Schlauer als das Virus?

Ich nehme jetzt mal meine (sprachliche) Maske herunter und sage wie es ist, beziehungsweise wie es wird: 2021 wird nicht das Jahr, in dem wir das Virus besiegen, sondern in dem wir lernen müssen, mit dem Virus zu leben.

Denn, Hand aufs Herz, die Vermutung, jetzt noch ein bisschen Lockdown, die Inzidenz bei 35 einpendeln und der „Kaas isch geveschpert“, wie der Schwabe sagen würde – das ist eine Hoffnung, die wir getrost fahren lassen können. Es wird noch lange alles Käse sein.

Die Frage ist, wie wir uns auf diesen Käse einstellen. Noch mehr Lockdown, noch mehr wirtschaftlicher Stilltand, noch mehr Existenzkrise, noch mehr soziale Distanz, noch weniger kultureller Austausch – das soziale Tier „Homo Ludens“ wird daran noch stärker erkranken als an dem Virus. Die soziale Verdumpfung und wirtschaftliche Schrumpfung werden uns mehr in Mitleidenschaft ziehen und nachhaltigere Folgen haben. Und gegen diese Krankheit gibt es keinen Impfstoff. Für den Einzelhandel,  um ihn exemplarisch aus der großen Menge der Virus-Kolateralschäden herauszugreifen, gibt es nur einen Impfstoff – und der heißt zahlungswillige Kunden.

Wir müssen schlauer sein als das Virus, wie es der Grüne Oberbürgermeister der Hansestadt Rostock, Claus Ruhe Madsen, bei Maybrit Illner formulierte. Das gilt für jeden von uns. Das Geschäftsmodell des Einzelhandels besteht ja nicht darin, einen Laden in der Fußgängerzone zu unterhalten, sondern den Kunden ein Verkaufserlebnis zu bieten. Das Ladenlokal ist dabei nicht eine Ultima Ratio, sondern das gängige Geschäftsmodell der Nachkriegsära, das nun schon ein Dreivierteljahrhundert andauert. „Come in and find out“ – da hat sich einiges festgefahren. Aber der Handel lebt nicht vom Laden, sondern vom Handeln. Es gibt genug Beispiele, wie in einer digitalen Welt Konsumgüter verkauft, Essen ausgeliefert und Kulturgut offeriert werden können. Dabei ist die Ladenschließung noch nicht einmal eine zielführende Maßnahme gegen die Pandemie, wie sich immer deutlicher zeigt.

Nach dem Virus wird nicht „wie vor dem Virus“ sein. Wenn wir etwas gelernt haben sollten, dann das: Nach dem Virus ist „wie vor dem nächsten Virus“. Die Mutanten – übrigens in Gestalt der Pest einer der apokalyptischen Reiter – lehren uns gerade auf gruselige und hoffentlich nicht auch noch auf grausame Weise, dass wir es mit einer vielköpfigen Hydra zu tun haben.

Das Virus war schon einmal schlauer als wir. Die mit mangelhafter Genauigkeit „Spanische Grippe“ genannte Pandemie vor etwas mehr als 100 Jahren hat sich die Truppenbewegungen der Amerikaner, Franzosen, Engländer und der Deutschen im Ersten Weltkrieg zunutze gemacht. Ohne Anhängern der Dolchstoßlegende das Wort reden zu wollen: das damalige Influenza-Virus hat wohlmöglich den Ausgang des Ersten Weltkriegs stärker beeinflusst als alle militärischen Strategien und Rüstungsanstrengungen. Je nach Schätzung sind damals drei- bis viermal so viele Menschen dem Virus erlegen wie dem militärischen Weltenbrand.

Aber damals wusste man noch nicht, was ein Bazillus ist, geschweige denn, welche Gefahr durch Viren entsteht. Heute wissen wir das und reagieren in den westlichen Ländern wie das Kaninchen vor der Schlange. Wir verharren in Schreckstarre und nennen es Lockdown. Und wir verhalten uns geradezu antiwissenschaftlich: die Hot Spots sind in Alten- und Pflegeheimen sowie im häuslichen Umfeld zu suchen. Sie sind nicht zu finden in den Schulen, den Sportarenen, in den Läden und Restaurants, in den Kinos und Kunstpalästen – vorausgesetzt, sie befolgen die einschlägigen Hygiene- und Abstandsvorschriften. Warum hindern wir den deutschen Mittelstand daran, zu beweisen, dass er schlauer ist als das Virus?

Niemand hat das in der letzten Zeit besser argumentiert als der Rostocker Oberbürgermeister Claus Ruhe Madsen, der seinen ersten Fernsehauftritt bei Markus Lanz hatte. Für sein Mantra – „Wir müssen schlauer sein als das Virus“ – hat er eigene Vorschläge, die übrigens nicht nur zeigen, dass er die Pandemie verstanden hat, sondern auch den digitalen Wandel. Statt eine wirkungslose App zu entwickeln, appelliert er an den gesunden Menschenverstand: Wenn es in unser aller Interesse ist, unseren Aufenthaltsort bekanntzugeben, dafür aber hingehen zu dürfen, wohin wir wollen, warum sollten wir das nicht tun. Stattdessen pochen wir auf den Datenschutz, der uns vor Daten schützt und damit vor der Erkenntnis, wie wir das Virus besiegen. Oder wie es OB Madsen sinngemäß formuliert: Statt eine Person im Gesundheitsamt hundert Daten erfassen zu lassen, bitten wir besser hundert Personen, ihre Bewegungsdaten selbst zu erfassen. – Ach, so einfach ist das? Ja. So einfach ist das. Denn Menschen haben persönliche Daten schon für weniger preisgegeben.

Wir müssten schlauer sein als das Virus. Aber sind wir es auch? Der Preis für „Survival of the Fittest“ geht nach der Hinrunde an das Virus. Die Menschheit muss sich schon ordentlich steigern, wenn sie in der Rückrunde noch gewinnen will. Zunächst aber würde es reichen, die große Koalition würde hier mit gutem Beispiel vorangehen und schlauer als das Virus sein.

Viva Future – Es lebe die Zukunft!

Immer wenn die Gegenwart nicht besonders hell leuchtet, wärmt uns der Blick auf die Zukunft. Nach der Befragung von rund einhundert Zukunftsforschern, deren Ergebnis jetzt vom niederländischen Softwarehaus Beech IT vorgelegt wurde, können wir uns noch vor dem Jahr 2030 auf eine IT-Zukunft freuen, in der es praktisch keine Ressourcenprobleme mehr gibt. Supercomputer werden aus Mikrochips gesteuert, die diesen Namen kaum noch verdienen, weil sie im atomaren Bereich schalten. Statt derzeit fünf Nanometer sind die Gatter dann in einem Abstand kleiner als ein Nanometer geritzt. Und dabei ist das Phänomen der Quantencomputer noch nicht einmal eingepreist.

Parallel dazu gibt es „5G Plus“ mit zehn Gigabit pro Sekunde, so dass wir die Begriffe „Ladezeiten“ oder „Download“ aus unserem Sprachschatz verlieren, weil alles und jedes quasi per Knopfdruck verfügbar sein wird. Probleme bereiten freilich die Datenmengen, die wir zu bewältigen haben. 80 Prozent der Daten werden von Sensoren und Aktoren im Internet der Dinge produziert werden. Zur Orientierung: Wir verfügen bereits heute über einen Internet-Adressraum, der jedes Sandkörnchen am Strand mit einer IP-Adresse versehen könnte. Jedes Sandkorn könnte also ein Datenlieferant sein.

Ich will ja keine Spaßbremse sein – aber die durchaus realistische Vorstellung, dass die Bundesregierung im Jahr 2030 die flächendeckende Versorgung Deutschlands mit dem Übertragungsstandard 5G als „nahezu erreicht“ verkündet, verschafft mir ein kaltes Grausen angesichts der Tatsache, dass dann die Digital Nations wie Shanghai oder Finnland, Litauen oder Israel und China oder die USA die Vision von zehn Gigabit längst in Angriff genommen haben könnten. Zukunftsvisionen sind ja sehr motivierend, aber sie demotivieren, wenn sich jetzt schon abzeichnet, dass Deutschland in dieser Technologieliga aller Voraussicht nach nicht mitspielen wird.

Da macht es Sinn, auf die Wirtschaft zu hören. Es ist durchaus erfreulich, dass Vodafone mit seiner Tochter Vantage Towers an die Börse gehen will. Das Unternehmen treibt den Bau von 5G-Funktürmen voran und könnte in den kommenden Monaten eine Marktkapitalisierung im zweistelligen Milliardenbereich erreichen. Und ebenso spannend ist es, dass Microsoft, das deutschlandweit immerhin 3,5 Millionen Kunden mit einem Partnerökosystem aus 30.000 Firmen betreut, nun das Internet revolutionieren will. Denn, wenn es die althergebrachten Paradigmen wie „Download“ und „Ladezeiten“ im Internet nicht mehr gibt und wahrhaft alle Informationen „at your fingertips“ zur Verfügung stehen, wie Microsoft schon vor 20 Jahren versprochen hat, dann brauchen wir auch neue Paradigmen für unser Handeln, unsere Methoden, unseren Sprachgebrauch – kurz: für die User-Experience – im dann eher World Wide Wealth genannten Internet.

Mit Viva hat Microsoft jetzt bewährte, neue und zukünftige Technologien zusammengefasst, um Mitarbeitern eine völlig neue Wahrnehmung des Internets, ihrer Firmen-IT und ihres Workplaces zu vermitteln – egal, ob dieser Arbeitsplatz gerade im Büro am Monitor, im Homeoffice am Notebook, in einem Fahrzeug am Tablett, in der Hand am Smartphone, direkt vor den Augen als Augmented Reality oder in einem künstlich geschaffenen Raum als Virtual Reality abgebildet wird. Die Tech-Analystin Mary Jo Foley sieht in Viva eine erste Inkarnation des „MetaOS“, dem Betriebssystem und der Benutzeroberfläche der Zukunft, an dem Microsoft angeblich arbeitet.

Viva besteht – derzeit – aus vier Komponenten.

  • Viva Connections bietet Beschäftigten über Teams einen persönlichen Einstiegspunkt in den digitalen Arbeitsplatz. Es wird möglich, Communitys beizutreten und mit ihnen zu interagieren. Die Connections-App für Teams wird im ersten Halbjahr 2021 für den Desktop verfügbar sein, eine mobile App folgt später in diesem Jahr.
  • Viva Insights: Mit dem Wandel zu hybriden Arbeitsmodellen verschwimmen die Grenzen zwischen Beruf und Privatleben. Persönliche Einblicke sollen Mitarbeitenden helfen, regelmäßige Pausenzeiten wahrzunehmen, sich Fokuszeiten für konzentriertes Arbeiten einzurichten und die Beziehung zu anderen zu pflegen. Die dafür genutzten Daten sind genauso umfassend geschützt wie Informationen in E-Mails, im Kalender oder Teams Führungskräfte können Entwicklungen auf der Team- und Organisationsebene erkennen und bessere Arbeitsbedingungen schaffen.
  • Viva Learning schafft einen zentralen Hub für das Lernen mit künstlicher Intelligenz. So soll eine Lernkultur entstehen, die Weiterbildung zu einem selbstverständlichen Teil des täglichen Arbeitens werden lässt. Die Viva Learning-App ist ab sofort in der privaten Vorschau verfügbar und wird im Laufe des Jahres eingeführt. Zudem wird eine Integration mit führenden Lernmanagementsystemen wie Cornerstone OnDemand, Saba und SAP SuccessFactors angeboten.
  • Viva Topics macht Wissen nutzbar, ohne aktiv danach suchen zu müssen. Es vereint künstliche Intelligenz mit menschlicher Expertise und organisiert unternehmensweite Inhalte und Fachwissen automatisch zu laufenden Projekten, Produkten, Prozessen oder Kunden. Viva Topics ist ab sofort als Add-on in Microsoft 365-Plänen für die kommerzielle Nutzung vorerst für englischsprachige Inhalte verfügbar.

Es passt zur Stoßrichtung von Viva, dass Microsoft nach der Übernahme von Skype und LinkedIn weiterhin Interesse an der Übernahme von sozialen Medien zeigt. Nachdem das Angebot, die US-Aktivitäten der chinesischen App Tiktok zu übernehmen, an den Verschwörungstheorien der damaligen Trump-Regierung scheiterten, ist jetzt Pinterest der Gegenstand des Begehrens. Allerdings wird die Bilder-App derzeit mit 50 Milliarden Dollar bewertet. Das ist mehr als so mancher DAX-Konzern auf die Waage bringt. Und es wäre auch die größte Übernahme in der Microsoft-Geschichte.

Allerdings: Was gibt es größeres als die Zukunft? Wenn Microsoft 50 Milliarden in die Hand nimmt, um eine Social-Media-Platform zu übernehmen, warum sollte dann die Bundesregierung nicht 50 Milliarden in die Hand nehmen, um endlich wieder in die erste Liga der Digitalisierung aufzusteigen. Sonst lebt die Zukunft woanders.

Von Solarwinds verweht

Die Parallelen sind kaum zu übersehen: Im Dezember 2019 breitete sich ein bis dahin unbekannter Virus in Windeseile über den Globus aus und infizierte Hunderttausende von Menschen. Unter den Folgen leiden wir noch heute – und ein Ende ist nicht in Sicht. Ein Jahr später – also im Dezember 2020 breitete sich ein bis dahin unbekannter Trojaner in Gigabit-Geschwindigkeit über die globalen Computernetze aus und befiel Zigtausende von Unternehmen und Organisationen. Unter den Folgen werden wir noch lange leiden – und diesmal ist es nicht einmal abzusehen, ob wir tatsächlich einen geeigneten Impfstoff gegen die Seuche der Cyber-Hacks haben. Im Gegenteil: Wir müssen davon ausgehen, dass der nächste Großangriff auf unser Daten-Tafelsilber schon längst (an)läuft.

Annähernd 20.000 Unternehmen und Organisationen allein in den Vereinigten Staaten sind von dem Schlupfloch betroffen, das durch ein kompromittiertes Update des Netzwerkmanagement-Anbieters Solarwinds aus Texas automatisch auf die Firmenserver eingespielt wurde. Zu den prominentesten Opfern zählen die US-amerikanische Atomwaffenbehörde, das Justizministerium, denen wohl kaum fahrlässiger Umgang mit IT-Sicherheit vorgeworfen werden kann. Ebenso wurden ausgerechnet der auf Cybersicherheit spezialisierte kalifornische Anbieter Fireeye und Microsoft attackiert, dessen Cloud-Plattform Azure inzwischen als wichtigstes Wachstumsprodukt etabliert ist und nur weiter boomen kann, wenn das Vertrauen in die Unverletzlichkeit der dort hinterlegten Daten und Anwendungen fortbesteht. Aber genau dieses Vertrauen ist nun gebrochen.

Denn auch wenn russische Geheimdienste – und nicht „nur“ kriminelle Coups zur Geldbeschaffung – hinter dem Angriff vermutet werden, ist das Vertrauen darauf, dass die weltweiten IT-Systeme überhaupt irgendwie geschützt werden können, nun vom Solarwind verweht. Das Unternehmen Solarwinds ist ja nun wirklich keine kleine Software-Klitsche mit fragwürdigem Management, sondern ein hochangesehener Systemsoftware-Lieferant, dem zahllose IT-Leiter vertrauen. Und Microsoft wird sicher nichts unversucht gelassen haben, den unerlaubten Zugriff auf die eigenen Kronjuwelen, nämlich den Sourcecode, zu verhindern. Müssen wir uns jetzt in die Augen schauen und uns eingestehen, dass Angriffe auf IT-Systeme nicht zu verteidigen sind – schon gar nicht, wenn sie als Gegenstand staatlicher Kriegsführung eingesetzt werden. Es sei denn, wir nehmen unsere IT-Systeme wieder komplett vom Netz, wo sie in einer global verzahnten Welt nutzlos bis wirkungslos wären.

Aber können wir Software-Lieferanten überhaupt noch trauen? Es gibt praktisch keine objektiven Qualitätsstandards, mit deren Hilfe wir absolut sicher sein können, dass keine ungewollten oder gewollten Hintertürchen in die Software eingebaut sind. Die Diskussion um die Beteiligung des chinesischen Lieferanten Huawei am deutschen 5G-Netz lebt jetzt wieder auf. Eine Selbstverpflichtung der Software-Lieferanten wäre ebenso wirkungslos wie die Lebensmittelampel von Julia Klöckner. Genau so ein nutzloses IT-Sicherheitskennzeichen sieht aber das im vergangenen November vom Bundesinnenminister Horst Seehofer vorgelegte IT-Sicherheitsgesetz vor.

Dabei bietet die Pharma-Industrie möglicherweise einen Ausweg – und auch das wäre eine Parallele: Wir haben uns im Corona-Jahr 2020 in Geduld fassen müssen, um den quälend langsamen Freigabeprozess für Impfstoffe über drei Ebenen klinischer Studien, dem Nachweis auf Wirksamkeit und der Sicherheit des Produktionsprozesses in aller Sorgfalt ablaufen zu lassen. Die weltweit einheitlichen Studien, Tests und Audits sind das Ergebnis eines pharmazeutischen Super-GAUs, des Contergan-Skandals im Jahr 1961. Seitdem ist das sogenannte „In-Verkehr-Bringen“ von Medikamenten streng reguliert. Wir werden nicht umhin kommen, eine solche „Soft- und Hardware-Behörde“ analog zur US-amerikanischen FDA, der mächtigen Food and Drug Administration zu etablieren. Sonst droht der globalen Informationswirtschaft eine schleichende Abschaltautomatik.

Schon warnen Industrieverbände, dass ein solches IT-Sicherheitsgesetz unnötige Bürokratiehürden aufbauen könnte und darüber hinaus die Kosten für Softwareentwicklung deutlich verteuern würde, während gleichzeitig das Entwicklungstempo gedrosselt werde. Das mag sein, aber höhere Sicherheitshürden sind unverzichtbar in einer Welt, die immer mehr auf Algorithmen aufbaut und vom Datenaustausch lebt. Solarwinds ist nicht Grünenthal – vor allem dann nicht, wenn wir nicht aus der Gefährdung lernen. Sonst wird unsere global vernetzte Welt vom Winde verweht.

SAP und die „Cloudophobie“

Wenn SAP hustet, hat der Deutsche Aktienindex Schnupfen: Neben Linde, Siemens und der Allianz hat Europas größter Softwarekonzern das größte Indexgewicht im DAX. Doch während sich die Börse nach dem Pandemie-Schock wieder aufgerappelt hat, bleibt die SAP-Aktie nach dem massiven Einbruch im vergangenen Oktober am Boden. Gekappte Gewinnerwartungen, stockende Umstrukturierung, verbummelte Cloud-Strategie – für den seit letztem April allein herrschenden Vorstandschef Christian Klein war 2020 ein miserables Jahr.

Dabei sind die Zahlen aus dem soeben abgeschlossenen Geschäftsjahr gar nicht so desaströs, wie Analysten, Anleger und Anwender befürchtet hatten: ein Umsatzrückgang um ein Prozent auf 27,34 Milliarden Euro; das um Sondereffekte bereinigte Betriebsergebnis vor Zinsen und Steuern stieg um ein Prozent auf 8,28 Milliarden Euro. Nachdem SAP im zurückliegenden Jahr die Geschäftsprognosen zweimal nach unten korrigiert hatte, sind die jetzigen Zahlen praktisch so etwas wie eine Punktlandung.

Begründet wird das schwache Abschneiden mit der Zurückhaltung der Kunden, die im Corona-Lockdown ihre IT-Budgets eingefroren haben. Tatsächlich aber haben viele ihre IT-Ausgaben ganz einfach umgewidmet und in Remote Work und Homeoffice-Ausstattung investiert, anstatt weiter millionenteure SAP-Großprojekte zu finanzieren. Deshalb gehören IT-Giganten wie Amazon oder Microsoft auch zu den Gewinnern des Jahres 2020 – und SAP eben nicht.

Denn während Amazon und Microsoft mit ihren Cloud-Strategien von Markterfolg zu Markterfolg eilen, kam Kleins Cloud-Coup im vergangenen Oktober überhaupt nicht an und bescherte den Walldorfern einen Kurseinbruch um 20 Prozent. Die US-Amerikaner haben mit Cloud und Remote Work vor allem Neukunden hinzugewinnen können, während der Umstieg von IT in Eigenregie auf IT-Services in der Cloud langsamer vonstattengeht. Ein vergleichbarer Neukunden-Effekt blieb bei den Walldorfern aber offenbar aus. Und von den 16.000 Anwenderunternehmen, die SAP-Software einsetzen, hat nicht einmal ein Fünftel den Migrationspfad in die Wolke angetreten. Und von diesen 3300 Cloud-Projekten sind erst 2000 live, wie die Anwenderorganisation DSAG ermittelt hat.

An der berühmt-berüchtigten „Cloudophobie“ – der Angst der Deutschen vor der Cloud – allein kann das nicht liegen, denn wie bei Amazon und Microsoft sind die USA auch bei SAP der wichtigste Einzelmarkt. Es liegt wohl eher daran, dass in Walldorf seit gut einem Jahrzehnt an der richtigen Cloud-Strategie herumgebosselt wird – angefangen bei der ebenso lautstarken wie missglückten Markteinführung der Cloud-Suite Business by Design, über völlig überteuerte Migrationsangebote bis zum kostenintensiven Betrieb eigener Cloud-Rechenzentren.

Jetzt soll mit dem „RISE“-Programm der Wiederaufstieg gelingen. Aufsteigen sollen vor allem die Kunden – und zwar endlich in die Wolke. Dazu will SAP Fachwissen und Werkzeuge bereitstellen – und dadurch ein bisschen mehr wie Microsoft werden. Denn Microsofts Plattform Azure ist jetzt die bevorzugte Cloud für SAP – und es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis Azure die ausschließliche Plattform wird. Außerdem soll Microsofts im Corona-Jahr 2020 durchgestartete Collaboration Software Teams fest mit den Unternehmenslösungen von SAP verdrahtet werden, um – wie es im SAP-Sprech heißt – völlig neue Formen der Arbeit, Zusammenarbeit und des Austauschs zu ermöglichen, die grundlegend unsere betrieblichen Abläufe verändern. Geschäftsprozessoptimierung? – das war doch mal die unangefochtene Domäne der SAP. Jetzt kaufen sich die Walldorfer für eine knappe Milliarde Euro das Berliner Startup Signavio. Deren Software ist bereits 1300mal im Einsatz, um bei Kunden wie zum Beispiel Bosch Geschäftsabläufe zu erkennen und Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten. Treppenwitz am Rande: Ein Signavio-Gründer saß noch vor zehn Jahren bei SAP-Gründer Professor Hasso Plattner im Hörsaal.

Die Kooperation mit Microsoft ist nicht neu, doch sie geht nun tiefer und wird von SAP mit neuer Ernsthaftigkeit betrieben. Seit 2019 ist Azure die bevorzugte Cloud-Plattform. Weiter zurück geht die Zusammenarbeit rund um das Office-Paket, das ebenfalls als Cloud-Variante mit den SAP-Lösungen verbandelt ist. Dass hier Potenzial verdaddelt wurde, beweist die jetzt aufgelegte Zusammenarbeit rund um Teams – diese Collaboration Software ist eigentlich ohnehin Bestandteil von Microsoft 365. SAP hat offenbar im vergangenen Jahr den breiten Schwenk der Kunden ins Homeoffice verschlafen.

Damit das nicht wieder vorkommt, will SAP jetzt offenbar ein wenig mehr wie Microsoft sein. Das könnte durchaus ein Kulturschock werden. Aber da hat Christian Klein wohl schon vorgesorgt. Zum Jahreswechsel kam Microsofts Deutschland-Statthalterin Sabine Bendiek als oberste Personalchefin in den SAP-Vorstand. Jetzt wechselte mit Julia White die für Microsoft Azure zuständige Marketingchefin als Chief Marketing Officer in den nunmehr siebenköpfigen SAP-Vorstand. Weitere hochrangige Microsoft-Manager in den USA haben jüngst den gleichen Weg angetreten.

Man soll nichts Schlechtes dabei denken, aber der Gedanke drängt sich auf, dass Microsofts CEO Satya Nadella seine Truppen ausschickt, um SAP von innen zu erobern. Übernahmegerüchte zwischen beiden Companies hat es immer schon gegeben – in den Neunzigern sogar ernsthafte Vorgespräche. Eins lässt sich aber jetzt mit Sicherheit sagen: Der Weg der SAP-Kunden in die Cloud führt so oder so über Microsoft. Das ist vielleicht die beste Impfdosis gegen Cloudophobie.