Mit Florian Nöll, dem Gründungs-Präsidenten des Deutschen Startup-Verbands, habe ich vor einem guten halben Jahrzehnt eine tiefergehende Analyse über die deutsche Gründerszene und die unternehmerischen Motive unter dem Titel: „Heute Startup – morgen Mittelstand“ veröffentlicht. Eine der Grundthesen darin war, dass die heutigen Founder viel von jenem Gründergeist haben, der am Anfang von Familiendynastien in Deutschland stand – stets nach Krisenzeiten, wie dem großen Crash von 1873, der Depression in den zwanziger Jahren oder der Nachkriegszeit mit ihrem Wiederaufbau und Wirtschaftswunder.
Diesen Gründergeist brauchen wir nach der Überwindung der Corona-Krise erneut – und es wird sich zeigen, wie vital, wie überlebensfähig, ja überlebenswillig der deutsche Mittelstand und die Startups sein werden. Schon jetzt zeigen Umfragen in beiden Lagern, dass die Lage zwar ernst ist, aber nicht hoffnungslos. Und ebenso wichtig ist die Tatsache, dass mittelständische Unternehmer die Attitüde ihrer meist jüngeren Startup-Kollegen übernehmen und in innovativen Dienstleistungen und Geschäftsmodellen die künftige Erfolgsschiene erkennen.
Damit hat sich schon jetzt viel in den Köpfen der Mittelständler bewegt. Denn noch vor einem halben Jahrzehnt mussten wir beklagen, dass Startups und Mittelstand einander sprachlos gegenüberstanden, dass sich beide nicht verstanden und ihre Strategien fundamental voneinander abweichen. Denn während die einen mit grundlegend neuen Angeboten in noch nicht existierende Märkte vorstoßen wollten, waren die anderen darauf aus, mit Veränderungen in homöopathischen Dosen die alten Märkte und die bestehenden Kunden nicht zu verunsichern. Die einen hatten Ideen, aber keine Märkte, die anderen hatten Märkte, aber keine Ideen.
Heute finden sich zahllose Beispiele dafür, dass sich das geändert hat. Immer mehr mittelständische Unternehmen gründen eigene Risikokapitalgesellschaften, mit deren Hilfe sie das Angebot an potenziellen Innovationspartnern sondieren und assimilieren wollen. Lange Zeit stand dabei die defensive Taktik, mögliche Wettbewerber einfach vom Markt wegkaufen zu wollen, im Vordergrund. Dann folgten Joint-Innovation-Strategies, bei denen die eigenen Produkte mit dem Skill der Startups weiterentwickelt werden sollten. Jetzt zeichnet sich immer mehr ab, dass mittelständische Unternehmen auch Partnerschaften in Bereichen und Branchen suchen, die nichts mit dem eigenen Kerngeschäft zu tun haben. Es geht vielmehr darum, sich breiter aufzustellen, zu diversifizieren und durch alternative Geschäftsmodelle das eigene Business neu zu definieren.
Nach Joint-Innovation und Corporate Venture Capital folgt jetzt Corporate Venture Building. Danach gründen mittelständische Unternehmer selbst Startups, um in ihnen die Keimzelle für neues Wachstum in neuen Märkten zu legen. Auf Kopieren folgt Kapieren! Sie übernehmen die Charaktereigenschaften der Startups wie Agilität, Disruption, Digitalisierung und die Wahrnehmung neuer Gesellschafts- und Geschäftsmodelle und gliedern sie locker in die eigene Firmenstruktur ein. Der Vorteil: die eigene Entwicklungsabteilung folgt weiterhin der DNA des Konzerns und entwickelt die bestehende Produktpalette weiter. So bleiben die angestammten Märkte unberührt.
Die Corporate Startups hingegen können auf neue Projektziele ausgerichtet werden. Dabei besteht durchaus eine Risikominimierung durch die Gründung mehrerer Startups: scheitert eins, ist nur ein Projekt gefährdet, während andere unbehelligt voranschreiten können. Scheitert die eigene F&E-Abteilung sind meist Abschreibungen auf Kapital und die eigene Zukunft die Konsequenz.
Dabei nutzen Mittelständler durchaus unterschiedliche Strategien. Nach wie vor sind Kooperationen mit bestehenden Startups die verbreitetste Variante. Tatsächlich haben die Gründer im jüngsten Deutschen Startup Monitor zu Protokoll gegeben, dass die Zusammenarbeit mit mittelständischen Unternehmen die bevorzugte Form der gemeinsamen Entwicklungsarbeit ist – besser noch als die Kooperation mit Weltkonzernen oder Startups aus dem eigenen Umfeld. Die Übernahme und Eingliederung von Startups ist ebenfalls eine Alternative – birgt aber die Gefahr, dass den Jungunternehmen dann die eigene (verknöcherte) Kultur übergestülpt wird. Corporate Venture Building hingegen gibt die DNA des eigenen Unternehmens an die agilen Organisationen weiter – den Mittelstand von morgen.
Wenn die Corona-Krise beendet ist, werden wir unseren Wirtschaftsstandort vielleicht nicht mehr wiedererkennen. Das liegt nicht nur an den Homeoffices, die überall möglich werden. Es liegt auch nicht allein daran, dass die Automobilindustrie als deutsche Leitbranche ihr Gesicht verändert und vollkommen elektrisiert aus der Krise kommen will. Es liegt wohl vor allem daran, dass mehr und mehr Mittelständler ihr Gründungs-Gen wiederentdecken und aktivieren. In der Kooperation mit Startups könnte der Mittelstand von heute dann der Mittelstand von morgen sein.