Digitalisierung bedeutet Freiheit

Vor wenigen Tagen durchbrach der Börsenwert von Microsoft erstmals die magische Grenze von zwei Billionen Dollar. Nur ein Unternehmen – Apple – hat zuvor eine solche Marktkapitalisierung erreicht. Microsoft allein ist damit mehr wert als alle 30 deutschen DAX-Konzerne zusammengenommen. Deren Marktkapitalisierung erreichte zum Ende der letzten Börsenwoche immerhin 1,5 Billionen Euro – mit SAP als wertvollstem Unternehmen, aber bei 138 Milliarden Euro nicht einmal ein Zehntel der Microsoft-Marke groß.

Der Abstand war nicht immer so groß. 2014 – als Satya Nadella das Amt des Chief Executive Officers von Steve Ballmer übernahm und Bill Gates als Chairman of the Board zurücktrat (nicht ganz freiwillig, wie wir heute wissen), da dümpelte die Microsoft-Aktie mit 38 Dollar bei weniger als einem Sechstel des heutigen Werts. In wenigen Tagen dürften zudem die Börsenphantasien weiter beflügelt werden. Dann endet das Geschäftsjahr – und in den vergangenen zwölf Monaten hat Microsoft erheblich von den durch den Corona-Lockdown stimulierten Investitionen überdurchschnittlich profitiert.

Mit diesem neuen Höchstkurs honorieren die Aktionäre und Analysten nicht nur den klaren Technologiekurs von Microsoft, der mit der Vision von CEO Satya Nadella – „Intelligent Cloud / Intelligent Edge“ – einhergeht. Sie würdigen auch die Tatsache, dass Millionen Organisationen im Lockdown mit Hilfe der Collaboration-Software Teams und der Cloud-Plattform Azure ihre Arbeit fortsetzen konnten. Sie haben damit unmittelbar erfahren können, dass Digitalisierung neue Freiheitsgrade freisetzen kann.

In der Tat ist die Cloud der größte Wachstumsfaktor. Das gilt nicht nur für die klassische Unternehmens-IT, die mit Azure sicher in der Cloud betrieben wird, sondern mehr und mehr auch für die Fertigungsumgebung, die über das Internet of Things zu neuer Flexibilität gelangt. Nach Studien ist Azure IoT Edge führend bei der Unterstützung von fertigungsnahen IT-Prozessen. Und nach Ansicht der Gartner Group ist Microsoft Azure gerade beim Thema Security marktführend. Sicherheit nimmt gerade in Zeiten von Cyberangriffen an Bedeutung zu. Und die Cloud erweist sich hier in der Regel als besser geschützte IT-Umgebung im Vergleich zur klassischen Vor-Ort-Infrastruktur.

Nach Einschätzung von Marktanalysten geht gerade in Deutschland jetzt eine „zweite Welle“ der Digitalisierung los, in der der Mittelstand die technologiegetriebene Transformation wagt. Diese positive Grundeinstellung zum Nutzen der Digitalisierung geht übrigens inzwischen durch alle Bevölkerungsgruppen. 94 Prozent der Bevölkerung sehen beispielsweise deutliche Defizite in der digitalen Ausstattung der öffentlichen Hand. Und 60 Prozent der Deutschen sehen den digitalen Wandel als positive Perspektive – und der Lockdown hat in vielen Bereichen gezeigt, wo die Defizite offenliegen. Im Gesundheitswesen, im Bildungssektor, in der öffentlichen Hand, aber eben auch im Mittelstand besteht ein Reformstau, der jetzt mit neuen Digitalstrategien abgebaut wird.

Das kann, ja das wird einen ungeheuren Wirtschaftsboom lostreten, der die Entwicklung von Microsoft in den letzten sieben Jahren in den Schatten stellen könnte. Denn hierzulande sind rund drei Millionen mittelständische Unternehmen auf dem Sprung nach Digitalien. Die US-Economy mag von den Internet-Giganten getragen werden – die Deutsche Wirtschaft wird dagegen vom Mittelstand getragen, der so stark ist, wie in keinem anderen Land. Wie der Mittelstand in Sachen Digitalisierung tickt, hat jetzt der Vorsitzende des BDI/BDA Mittelstandsausschusses im Bundesverband der deutschen Industrie, Hans-Toni Junius ausgeleuchtet.

„Digitalisierung bedeutet Freiheit“, postulierte er aus Sicht des Mittelstands im Diskussionspanel auf dem virtuellen Tag der deutschen Industrie letzte Woche. Dort, wo Geschäftsprozesse repetitiv sind, sich also ständig wiederholen, hilft seiner Ansicht nach Digitalisierung dabei, Menschen von immer gleichen Arbeitsgängen zu entlasten und kreative Kräfte für andere Dinge freizusetzen. Und umgekehrt erkennt der Mittelstand, dass durch Digitalisierung gestützte Prozesse sicherer ablaufen. Fehlervermeidung und Kreativität sind demnach die stärksten Motive für Innovationen und Investitionen.

Neue Freiheiten entstehen nach Junius auch durch neue Berufsbilder, die komplexer werden und neue Formen des vernetzten Denkens und Verstehens verlangen. Innovation ist vermutlich das künftige zentrale Kernprodukt „Made in Germany“, sagt BDI-Präsident Siegfried Russwurm. Deutschland habe keine Alternative zum Industriestandort, und Innovationen stellen den wesentlichen, vielleicht einzigen Differenzierungsfaktor dar. Ohne die Digitalisierung würden diese Freiheiten des Wirtschaftens wegbrechen. Das müsse Grundkonsens sein.

Dringend gesucht: Digitale Persönlichkeit

Der Wahlkampf ist gerade erst eröffnet, da stehen schon wichtige Entscheidungen für den Zuschnitt der künftigen Bundesregierung an. Denn – egal, ob Schwarz oder Grün – ein Digitalministerium muss her! Darin sind sich nahezu alle Wirtschaftsverbände einig. Damit soll es zumindest in Sachen Digitalisierung kein „Weiter so!“ geben, also kein Digitalbeauftragter im Kanzleramt oder eine Bereichszuständigkeit im Innen-, Wirtschafts-, Forschungs-, Justiz- oder Verkehrsministerium. Doch selbst wenn es tatsächlich in der neuen Legislaturperiode zu einem Bundesministerium für Digitalisierung kommen sollte, das möglicherweise sogar ressortübergreifende Zugriffsmöglichkeiten hätte, bliebe ein Hauptproblem immer noch zu lösen: wo wäre denn die Persönlichkeit, die in der Lage wäre, Digitalstrategien für den Bund zu entwickeln und dann auch noch durchzusetzen?

Seit Jahrzehnten – vielleicht seit dem Tod von Heinz Nixdorf 1986 – fehlt in Deutschland eine ausgesprochene Gallionsfigur für das digitale Flaggschiff. Ralph Dommermuth, der Gründer von United Internet, oder die Samwer-Brüder sehen in ihren Karrieren wohl andere Schwerpunkte. Und auch Bitkom-Präsident Achim Berg, einer der lautstärksten Rufer nach einem Digitalministerium und einer griffigen Digitalstrategie, wäre wohl befähigt, würde aber kaum dem Ruf ins Kabinett folgen. Denn im Berliner Haifischbecken der Politik würde wohl jeder Quereinsteiger aus der Wirtschaft in den ersten Monaten um Auswechselung betteln.

Aber aus dem jetzigen Politikertableau im Bund bietet sich keiner oder keine für einen Platz in der Startaufstellung an. Da muss man schon auf die Landesebene schauen. In Nordrhein-Westfalen sitzt seit ziemlich genau vier Jahren Andreas Pinkwart als Minister für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie im Kabinett von Armin Laschet einem solchen Superministerium vor, wie es für den Bund wünschenswert wäre. Denn Digitalisierung ist keine wertfreie Technologie-Übung. Sie ist erfolgreich, wenn dadurch Wirtschaft innovativ operieren kann oder wenn sie in den Dienst von Herkulesaufgaben wie Energiewende und Klimaneutralität gestellt wird.

Allerdings: so wie die Dinge in Zeiten von Datenschutz-Grundverordnung, „Cloudophobie“ und digitaler Bräsigkeit liegen, würde ein solches Digitalministerium doch wieder nur von einem Verhinderer angeführt, in dem Großprojekte langsam und mühsam auf den Weg gebracht würden – nach dem Motto: „Lieber nicht regieren, als schlecht.“ Mit Laufzeiten jedenfalls, wie sie seit dem schon Jahre ohne nennenswertes Ergebnis unter dem Namen Gaia-X vor sich hin dümpelnden Projekt der Daten-Cloud oder wie sie bei der seit Jahrzehnten versprochenen Entbürokratisierung zu beobachten sind, kann man im digitalen Zeitalter noch nicht einmal hinterherlaufen, geschweige denn verlorenes Terrain zurückgewinnen.

Mehr Agilität findet sich denn auch in der Empfehlung der Expertenkommission Forschung und Innovation für die kommende Bundesregierung. Die Technologie-Missionen müssten schneller und mit mehr Zukunftsperspektive formuliert und auf den Weg gebracht werden. Anreize für die Wirtschaft sollten konkret und diesen Zielen untergeordnet sein, schreiben die Wissenschaftler in ihrem Gutachten für 2021. Fünf wesentliche Prioritäten empfehlen die Autoren: „Eine hohe Priorität müssen die großen gesellschaftlichen Herausforderungen und dabei insbesondere die Nachhaltigkeitsziele haben. Ebenso wichtig für die Wohlstandsentwicklung ist es, dass Deutschland bestehende technologische Rückstände aufholt und sie bei potenziellen Schlüsseltechnologien von Beginn an vermeidet. Damit diese Ziele erreicht werden können, muss ein rohstoffarmes Land wie Deutschland über eine starke Fachkräftebasis verfügen. Im Hinblick auf F&I-Investitionen bei privaten Unternehmen ist es darüber hinaus notwendig, die Innovationsbeteiligung zu erhöhen. Schließlich ist die Agilität der F&I-Politik eine wichtige Voraussetzung, um den gesellschaftlich erwünschten transformativen Wandel erfolgreich umzusetzen.“ Das klingt wie die Präambel eines künftigen Koalitionsvertrags über das zu bildende digitale Superministerium.

Es sollte aber zugleich auch die Handlungsaufforderung für die deutsche mittelständische Wirtschaft sein, die sich in Sachen Digitalisierung nicht nur im Corona-Jahr 2020, sondern auch schon davor schwertat. Zwar wurden einerseits Not-Programme wie die Umstellung auf Remote Work forciert, andererseits aber längerfristig angelegte Digitalprojekte auf Eis gelegt. Inzwischen hat ein Großteil der Unternehmen seine Rücklagen aufgebraucht. Und woran wird als erstes gespart? Richtig: an der Digitalisierung.

Dabei beweisen genügend Studien, dass vor allem die Unternehmen sich schneller von der Krise erholen, die schon früh mit digitalen Geschäftsprozessen ihre Transformation eingeleitet haben. Ein solcher Change-Manager wäre denn auch das Beste für ein mögliches digitales Superministerium. Muss das eigentlich ein Deutscher sein? Nachdem Microsofts CEO Satya Nadella dank seiner Erfolge in den zurückliegenden Jahren mit einer Machtfülle ausgestattet wurde, die vor ihm nur der Gründer Bill Gates innehatte, blickt man neidvoll auf die Visionäre auf der anderen Seite des Atlantiks. Wobei – Bill Gates hätte ja jetzt Zeit. Wir sollten schon jetzt mit der Stellenausschreibung beginnen: Digitale Persönlichkeit – dringend gesucht.

Licht am Ende des Tunnels?

Lassen Sie mich mit einer persönlichen Bemerkung beginnen: Als Software-Unternehmer war ich Jahrzehnte lang Wettbewerber, aber auch Berater und Partner des größten deutschen Softwarehauses SAP. Ich habe die Lebensleistung der Gründer stets mit Respekt, ja: sogar mit Bewunderung verfolgt. Und es schmerzt mich zutiefst, wie dieses Unternehmen im globalen Vergleich ins Mittelmaß abrutscht. Dieser Blog dokumentiert mein Entsetzen darüber…

„Wir sehen Licht am Ende des Tunnels“, beteuerte SAPs CEO Christian Klein zur Eröffnung der virtuellen SAPphire Now und er meinte damit weniger die Tatsache, dass sich seine Company nach dem Tiefschlag im Oktober 2020 allmählich erholt, sondern vielmehr das bevorstehende Ende des Corona-Lockdowns. Damals – im Oktober 2020 – ließ eine überraschende Gewinnwarnung den Börsenkurs um 40 Prozent absacken. Zwischenzeitlich – im April – notierte die Aktie wieder bei 120 Euro. Beflügelt wurden die Phantasien der Aktionäre auch durch einen Großauftrag der Google-Mutter Alphabet, die künftig mit SAPs Finanzlösung die bisherige Oracle-Installation ablösen will.

Nein, am Ende des Tunnels sieht Christian Klein vielmehr Menschen, die es nicht erwarten können, vom Home Office wieder ins Firmenbüro zu wechseln. Wahrscheinlich gibt es sie tatsächlich – und es mag sogar eine knappe Mehrheit sein. Aber es gibt auch diejenigen Unternehmen und Mitarbeiter, die im Remote Work Teile des neuen Normal nach Corona erkennen. Aber wenn man nicht – wie Microsoft mit Teams oder Salesforce mit Slack – eine eigene ausgefeilte Collaboration-Lösung im Portfolio hat, dann muss man sich die Realität eben ein wenig zu seinen Gunsten umdeuten.

Tatsächlich sind Zahlen wie die 75 Millionen täglichen User, die mit Hilfe von Microsoft Teams in Projekten zusammenarbeiten oder in Meetings neue Kommunikationsformen eingeübt haben, für SAP in weiter Ferne. Der deutsche Software-Riese musste ausgerechnet im Corona-Jahr einen vorsichtigen Ergebnisausblick abgeben – zu einem Zeitpunkt, wo deutlich stärker cloud-orientierte Unternehmen von einem Lockdown-Boom getragen wurden. SAP kann zwar inzwischen respektable und robuste Cloud-Umsätze vorweisen. Doch es bedarf wohl noch sehr viel mehr Überzeugungsarbeit, um die Kunden von ihren millionenschweren SAP-Installationen im eigenen Rechenzentrum in die Cloud zu hieven.

Das soll jetzt in der Nach-Corona-Ära gelingen. Deshalb gehört „Resilienz“ zu den wichtigsten Vokabeln im SAP-Sprech. Damit ist einerseits die Fähigkeit gemeint, sich von einem erlittenen Rückschlag möglichst schnell und vollständig zu erholen. Andererseits verlangt Resilienz aber auch, Verhalten und Einstellungen angesichts von Veränderungen neu auszurichten. Beides ist jetzt nach dem Trauma der Corona-Krise und auf dem Weg ins neue Normal gefordert. Es reicht deshalb nicht, wiederholt Klein eine These, die an dieser Stelle schon mehrfach postuliert wurde, bestehende Prozesse einfach nur zu digitalisieren, sie ansonsten aber unangetastet zu lassen. Gefordert ist ein wenig mehr Erleuchtung am Ende des Tunnels: digitale Transformation bedeutet nämlich Digitalisierung plus Veränderung.

Doch diesem Anspruch wird SAP meiner Auffassung nach derzeit kaum selbst gerecht: Als Highlight der bisherigen – noch über Tage andauernden virtuellen SAPphire Now – zauberte Klein das Projekt Rise aus dem Hut. Damit sollen Kunden weiter von OnPremises in Richtung SAP-Cloud gelockt werden. Das Projekt zielt also deutlich auf ein „Weiter so“. Der Migrationspfad ins Cloud Computing verspricht nämlich zunächst nur eine andere Infrastruktur, nicht aber auch eine veränderte Geschäftsprozesskultur. Ein vergleichbares Migrationsangebot gab es übrigens schon seit 2020 mit dem bisherigen Partner Microsoft. Doch weil da der Weg monodirektional in Richtung Azure führte, wurde jetzt die Vertriebspartnerschaft erst einmal still und heimlich auf Eis gelegt.

Dagegen soll das nicht besonders einfallsreich benannte „Business Network“ tatsächliche Veränderungen bringen – nämlich in der Supply Chain. Auch hier spielt Resilienz eine zentrale Rolle. Denn nach Schocks wie dem Corona-Lockdown mit Grenzkontrollen und der Havarie der „Ever Given“ im Suez-Kanal wurde den Unternehmen noch einmal aufgezeigt, wie anfällig eine Just-in-Time- oder gar Just-in-Sequence-Logistik in Wirklichkeit ist. Hier sollen die Lösungsbausteine aus den Einzellösungen Ariba für das Procurement, SAP Logistics Business Network und SAP Asset Intelligence Network eine neue Basis für künftige „Business Communities“ bilden. Während andere also auf vernetzte Teamarbeit als Zukunftsmodell setzen, blickt SAP auf die vernetzte Lieferkette, die eben längst keine Kette mehr ist, sondern ein hochkomplexes Netzwerk.

Dafür braucht man mehr Intelligenz – zum Beispiel „Business Process Intelligence“, also die Fähigkeit, Geschäftsprozesse neu zu denken. Doch statt hier nach vorne zu schauen, spricht Aufsichtsratschef Hasso Plattner im Interview mit der neuen Marketing-Chefin Julia White von weit, weit zurückliegenden Erfolgstories, indem er beim Sprechen – während andere hier Augenkontakt mit dem Publikum oder seiner Interviewpartnerin suchen würden – irgendwas zwischen seinen Beinen zu suchen scheint. Die alerte Julia White versucht, interessiert zu schauen, während Plattner sich im – unstreitig legendären – Migrationsprojekt verlor, als IBM in den späten achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die SAP-Lösung von Unix auf die AS/400 hob. Das ist sowas von alter Tobak, dass sogar die Übersetzer für die Untertitel des Keynote-Videos ins Straucheln gerieten und „ASV 100“ statt „AS/400“ texteten.

„Da war mehr drin“, wie man jetzt in der Sprache der soeben angepfiffenen Fußball-Europameisterschaft sagen könnte. Die von Microsoft zu SAP gewechselte Marketing-Chefin Julia White hat sich redlich bemüht, den virtuellen Event aufzupeppen. Doch alles wirkt wie eine Billigkopie der Microsoft Entwicklerkonferenz Build, die soeben über die Bildschirme gegangen ist. Das ist – um eine weitere Fußball-Sprechblase zu benutzen – zu viel Klein-Klein. Statt Licht am Ende des Tunnels ist da noch ziemlich viel „Luft nach oben“.

Alles bleibt anders

Dass sich unser Leben in der Corona-Pandemie geändert hat, ist inzwischen geradezu ein Gemeinplatz. Und dass wir nach den Lockdowns und Freiheitseinschränkungen künftig nicht wieder zu einem Status ex ante zurückkehren werden, gilt ebenfalls als ausgemacht. Aber wie unsere Zukunft aussehen wird, darüber gehen die Meinungen extrem weit auseinander. Die einen sehen in der Digitalisierung praktisch aller Geschäftsprozesse in Industrie und öffentlicher Hand, im Gesundheitswesen oder im Bildungssektor den Segen, die anderen befürchten gerade darin den Gottseibeiuns.

Dabei machen uns kurzfristige Studien auch nicht schlauer: eine – wenn auch knappe – Mehrheit der EU-Einwohner spricht sich dafür aus, Parlamentarier durch KI-Algorithmen zu ersetzen. Das jedenfalls hat das „IE Center for the Governance of Change“ in der repräsentativen Studie European Tech Insights ermittelt. Danach würden 51 Prozent der Befragten die Zahl der nationalen Parlamentarier reduzieren und die freiwerdenden Plätze durch Algorithmen ersetzen. Je jünger die Befragten, desto begeisterter sind sie von dieser Idee. Bei den 25- bis 34-Jährigen waren es schon über 60 Prozent. Und nach dieser Studie würden sich die Jüngeren auch mehrheitlich bei Gesundheitsfragen auf die Ergebnisse von maschinellem Lernen verlassen.

Aber während auch die Wissenschaftler immer mehr auf KI-Systeme setzen wollen, um neue Behandlungsmethoden zu optimieren, und das „Nationale Forschungsnetzwerk der Universitätsmedizin zu Covid-19“ auf die Bereitschaft der Patienten setzt, künftig anonymisierte Daten über ihren Gesundheitszustand herzugeben, macht sich nach einer Befragung von YouGov die Mehrheit der Deutschen Sorgen, dass Algorithmen sie bevormunden, falsche Entscheidungen treffen und das persönliche Gespräch zurückdrängen. Aber auch hier gilt: je jünger die Befragten, desto positiver stehen sie dem Einsatz von KI gegenüber. Während bei den 18- bis 24-Jährigen noch 51 Prozent der Befragten der Entwicklung hin zu mehr Künstlicher Intelligenz etwas Positives abgewinnen können, sind es bei den über 55-Jährigen nur 38 Prozent.

Geht also – wie bei der Klimadebatte auch – ein Graben zwischen Alt und Jung durch die Bevölkerung? Wird das Alter der Entscheider und der Kunden darüber entscheiden, wie und wie schnell sich eine Branche verändert? Nach einer Analyse der Unternehmensberatung McKinsey über die zurückliegenden 18 Monate zeigt sich tatsächlich, dass sich die Branchen tatsächlich schon heute mit unterschiedlichem Tempo wandeln.

Am deutlichsten wird das im Einzelhandel: denn während Lebensmittel und andere Produkte des täglichen Bedarfs die gesamte Pandemie hindurch im Ladenlokal verkauft werden durften und deshalb nur vereinzelt andere Verkaufsformen genutzt wurden, sind für alle anderen Konsumerprodukte die Online-Bestellungen hochgeschnellt. Das gilt für alle Käuferschichten. Doch während für ältere Kunden der Besuch im Lebensmittelgeschäft noch zu den Höhepunkten des tristen Corona-Alltags gehörten, haben die jüngeren Käuferschichten auch bei Lebensmitteln die Lieferdienste entdeckt. Diese zwei Geschwindigkeiten wirken sich auch auf die Logistik aus. Denn während für die Non-Food-Produkte völlig neue Logistikkonzepte für automatisiertes Lagermanagement benötigt wurden, blieb in der Lebensmittellogistik zunächst alles beim Alten – bis auch hier die Lieferdienste für Kombiboxen und Fertiggerichte ins Rollen kamen.

Auch die Automobilindustrie ist ja nicht nur durch den Strukturwandel hin zur Elektromobilität geprägt, sondern – mehr noch – von der Tatsache, dass Autos von jungen Leuten nicht mehr so sehr als Statussymbol gesehen werden. Deshalb brachen die Verkäufe gerade bei jungen Käuferschichten stärker ein als bei den älteren, als es wegen der Mobilitätseinschränkungen während der Corona-Pandemie sowieso keinen triftigen Grund für die Anschaffung eines fahrbaren Untersatzes mehr gab. Und gleichzeitig sind die Jüngeren besser mit Eigenschaften wie Vernetzung und Umweltverträglichkeit zu ködern, als durch klassische Verbrenner-Argumente wie Fahreigenschaften.

Alles bleibt anders – nur wahrscheinlich anders als erwartet. Wie unsicher Prognosen in Zeiten der Corona-Krise sind, beweist ein Blick auf die Halbleiterindustrie, die mit den Chips quasi einen der Rohstoffe der Digitalisierung liefert. Denn während die Forecasts beispielsweise in der Automobilindustrie einen zusätzlichen Bedarf an Prozessoren von sechs Prozent vorhersahen, wurden es tatsächlich zehn Prozent weniger. Umgekehrt sollte der Anteil der Chipherstellung für Personal Computer nach den Vorhersagen stagnieren, weil immer mehr junge Leute zu Tablets und anderen mobilen Geräten wechseln. In Wirklichkeit nahm aber die Nachfrage nach den Chips um elf Prozent zu, weil immer mehr junge Menschen dann doch für das Home Office einen PC benötigten.

Der durch die Generationen getriebene Wandel beschleunigt sich in der Pandemie und in den Zeiten danach. Aber wohin die Reise geht, ist schwer einzuschätzen. Grundsätzlich gilt wohl:

  • Mieten, Tauschen und Teilen sind das neue Kaufen. Die Bedeutung, Produkte zu besitzen, tritt gegenüber ihrer Nutzung zurück.
  • Produkte werden zu Trägern von Dienstleistungen, die die eigentlichen Differenzierungspotentiale und damit die Wertschöpfung liefern.
  • Massenproduktion und Personalisierung schließen sich nicht mehr aus, wenn die Individualisierung über Services aus dem Netz gestaltet wird.
  • Diese Services werden immer stärker durch KI-Komponenten wie maschinelles Lernen bestimmt. Die KI-sierung der Wirtschaft erfolgt also unbemerkt und schleichend über Produkteigenschaften.
  • Immer mehr führen Transportunternehmen diese letzten Bearbeitungsschritte zur Personalisierung vor oder sogar während der Lieferung durch.
  • Digitaler Handel bleibt gleichwertig neben dem stationären Handel bestehen. Einkäufe werden zu „Event-Shopping“, während der tägliche Bedarf über Lieferdienste erfolgt.
  • Nachhaltigkeit und Klimaneutralität werden zu alles überlagernden Verkaufsargumenten.
  • Die klassische Wertschöpfungskette aus Produzieren, Handeln, Nutzen und Entsorgen wird zu Recyclingprozessen geschlossen.

Daraus ergeben sich völlig neue Geschäftsmodelle und Nutzungsversprechen, die vor allem das Kaufverhalten der jüngeren Generation verändern wird. Sie wird der wahre Treiber der post-coronalen Digitalisierung. Zu „Fridays for Future“ gesellt sich dann „Dienstags für Digitalisierung“. Wie gesagt: alles bleibt anders.