellungskraft für neue Geschäftsmodelle und digitale Prozesse fehlt.

Doch die Vorteile gerade in diesen krisengeschüttelten Zeiten sind kaum zu übersehen, wie eine weitere aktuelle Studie über die Resilienz von Unternehmen beweist. Wer früh in digitale Prozesse investiert hat, kann schneller auf neue Märkte und neue Produktangebote ausweichen, kann flexibler auf unterbrochene Lieferketten reagieren und nach Lockdowns, Sanktionen und Homeoffice die eigenen Prozesse schneller wieder hochfahren. Wer in seiner „listenreichen“ Vergangenheit verharrt, reagiert auf Veränderungen dagegen in der Regel zu spät, zu langsam und ist auch hier gegenüber Krisen nur „bedingt abwehrbereit“.

Das ist bei weitem kein Phänomen, das auf den Mittelstand beschränkt ist. Wie wenig stressresistent Deutschlands digitale Infrastruktur ist, konnte man jetzt am Zustand der „elektronischen Steuerklärung“ – Elster – beobachten, die erst nur langsam und eingeschränkt funktionierte, dann aber ganz vom Netz genommen werden musste. Der Grund: die Neuregelung der Grundsteuer für Wohnungen, Häuser und Grundstücke, die Eigentümer dazu verpflichtet, eine neue Grundsteuererklärung abzugeben.  Zu viele Bundesbürger wollten offensichtlich gleichzeitig Dokumente up- oder downloaden…

Eine stressresistente und resiliente digitale Infrastruktur ist denn auch das Ziel des 30 Seiten umfassenden Entwurfs einer Digitalstrategie der Bundesregierung, die „ambitionierte und überprüfbare Ziele setzen sowie realistische und schnell spürbare Maßnahmen“ ermöglichen soll, wie es schon im Koalitionsvertrag heißt. Doch das erste Ziel ist schon gerissen: der Entwurf sollte eigentlich noch vor der Sommerpause im Kabinett beschlossen werden. Jetzt geht man erst einmal in die Sommerfrische. Digital kann warten.

Aber eigentlich gibt es auch gar nichts zu befinden, weil der Entwurf nur vage Absichtserklärungen enthält. „Wir wollen uns 2025 daran messen lassen, ob sich der Digitalisierungsgrad des deutschen Mittelstandes signifikant verbessert hat“ oder „ob die Cybersicherheitsstrategie weiterentwickelt ist und Fortschritte bei der Modernisierung der staatlichen Netzinfrastrukturen erzielt wurden.“ So schwammig lauten derzeit die angeblich überprüfbaren Ziele. Noch auf der Digitalkonferenz re publica hatte Bundesverkehrsminister Volker Wissing, der im Nebenjob auch für das Digitale zuständig ist, gemeint, da müsse noch „mehr Butter bei die Fische“. Konkreter ist er aber auch nicht geworden. Der Hightech-Verband Bitkom kann da auch nur noch lakonisch reagieren und meint zum „dünnen“ Entwurf, hier müsse „mehr als nur nachgeschärft werden“. Setzen Sechs!

Derweil digitalisieren wir weiter auf Sicht und ohne Kompass. Wie gefährlich das sein kann, beweist die Studie über Gefährdungen aus dem Cyberraum, die jetzt gerade für mittelständische Unternehmen eine besondere Gefahrenlage offenlegt. Die Gefahr ist deshalb hoch, weil das Gefährdungspotential durch Angriffe aus dem digitalen Raum nach wie vor völlig unterschätzt wird. 69,5 Prozent der von CyberDirekt für die Studie „Risikolage 2022“ befragten mittelständischen Unternehmen fühlen sich aktuell nicht von einem Cyber-Angriff bedroht.

Das passt: Denn nur 26,6 Prozent der Befragten gaben an, innerhalb der letzten zwei Jahre Opfer eines Cyber-Angriffs geworden zu sein. Besonders hoch ist die Zahl unter den IT-Unternehmen mit 40,5 Prozent, eher gering ist sie bei Unternehmen der Dienstleistungsbranche mit 16,7 Prozent. Die Dunkelziffer dürfte freilich deutlich höher liegen. Denn noch gilt es als Tabu, Opfer von Hacker-Angriffen gewesen zu sein. Doch auch das Gefahrenbewusstsein gehört übrigens zu den digitalen Grundkenntnissen, bei dem es offensichtlich Nachholbedarf gibt. Wenn sich das nicht ändert, bleibt unsere Wirtschaft auch hier nur „bedingt abwehrbereit“.

Fördern und fordern

Die heutige Zeit dürfte einmal als ideales Demonstrationsobjekt für volkswirtschaftliche Zusammenhänge und betriebswirtschaftliche Zwänge herhalten können. Denn noch nie seit den 1970er Jahren war die Herausforderung so groß, einerseits die privaten Haushalte zu fördern, andererseits aber die Wirtschaft zu stützen. Die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) hatte im Bundestagswahlkampf vor ziemlich genau 50 Jahren mit dem Slogan plakatiert: „Preise runter, Mieten runter, Löhne rauf!“ Und für viele in der heutigen Wirtschaftsdebatte stehen genau diese drei Forderungen wieder ganz oben auf der Agenda – ohne dass sie auch nur im Entferntesten dem Verdacht ausgesetzt wären, mit kommunistischem Gedankengut zu sympathisieren. Von den Gewerkschaften bis in die Arbeitgeberverbände zieht sich hier ein gemeinsamer „roter“ Faden, der nun auch von Bundeskanzler Olaf Scholz in einer Neuauflage der Schillerschen „Konzertierten Aktion“ (Bild) aufgerollt wird. Alle drei Forderungen bergen schließlich gehöriges wirtschafts- und gesellschaftspolitisches Sprengpotenzial.

Denn tatsächlich – genau um diese drei Forderungen geht es derzeit:

„Preise runter“ – das ist angesichts einer Inflation von annähernd acht Prozent nicht nur wichtig, um die Lebenshaltungskosten in den Griff zu bekommen. Die Wirtschaft braucht auch den privaten Konsum, der gerade jetzt durch die ausufernden Energiekosten gekappt wird.

„Mieten runter“ – die Debatte um einen Mietpreisdeckel läuft seit Jahren und wird vor Gerichten verhandelt. Aber der geplante Bau von günstigen Wohnungen, der einen Ausweg aus dem Teufelskreis bieten würde, gerät ins Stocken weil sowohl Handwerker als auch Baumaterialien fehlen. Schuld daran ist nicht allein Putins-Krieg, sondern auch die an den großen Seehäfen unterbrochenen Lieferketten.

Und „Löhne rauf“? Gerade hier geht der nervöse Blick auf die kommenden Tarifabschlüsse, die der mittelständischen Wirtschaft neben Energiekosten, Transformationskosten und steigenden Rohstoffpreisen einen zusätzlichen Kostenklotz ans Bein binden könnten.

Doch was ist mit denen, die keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben? Es ist deshalb durchaus folgerichtig, dass das von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil verfolgte Bürgergeld und die mit der Arbeitsmarktreform verbundenen Regelungen im Mittelstand auf ein gemäßigtes „Ja, aber“ stoßen. Denn grundsätzlich, so sagt es der Bundesverband der mittelständischen Wirtschaft in Person ihres Verbandsvorsitzenden Markus Jerger, kann man mit den vorgestellten Plänen leben. Doch mehr Fordern statt fördern sei angesichts der notwendigen Wiederbelebung des Arbeitsmarkts dringend geboten. Die Wiedereingliederung in die Arbeitswelt sollte der Königsweg sein, das „Hartzen“ dagegen immer schwieriger werden.

Bei all dem lässt sich ein Blick in die Querdenker-Szene kaum vermeiden, in denen Menschen zu finden sind, die von Corona, über Putins-Angriffskrieg bis zum 5G-Ausbau alles bestreiten – nur nicht den eigenen Lebensunterhalt. Für sie ist das geplante Bürgergeld auch ein gemachtes Bett, auf dem man weiterhin gut chillen könnte, wenn man nicht so aufgebracht über „die da oben“ wäre. Viele dieser bisher „Hartzer“ genannten Sozialschmarotzer haben nie wirklich dem Arbeitsmarktpotential zur Verfügung gestanden. Ihr Anspruchsdenken richtet sich immer nur an die Leistungen anderer, nie aber an die eigene Person. Auch Jerger muss konstatieren: „Zwei Drittel der Arbeitssuchenden haben keinen Abschluss.“

Doch von diesem Typus sollten wir unser Arbeitsmarktbild nicht verderben lassen. Die überwiegende Mehrheit der Arbeitssuchenden will zurück in die sozialversicherungspflichtige Anstellung und ist bereit, dafür Qualifizierungsmaßnahmen zu durchlaufen, die langfristig mehr bringen als Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Helferjobs, zu denen Langzeitarbeitslose bislang herangezogen werden. Die Förderung nachgeholter Bildungsabschlüsse muss deshalb ein zentrales Element der Arbeitsmarkt- und Sozialstaatsreform sein. Und sie muss auch mit den notwendigen Forderungen untermauert sein.

Nun ist Fördern und Fordern auch ein Thema, das den Mittelstand selbst betrifft und trifft, wenn es um die gewünschten kostengünstigen Fördergelder aus der Kreditanstalt für Wiederaufbau geht. Denn dort sollte mehr digitales Engagement gefordert werden, wenn mittelständische Projekte gefördert werden sollen. Das ist ein inzwischen seit einem Jahrzehnt anhängiges Thema. Die Attraktivität des Arbeitsplatzes hängt eben auch von der Attraktivität des Unternehmens ab, das sich modernen Geschäftsmodellen verschrieben und Routineaufgaben ans Cloud Computing übergeben hat. Wer dies geschafft hat – also fördert und mit Recht fordert – kommt nachweislich besser durch die Krise.

Allerdings: Je höher qualifiziert die Mitarbeitenden angesichts einer fortschreitenden Digitalisierung sein sollten, desto schwieriger wird es, die Arbeitskräfte aus dem Pool der Arbeitssuchenden zu rekrutieren. Sie zu qualifizieren – und nicht mit vergangenheitsorientierten Scheinmaßnahmen wie PowerPoint-Lehrgängen völlig fehlzuqualifizieren – ist die wichtigste Aufgabe rund um das Bürgergeld. Im Vergleich dazu rutscht die Frage, wie hoch dieses Bürgergeld ab dem 1. Januar des kommenden Jahres nun tatsächlich ausfallen wird, fast ins Nebensächliche. Fördern ist das Gebot der Stunde. Fordern kann man freilich immer.

Schwere Waffen für den Mittelstand

Mit zunehmender Penetranz verbeißen sich die sattsam bekannten Talk-Moderatorinnen und –toren in die Frage, wer wann über welchen Weg welche schweren Waffen an die Ukraine liefern wird, wo und durch wen die ukrainischen Soldaten im Gebrauch dieser Waffen ausgebildet werden und welche Firmen an der Lieferung des Geräts beteiligt sein werden. Es nervt wie die Frage der Kinder auf dem Rücksitz während der Fahrt in den Urlaub: „Wann sind wir da?“

Die Frage nach der Ankunft am Urlaubsort lässt sich in der Regel ebenso wenig präzise beantworten wie das nörgelnde Beckmessern der Talkisten, die immer im Nachhinein besser gewusst haben wollen, was richtig gewesen wäre. Dabei übersehen diese „Captains Hindsight“, dass es sich in der Regel um Staatsgeheimnisse handelt, die sie herauszupzzlen versuchen. FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann wusste sich letztens nicht anders zu helfen als mit dem Hinweis: „Ich will doch hier nicht in Handschellen hinausgeführt werden.“ Und auch weniger geheime Botschaften eignen sich nicht dazu, in den abendlichen Talkrunden herausposaunt zu werden: etwa die Frage, wann und über welche Route eine Lieferung an die Ukraine erfolgen wird. Ganz so einfach sollte man es der russischen Spionage nun auch nicht machen…

Andere – und mit Verlaub aus deutscher Sicht nicht minder wichtige – Themen werden indes von der Polittalk-Journaille weniger intensiv hinterfragt. Etwa die Frage, wie die Energiewende in der Wirtschaft gelingen soll. Gäbe es nicht den Welterklärer Robert Habeck, würde dieses Thema deutlich weniger transparent diskutiert. Oder die Frage, mit welchen Maßnahmen den Millionen mittelständischen Betrieben dabei unter die Arme gegriffen werden könnte, den multiplen „Wende“-Herausforderungen zu begegnen: Energiewende, Klimawende, Mobilitätswende, digitale Wende und Wende in der Gestaltung des Arbeitsplatzes. Hinzu kommen unterbrochene Lieferketten, Rohstoffknappheit, Fachkräftemangel und nicht zuletzt Finanzierungsprobleme. Bohrende Nachfragen würde auch der Themenkomplex lohnen, was genau der Mittelstand gerade unternimmt, um mit diesen multidimensionalen Problemen fertig zu werden. Aber Wirtschaftsthemen eignen sich nicht für die Quote im Fernsehen. Denn weder die Moderatoren, noch der größere Teil des Publikums verstehen wirklich etwas von wirtschaftlichen Zusammenhängen – und das trotz der Schwemme an BWL-Absolventen.

Dabei gibt es genug Studien über den „Stand im Mittelstand“, die man zitieren und kritisch hinterfragen könnte nach dem Motto: Wann werden die schweren Waffen für den Mittelstand geliefert, damit der Träger des Wohlstands in Deutschland in diesen krisengeschüttelten Jahren nicht vor die Hunde geht. Immerhin sechs Prozent der (kleineren) mittelständischen Betriebe sind aktuell bereits von der Insolvenz bedroht. Das entspräche rund 18000 Betrieben mit zusammengenommen schätzungsweise 150.000 Arbeitsplätzen. Besonders betroffen sind laut einer Datev-Untersuchung die Branchen Dienstleistung, Kultur, Gastronomie sowie die Freien Berufe.

Vor allem Steuerentlastungen sollen nach der Ansicht vieler Wirtschaftsinstitute und Mittelstandsvertreter Spielraum für mehr Innovation geben. Das kann allerdings nur gelingen, wenn die fiskalischen Vergünstigungen auch an Bedingungen geknüpft werden, wie zum Beispiel Investitionen in erneuerbare Energiequellen, zur Senkung des Energieverbrauchs, für mehr Nachhaltigkeit oder zur digitalen Aus- und Neugestaltung der eigenen Geschäftsprozesse. Denn der eigentliche Hinderungsgrund – auch das zeigen die Studien immer wieder auf – liegt nicht an den mangelnden finanziellen Mitteln, sondern an der fehlenden Perspektive und visionärem Unternehmertum. In sieben von zehn Unternehmen stockt derzeit die Arbeit am digitalen Umbau, sagt eine Studie von Roland Berger.

Dabei ist es frappierend, dass tatsächlich nur ein kleiner Teil der mittelständischen Unternehmen tatsächlich eigene kontinuierliche Ausgaben für Forschung und Entwicklung ausweist. Neun Prozent – also hochgerechnet immerhin rund 270.000 mittelständische Betriebe – stellen das innovative Rückgrat der deutschen Wirtschaft dar. Und das mit gutem Erfolg, wie die KfW ermittelt hat: Sie stehen für 69 Prozent der mittelständischen Innovationsausgaben, 54 Prozent des Umsatzes mit Produktinnovationen und 43 Prozent der Kosteneinsparungen durch Prozessoptimierung. Diese mittelständischen Betriebe beschaffen sich selbst ihre schweren Waffen.

Doch Forschung und Entwicklung sind nicht alles, wenn die unternehmerische Vision stimmt. Nach den Untersuchungen der KfW weisen 34 Prozent der mittelständischen Unternehmen keine regelmäßigen Ausgaben für Forschung und Entwicklung aus – und haben dennoch Innovationserfolge. Sie erzielen 34 Prozent der Umsätze mit innovierten Produkten und 43 Prozent der Effizienzsteigerungen durch Prozessinnovationen – letzteres ist ohnehin eine der Königsdisziplinen im deutschen Mittelstand. Sie arbeiten nach dem Motto: Erfolg schaffen auch ohne schwere Waffen.

Nach der Datev-Untersuchung, bei der die angeschlossenen Steuerberater über die Situation ihrer Mandanten befragt wurden, ist ein sattsam bekanntes Thema unverändert die Nummer Eins unter den Herausforderungen: vier von fünf Firmen leiden unter Fachkräftemangel. Erst danach kommen die wachsenden Energiekosten und die steigenden Rohstoffpreise. Dann folgt wieder ein altbekanntes Thema: Überregulierung und Bürokratie. Wie der Mittelstand gegen die Klassiker der Wachstumsbremse mit schweren Waffen vorgehen könnte, wäre ein Dauerthema für die Talkshows in den Abendprogrammen. Aber das bringt nun mal keine Quote – dafür aber Arbeitsplätze.

Kriegst du nicht, Alter!

„Leider“, so sagte kürzlich der Betreiber eines kommunalen Stadtwerks in einer dieser Polittalks, die sich wahlweise, aber immer besserwisserisch entweder um den Ukraine-Krieg oder den Gaskonflikt bemühen, „leider habe man in der Vergangenheit bereits erheblich in Energieeffizienz investiert.“ Gemeint war, dass es nun deutlich höherer Anstrengungen bedürfe, um dem von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck ausgerufenen Ziel nachzukommen, rund zehn Prozent Gasverbrauch einzusparen. Doch nur ein Bruchteil der mittelständischen Unternehmen hat bislang tatsächlich alle Optionen ausgeschöpft, um entweder den Gasverbrauch weiter zu reduzieren oder die Energiequelle ganz zu wechseln. Nicht alle „stehen dafür mit ihrem Namen“, wenn es darum geht, nicht einfach nur klimaneutral zu agieren, sondern sogar „klimapositiv“, was wie bei Coronatests negativ bedeutet: „Wir geben der Natur mehr zurück als wir von ihr nehmen“, verspricht beispielsweise Babynahrungsspezialist Stefan Hipp – auch wenn da ein wenig Greenwashing dabei sein dürfte.

Was für mittelständische Unternehmen gilt, gilt auch für private Haushalte: die Möglichkeiten, Energie einzusparen sind mannigfaltig – und jeder Schritt zählt. Dabei dürfte der Energiepreis allein Anreiz genug sein, um weitere Anstrengungen zu unternehmen oder um den „inneren Schweinehund“ (O-Ton Habeck) zu überwinden. Eine Belohnung für eine ohnehin überfällige Maßnahme lehnt der Bundeswirtschaftsminister jedenfalls ab – und folgt dabei durchaus dem gesunden Volksempfinden: „Und wenn da jemand sagt, ich helfe nur, wenn ich noch einmal 50 Euro kriege, dann würde ich sagen: `Kriegst du nicht, Alter!`“

Dabei ist es so bequem, nach Belohnungen oder Subventionen zu rufen, wenn das Notwendige zum Überfälligen wird und Maßnahmen zur Energieeinsparung jetzt erst eingeleitet werden. Wer den Bundesregierungen Merkel I bis IV vorwirft, sehenden Auges in die Gasabhängigkeit von Russland geraten zu sein, übersieht dabei oft, dass es auch die kurzsichtige, wenn nicht blinde Hingabe an billigem Gas aus Russland war, die Unternehmen hierzulande gute Renditen verschafft hat. Es ist kaum zu übersehen, dass die Energiewende und die digitale Transformation in deutschen Betrieben bedauerliche Parallelen aufweisen: Erst wenn´s weh tut, wird gehandelt.

Die einen rufen dann nach dem politischen Pflaster, die anderen suchen nach echten Alternativen. Doch wie es scheint, wird der Mittelstand leer ausgehen, wenn der Ruf nach staatlichen Energiehilfen ertönt. Systemrelevante Energieversorger wie Uniper werden möglicherweise mit Staatsknete gerettet, längst überfällige Erneuerungsprojekte in mittelständischen Betrieben aber eher nicht. „Kriegst du nicht, Alter!“

Da ist es durchaus bezeichnend, wenn die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft anlässlich der Internationalen Handwerksmesse in München eine gemeinsame Resolution an die Bundesregierung senden, in denen der Zentralverband des Deutschen Handwerks, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag, die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und der Bundesverband der Deutschen Industrie mehr Freiraum für unternehmerisches Handeln und mehr Sicherheit für Investitionen fordern. Dazu nannten sie der Bundesregierung vier Handlungsfelder, in denen Nachholbedarf besteht, wie das Handelsblatt berichtet:

  • „Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft müssen gestärkt, die Resilienz erhöht werden. Wir müssen unabhängiger bei Lieferketten und Energieversorgung werden. Eine zuverlässige Rohstoff- und Energieversorgung sind die Basis unseres Wirtschaftsstandorts.“ Wichtig sei aktuell eine stabile Gasversorgung und der Ausbau der erneuerbaren Energien. Zusätzlich gelte es, die Energieeffizienz in verschiedenen Bereichen zu stärken. Generell sei der Ausbau der Infrastruktur für die Erreichung der ehrgeizigen Klimaziele und für den Abbau der energiepolitischen Abhängigkeit essenziell.
  • Hinsichtlich der nötigen Modernisierung der Infrastruktur, Gebäude oder technischen Anlagen müssten die Verfahren zur Planung und Genehmigung beschleunigt werden, um die Ziele des Klimaschutzes oder der Digitalisierung zu erreichen. „Ob Industrieanlagen, Gewerbe- und Wohnungsbau, Windkraftanlagen, Wasserstoffelektrolyseure, Bahntrassen, Glasfaser- und Stromleitungen: Die Verfahren müssen auf wenige Monate reduziert werden.“ Dazu sei eine grundlegende Überarbeitung der rechtlichen Rahmenbedingungen für alle Wirtschaftsbereiche und nicht allein beim Ausbau der erneuerbaren Energien nötig.
  • Der Arbeits- und Fachkräftemangel sei zur Wachstumsbremse geworden. Dienstleistungen könnten nicht mehr in dem Maße erbracht werden, wie sie nachgefragt werden. „Diese Kompetenzen werden uns im Strukturwandel von Digitalisierung und Dekarbonisierung fehlen. Wir müssen weiterhin das inländische Erwerbspersonenpotential ausschöpfen – durch bessere Bildung und Weiterbildung, bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, mehr Inklusion von Menschen mit Behinderungen sowie die bessere Einbindung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.“ Wichtig sei auch die Zuwanderung von Fachkräften. Wichtige Hebel seien hier beschleunigte und digitalisierte Verwaltungsverfahren sowie eine gezielte Weiterentwicklung des Rechtsrahmens.
  • Es brauche eine Bildungswende hin zur Gleichwertigkeit akademischer und beruflicher Bildung. Es bedürfe mehr materieller und ideeller Wertschätzung für die berufliche Bildung. Nur mit ausreichend qualifizierten Fachkräften könnten die Potenziale Deutschlands realisiert und die Transformationsprozesse umgesetzt werden. Wichtig ist dafür eine bundesweite Studien- und Berufsorientierung, die ergebnisoffen über Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten informiert. „Um den wachsenden Anteil vakanter Ausbildungsstellen besetzen zu können, müssen die duale Ausbildung und die höhere Berufsbildung mehr Gewicht erhalten.“

Doch wie immer, wenn man mit dem Finger auf andere zeigt, weisen vier Finger auf einen selbst. Die aufgezeigten Handlungsfelder markieren nicht nur dringende und drängende Aufgabengebiete für die Bundesregierung, sie zeigen auch eklatante Versäumnisse der Wirtschaft selbst in der Vergangenheit auf – vielleicht mit Ausnahme des überfälligen Bürokratieabbaus und der Beschleunigung von Genehmigungsverfahren. Dich auch hier tut sich was. Bayern will plötzlich 800 Windräder aufstellen, andere Bundesländer wollen die 1000-Meter-Grenze für Windräder fallen lassen. Und jede Landesregierung etabliert derzeit Transformationsagenturen für den Wechsel von fossil zu erneuerbar und von analog zu digital. Wer sich nicht selbst hilft, bleibt ohne Hilfe: „Kriegst du nicht, Alter!“

Man muss nur wollen. Und traurig genug, dass es dazu eines Störenfrieds von außen à la Putin bedarf. Es ist als hätten wir ihn zu dem Weckruf zur geistig-moralischen und energetisch digitalen Wende motiviert. „Kriegst du, Alter“, wird er da wohl an seinem langen Tisch im Kreml gemurmelt haben.