Es ist gerade einmal ein Jahrhundert her, dass der Soziologe Max Weber als erster (und man kann auch sagen: bisher als einziger) grundlegend über Bürokratie und die damit verbundenen Kosten nachgedacht und dankenswerterweise unter dem Begriff der „Organisationssoziologie“ auch so niedergeschrieben hat, dass seine Witwe sie postum veröffentlichen und für die Nachwelt erhalten konnte. Danach ist Bürokratie zunächst einmal nichts anderes als die Art und Weise, wie eine Verwaltung etwas organisiert. Der Begriff „Bürokratie“ bezieht sich für Weber also nicht auf eine Organisation im Sinne eines Verwaltungsapparates, sondern auf die Tätigkeit des Organisierens selbst.
Bürokratiekosten entstehen also beim Organisieren immer – egal, wie organisiert eine Organisation auch ist. Wie Organisationen gut organisiert organisieren können, wird in Deutschland in Prozessen, respektive in Geschäftsprozessen festgehalten und fortgesetzt optimiert. Darin sind wir Weltmeister – und dieser Kernkompetenz verdankt zum Beispiel der deutsche Mittelstand seine hohe Flexibilität und Widerstandsfähigkeit, heute würde man sagen: Resilienz. In den USA wird dies dagegen in zwingend vorgeschriebenen „Procedures“ festgehalten, die wie eine Checkliste abgearbeitet werden müssen. Auch un- oder angelernte Menschen können deshalb schnell mitarbeiten, was aber auf Kosten der Flexibilität geht und die Störanfälligkeit erhöht.
Bürokratie im Sinne des Organisierens war für Max Weber – zitiert nach Veronika Tacke – „die formal rationalste Form der Herrschaftsausübung, weil sie in ihrer Stetigkeit, Präzision, Straffheit und Verlässlichkeit allen anderen Verwaltungsformen rein technisch überlegen ist.“ Wie sehr muss also diese rein technische Überlegenheit sich schon allein dadurch ausweiten, wenn wir das Organisieren künftig mit Hilfe von künstlicher Intelligenz optimieren. Denn eines scheint nach einem guten halben Jahr Erfahrung mit generativer KI wie beispielsweise ChatGPT klar zu sein: Im Organisieren von Prozessen und Procedures sind uns KI-Systeme über.
Schon die vergleichsweise „dummen“ Unternehmenslösungen zur Produktions-Planung und -Steuerung wie Material Requirement Planning (MRP) oder Enterprise Resource Planning (ERP) haben gezeigt, dass Menschen ab einem bestimmten Komplexitätsgrad den Überblick verlieren. SAP als größtes europäisches Softwarehaus hat damit Milliarden verdient. Denn Unternehmenssoftware ist programmierte Unternehmensberatung.
Wird man von so einem ERP-System bevormundet? Ganz klar: Ja! Das können altgediente Produktionsplaner und Arbeitsvorbereiter sofort bestätigen. Die Bevormundung wird aber nur von der Software durchgesetzt – die Regeln, nach denen sie operiert, entstammen den zuvor festgelegten Prozeduren und Procedures, sind also in der Regel menschengemacht. Sie zu ändern, ist das Geschäftsmodell von Tausenden mittelständischen Softwarehäusern und Unternehmensberatern. Auch damit kann man Milliarden verdienen.
Nicht anders wird es mit jenen KI-Systemen verlaufen, die wir in der nächsten Zukunft für das Organisieren unserer Bürokratie einsetzen. Sie werden uns vor allem bei der Informationsbeschaffung und Informationsbereitstellung unterstützen – und zwar nach Regeln, die wir selbst bestimmen und verändern. Es wäre der nächste Aufgabenbereich für Deutschlands Kernkompetenz Nummer Eins: die Prozessoptimierung.
Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamts entstehen jährlich allein in deutschen Unternehmen Bürokratiekosten in Höhe von knapp 50 Milliarden Euro, die durch Gesetzesvorgaben, Verwaltungsvorschriften und schlichtweg schlechte Organisation entstehen. Darin nicht enthalten sind Kosten wie zum Beispiel der Einbau einer Wärmepumpe, weil ein mögliches Gesetz dies vorschreibt.
Der Großteil der Kosten entsteht vielmehr durch Informationspflichten. Sie hat „Der Spiegel“ im Jahr 2015 einmal so zusammengefasst: „Durch das Finanzministerium entstehen 3667 Informationspflichten, was einer Belastung für die Wirtschaft von knapp 17,4 Milliarden Euro entspricht. Es folgt das Ministerium für Justiz und Verbraucherschutz mit 898 Informationspflichten mit rund elf Milliarden Euro Kosten. Die Bundesregierung verursacht Kosten von etwa 4,2 Milliarden Euro, gefolgt vom Gesundheitsministerium mit 766 Informationspflichten, die Kosten von rund 3,4 Milliarden Euro auslösen. Dabei fallen vor allem Dokumentationspflichten für Ärzte und Apotheker ins Gewicht. Das Arbeitsministerium schreibt 441 Informationspflichten vor, die Kosten von knapp 1,1 Milliarden Euro verursachen.“
Was für eine Perspektive, was für ein Einsparungspotenzial würde sich also eröffnen, wenn wir diese Erfüllungspflichten einfach einem KI-System überlassen könnten, das – wie ein ERP-System – die im Unternehmen vorhandenen Daten formulargerecht und in dreifacher Ausfertigung an die richtige Behörde zur richtigen Zeit übermitteln würde. Und was für ein Potenzial ließe sich noch einmal heben, wenn neben der „Organisationsintelligenz“ in den Behörden auch künstliche Intelligenz wirken würde. Wir müssten gar nicht die Bürokratie abbauen, sondern nur deren Kosten und Zeitaufwand.
Die neue Deutschlandgeschwindigkeit, wie wir sie bei der Genehmigung der LNG-Terminals erleben durften, wäre dann nicht der neue Krisenmodus, sondern das neue Normal. KI statt Bürokratie oder doch zumindest weniger Bürokratiekosten durch künstliche Intelligenz. Die Bevormundung hätten wir dann selbst im Griff.
Vielleicht ist dank KI auch ein Ende oder zumindest eine Modifikation für ein weiteres unumstößlich erscheinendes Gesetz möglich: dem Ersten Parkinsonschen Gesetz, wonach Arbeit sich in genau dem Maße ausdehnt, wie Zeit für ihre Erledigung zur Verfügung steht. Das würde dann zwar immer noch gelten – aber das wäre dann Rechenzeit in einem weit entfernten Cloud-Rechenzentrum. Das würde dann aber wiederum unsere Energiebilanz negativ beeinflussen. Ein Teufelskreis!
Lieber Heinz Paul,
Ein gut positionierter und berechtigter Beitrag.
Ich würde diesen ( mit Namen usw) gerne einem mir bekannten Journalisten zukommen lassen, der die KI eher skeptisch sieht.
Ciao
Menno