Wann kommt die perfekte Welle?

Demnächst, genau am 26. Mai, ist es 15 Jahre her, dass Microsoft-Gründer Bill Gates an seine leitenden Mitarbeiter ein aufrüttelndes Memo versendete. Dieses „Internet Tidal Wave“ Memorandum markiert gemeinhin den Startpunkt für das Niederringen des neuen Wettbewerbers Netscape, der damals 70 Prozent des Browser-Marktes für reklamieren konnte. Microsoft, das Mitte der neunziger Jahre noch fest im egozentrischen Weltbild des Personal Computer steckte – und, wie viele argumentieren, dieses Weltbild bis heute nicht verlassen hat -, reagierte auf das Internet mit einem klassischen Reflex: Wenn das Internet neue Nutzungsmöglichkeiten eröffnet, dann ist es Microsofts Aufgabe, den PC mit mehr und besserer Software auszustatten, um diese Nutzungsmöglichkeiten auch auszuschöpfen. If you only have a hammer the whole world looks like nails. Zu deutsch: Wer nur Clients und Server kennt, sieht auch für das Web nur PC-Software.

Dabei hätte Bill Gates es besser wissen können: Service is the name of the game im Web. Er hatte es an diesem 26. Mai sogar selbst formuliert: „Erstaunlicherweise findet man Information im Web schneller als im unternehmenseigenen Microsoft Netzwerk“, schrieb Gates und schlussfolgerte: „Die Umkehrung, dass ein öffentliches Netz Probleme effektiver lösen kann als ein privates Netzwerk, ist geradezu umwerfend.“ In der Folge ermunterte Gates seine Kollegen, einige heiße Webseiten, wie zum Beispiel Yahoo kennenzulernen und bei der täglichen Arbeit zu nutzen. Google war noch nicht einmal am Horizont aufgetaucht.

Es sind die Services, die im Web die perfekte Welle auslösen. Suchmaschinen, Kaufkataloge, Versteigerungen, soziale Netze und schließlich Anwendungsplattformen sorgen dafür, dass immer mehr Dienstleistungen aus der Wolke kommen. Traditionelle Anbieter und Anwender tun sich mit diesem Paradigmenwechsel ungemein schwer: Für sie ist das Internet allenfalls eine ubiquitäre Zugriffsmöglichkeit auf Software. Microsoft handelt so, und SAP bietet mit ihren Hosting-Services für die traditionellen ERP-Pakete auch nichts anderes als klassische Server-Software mit Netzzugang. Wer den Großteil seiner Umsatzerlöse mit Lizenzen und Wartung generiert, kann nicht anders handeln.

Aber ist das schon Cloud-Computing? Es wird Zeit für ein neues Tidal Wave Memo. Lösungen wie die SAPs mittelstandsorientierte OnDemand-Software müssen einem innovativen Ansatz folgen, wenn sie mehr sein wollen als nur eine weitere ERP-Software mit dem Web als hippen, alternativen Distributionsweg: Sie müssen eine Community aus ERP-Services zulassen, die nicht nur zu einer funktionalen Explosion führen kann, sondern auch die notwendige Branchenausrichtung beschleunigen würde – sozusagen eine Enterprise Resource Platform as a Service.

Das Internet ist als öffentliches Netz deshalb den Unternehmensnetzwerken überlegen, weil es eben nicht das Produkt eines Anbieters war, sondern die Summe von Technologien und Diensten, deren Zeit gekommen war. Es war der Charme des Subversiven, dem das Internet seine Weltgeltung verdankt – kein Anbietermonopol, keine Gebühreneinzugszentrale. Auch Software as a Service wird nicht dadurch ein Erfolg, dass Anbieter dies wünschen. Erst die Community macht aus Software as a Service eine Bewegung. Und die kann enorme Steigerungen hervorrufen: SAP hat 90.000 Kunden in 40 Jahren geworben, Saleforce.com 70.000 in zehn Jahren. SaaS hat in der Tat das Potenzial einer Grundwelle, die als perfekte Welle für ERP-Surfer heranrauschen wird.

Dabei könnte es ausgerechnet das Grundbeben der Weltwirtschaftskrise sein, die der perfekten Welle erst noch ihr Momentum verleiht. Gerade der Mittelstand, der heute noch verschreckt auf mögliche oder eingebildete Gefährdungen der Sicherheit schaut, könnte dem Charme der geliehenen Hard- und Software erliegen. Software as a Service verspricht Softwareerneuerung für das kleine Budget. Das ist der Stoff, aus dem Welterfolge gemacht sind. Informationen für jedermann – war das nicht die perfekte Welle für das World Wide Web?

Die Reise zum Mittelpunkt des Marktes

2010 ist das ideale Jahr für eine Mittelstandoffensive! Warum? Ganz einfach: Die Vereinten Nationen haben das aktuelle Jahr zum Internationalen Jahr für die Annäherung der Kulturen auserkoren. Und wann, wenn nicht jetzt sollten die großen Anbieter von Unternehmenslösungen damit beginnen, sich der mittelständischen Unternehmenskultur anzunähern? – Und natürlich auch den mittelständischen Preisvorstellungen!

Interessant, aber kaum überraschend ist, dass sich diese Annäherung nicht auf dem PC ereignet, dem klassischen Retter der mittelständischen Anwendungswelt, dem Beschützer von Diplomarbeiten in Excel und Basic. Seit 1982, als der Personal Computer das erste Objekt wurde, das das amerikanische Nachrichtenmagazin Time zum „Man of the Year“, zum Mann, pardon: zur Maschine des Jahres ernannte, arbeiteten die großen Softwareanbieter daran, mit PC-gestützten, oder Client/Server-basierten Anwendungswelten nach Mittelerde vorzudringen. Aber inzwischen wissen alle, dass ohne Netz auch der Mittelstand keinen doppelten Boden hat: wer jetzt keine webbasierende Anwendungsarchitektur für den Mittelstand zur Verfügung hat, ist entweder schon tot, oder wird es morgen sein.

SAP begann 2007 – ein wenig vorlaut – mit der Ankündigung von Business by Design und Software as a Service für den Mittelstand. Infor, das sich zunächst einmal eine Anwendungsarchitektur zusammenkaufen musste, ehe daraus eine Strategie erwachsen konnte, setzt in diesen Tagen mit der Ankündigung eines eigenen OnDemand-Angebots für den Mittelstand nach. Microsoft setzt – wie die Automobilindustrie – auf Hybrid und bietet Lösungen für den unternehmenseigenen Server an, die jedoch aus dem Netz heraus gewartet, aktualisiert und optimiert werden können. Auch Sage, das ja mit PC-Lösungen für den Mittelstand groß geworden ist, setzt nunmehr ebenfalls auf Hybride.

Interessant ist dabei nicht einmal die Anwendungsarchitektur selbst, sondern die Fähigkeit der OnDemand-Anbieter, ihren Partnern einen Zutritt zur eigenen Plattform zu gestatten, um eigene, branchenorientierte Ergänzungen und Apps zu ergänzen. Denn von Saleforce und Google lernen heißt, die Dynamik des Webs zu nutzen. Keine noch so große Entwicklungsabteilung kann leisten, was eine mittelstandorientierte Entwickler-Community mit klarem Fokus auf Details zur produzieren vermag.

SAP wird, so sagen Analysten voraus, in der zweiten Jahreshälfte mit einem runderneuerten Business by Design ihre Annäherung an die Kultur des Mittelstands neustarten. Das ist eine gute Nachricht auch für die Partner, die mit Branchenerweiterungen Business by Design zum industriespezifischen Mittelstandspaket ausbauen wollen. Prof. Henning Kagermann, damals noch Chef der SAP, hatte bereits auf der CeBIT 2008 angekündigt, die Branchenexpertise von Partnern wie der Kölner GUS Group für industriespezifische Varianten von Business by Design zu nutzen. Jetzt, im Internationalen Jahr für die Annäherung der Kulturen, werden die ungleichen Partner Ergebnisse folgen lassen.

Wie lange hält die Koalition – und andere Schicksalsfragen

Schicksalsfragen machen Spaß – vor allem zum Beginn eines Jahres. Als wenn sich das Schicksal an Nebensächlichkeiten wie einen Jahreswechsel halten würde. Das Schicksal zählt Taten, nicht Daten.

Dennoch macht es Spaß, dem neuen Jahr gleich mit der Vertrauensfrage zu kommen. Beispielsweise: Wie lange bleibt Trainer Louis van Gaal noch beim FCBM. Oder wie lange bleibt Bayer Leverkusen noch ungeschlagen. Ebenso wichtig ist auch die Frage: Wie lange duldet Angela Merkel noch das Hickhack zwischen FDP und CSU. Oder: Wann kommt die Steuersenkung – und ob?

Oder man könnte das Orakel befragen (Tschuldigung, billiger Wortwitz), wie lange SAP noch unabhängig bleibt – und ob? Die Computerwoche hat sich jetzt damit hervorgewagt (http://www.computerwoche.de/1926774) und Analysten nach ihrer Meinung gefragt. Die Antwort lautet klar und deutlich: Jedes Unternehmen steht heute unter Druck und jedes Unternehmen ist heute in der Lage, Druck auszuüben. Genau – das sehen wir auch so.

Nun, die Baustellen für SAP sind die klassischen Baustellen eines ERP-Altmeisters. Die entscheidende Frage ist, wie SAP ihre bewährten – aber eben auch in die Jahre gekommenen – ERP-Produkte in die Zukunft katapultiert. Business by Design  solle nach erfolgtem und erfolgreichem Re-Design in diesem Jahr durchstarten. Als zweiter Baustein auf dem Weg zu einem lupenreinen Haus für Software as a Service wird sich möglicherweise in diesem Jahr noch die On-Demand-Strategie für die Business Suite entpuppen. Als Element des Cloud Computings kommen möglicherweise die Entwicklungen aus der Large Enterprise OnDemand Group, die seit vergangenem Jahr an neuen Features für die bestehende Klientel arbeitet.

Es lässt sich nicht mehr übersehen: SAP arbeitet an einer Trendwende zugunsten von Software as a Service auf der gesamten Produktbreite. Und hier nehmen die Walldorfer die Herausforderung ihres Dauerkonkurrenten Oracle an, der in diesem Jahr mit Fusion Apps im Markt für Unternehmens­lösungen so richtig durchstarten will. Lösungen für Finance, Human Resources etc. werden in diesem Jahr ebenso marktbereit sein, wie die smarte Übergangs- oder gar Übernahme-Strategie, bei der Kunden mittels Fusion Teile der bestehenden Unternehmenswelt – also zum Beispiel von SAP – beibe­halten und sukzessive auf Fusion Apps wechseln können. Umgekehrt arbeitet SAP mit Hochdruck an Hauptspeicherdatenbanken, die nicht nur schneller und fürs OnDemand-Geschäft geeigneter sind, sondern auch einen Rückgriff auf Oracles Datenbanken vermeiden helfen sollen. Die Strategie könnte aus dem Wahlkampf abgekupfert sein: Keine Leihumsätze mehr für den ehemaligen Koalitionspartner!

Sicher, der Druck wächst. Aber auch in der Koalition wächst der Druck. Deshalb muss man doch nicht gleich mit ihrem Ende rechnen. Aber unterhaltsam ist es  schon.

Milliarden-Marke und Milliarden-Markt

Am Ende des Tages ist es auch nur eine Umsatzzahl – allerdings eine magische: Experten erwarten, dass SAP in der zweiten Januar-Woche bei der Veröffentlichung ihrer Quartalszahlen für die letzten drei Monate des Jahres 2009 mit einer positiven Überraschung aufwarten wird: zwar werde das Softwarelizenzgegeschäft erneut zurückgehen, aber, so wird spekuliert, das Unternehmen dürfte die magische Marke von einer Milliarde Euro weiterhin deutlich überschritten haben. Dies wäre nicht nur ein versöhnlicher Jahresausklang aus Sicht der SAP, die 2009 nicht nur durch die Wirtschaftskrise, sondern ebenso durch die Analysten arg gebeutelt wurde. Es ist auch ein positives Signal für Software made in Germany.

SAP ist nicht allein Deutschlands größter Softwareanbieter und weltweit die Nummer eins bei Unternehmenslösungen. SAP ist selbst ein Markt – für Software- und Systemhäuser ebenso wie für Berater und Outsourcer. Hustet SAP, leidet eine ganze Branche an Schwindsucht.

Aber Umsatz allein ist kein Mittel gegen Husten – er sichert allenfalls die besten Medikamente. Einer der wichtigsten Wachstumszweige der Zukunft beispielsweise – das OnDemand-Geschäft – hält noch einen verschwindend geringen Anteil am SAP-Geschäft. Die Anwendergemeinde um Business by Design ist (noch) eine geschlossene Gesellschaft. Erst jetzt lassen die SAP-Strategen die Zügel wieder schießen und gehen den Markt mit großem Engagement an. Business by Design muss schneller wachsen als der große Rest der SAP. 2010 wird auch das Schicksalsjahr für Software as a Service.

Sollte das misslingen, wäre es nicht nur schlecht für die SAP, sondern auch ein schlechtes Signal für das OnDemand-Geschäft in Deutschland. Der größte europäische IT-Einzelmarkt zeigt (noch)wenig Euphorie für die Software aus der Steckdose, mit der in der Regel auch ein alternatives Geschäftsmodell verbunden ist – Software zur Miete nämlich. Dabei ist Software as a Service wie geschaffen für den deutschen Mittelstand, der stets ressourcen- und kostenbewusst agiert. Software as a Service adressiert gleich auf mehreren Ebenen mittelständische Kardinaltugenden:

  • Keine Initialinvestitionen durch Hardwarekauf und Lizenzbeträge. Das klassische Argument von Mittelstands-Controllern gegen IT-Modernisierung sind die hohen Einstiegskosten beim Kauf von Hard- und Software.
  • Zentral gesteuerter  Software-Upgrade und –Ausbau. Das klassische Argument von Mittelstands-CIOs gegen IT-Modernisierung sind die hohen Umstellungskosten bei neuen Releases.
  • Weltweiter, mobiler Internetzugriff. Das klassische Argument von Mittelstands-Vertriebsleitern gegen IT-Modernisierung ist der hohe Supportaufwand beim Aufbau eines internationalen Netzwerks.

Argumente, die den Mittelstand überzeugen. Im OnDemand-Geschäft sollte das Umsatzziel für das vierte Quartal 2010 deshalb ebenfalls die Milliardenmarke sein – nicht für SAP, aber für eine ganze Branche. Das Potenzial wäre da.