Digitale Prokrasti-Nation

Die amerikanische Weltraumagentur NASA hat jetzt die Nokia Bell Labs damit beauftragt, den Mond mit dem Übertragungsstandard 4G zu vernetzen. Für 14 Millionen Dollar soll es möglich sein, Rover auf unserem Satelliten in Echtzeit zu steuern. Wenn das so weiter geht, liegt das Breitband-Brachland Bundesrepublik im wahrsten Sinne des Wortes „hinterm Mond“.
Was wie Kabarett klingt ist in Wirklichkeit eine Posse im Kabinett. Die Bundesregierung bekommt einfach keine stimmige, durchgängige und vor allem von Visionen getragene Digitalpolitik hin. Oder haben Sie in letzter Zeit etwas Richtungsweisendes von der Beauftragten der Bundesregierung, Dorothee Bär, gehört, vom mit Digitalisierungsthemen befassten Kanzleramtsminister Helge Braun oder dem für die digitale Infrastruktur zuständigen Verkehrsminister Andreas Scheuer? Hat der Bundesinnenminister Horst Seehofer eine Digitalisierungsstrategie der Bundesbehörden losgetreten? Hat die Kanzlerin Grundsätzliches zur digitalen Mittelmäßigkeit unseres Landes veröffentlicht? Am meisten hört man noch vom Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, der zwar von KI bis Cloud Initiative für Initiative lostritt, diese dann aber aus den Augen zu verlieren scheint.
Man möchte sagen: Corona deckt alles andere zu. Aber tatsächlich deckt die Corona-Krise auch schonungslos die digitale Schwäche Deutschlands auf. Zwar bieten 60 Prozent der deutschen Unternehmen ihren Mitarbeitern in Corona-Zeiten die Möglichkeit an, im Homeoffice zu arbeiten, aber nur 27 Prozent der Deutschen erfreuen sich eines unterbrechungsfreien, performanten Internetanschlusses. Das ergab eine von der FDP-Bundestagsfraktion in Auftrag gegebene repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa. Und schon vorher haben Technologiestudien aufgezeigt, dass in der Regel die Deutschen nicht die Bandbreite bekommen, die sie vertraglich mit ihrem Provider vereinbart haben. Der Breitbandatlas des Bundesverkehrsministeriums weist für 100 Mbit pro Sekunde nur gut 50 Prozent der privaten Haushalte im Westen Deutschlands aus – im Osten sind es mit ein paar Ausnahmen weniger als 50 Prozent.
Zugegeben: der Durchbruch im digitalen Deutschland wird nicht im Homeoffice entschieden, sondern eher in den Produktionsstätten, den Lieferketten oder in den digitalen Produkten und Plattformen, die die Wirtschaft bereitstellt. Aber auch hier offenbart die Corona-Krise das digitale Dilemma: ihre Digitalstrategien sind – wenn sie ernsthaft verfolgt werden und nicht aus Larifari-Projekten mit einem eShop hier und einer Skype-Konferenz dort bestehen – sowohl datenintensiv als auch realtime. Das verlangt Bandbreiten im Gigabit-Bereich – und dort sind es gerade einmal die Großstädte Berlin, München, Hamburg und – huch! – Bremen, die eine gewisse Versorgung aufweisen. Dort, wo der Mittelstand zu Hause ist, herrscht Breitband-Brachland. Man kann es mittelständischen Unternehmern nicht verübeln, wenn sie ihre Geschicke nicht an eine Infrastruktur hängen wollen, die immer dann in die Knie geht, wenn man sie am dringendsten braucht.
Doch eine Internet-Leitung hilft nichts, wenn die Intelligenz-Leistung sie nicht mit digitalem Mehrwert füllt. Da sehen die Bundesbürger laut Forsa-Befragung erhebliche Defizite im Bundeskabinett: So verneinten 84 Prozent die Frage, ob die Politik die Bevölkerung ausreichend auf das digitale Zeitalter und die damit verbundenen Folgen vorbereite. Und fast ebenso viele – 82 Prozent – fanden, dass die Corona-Krise diese Defizite deutlich herausstelle. Das zeigt sich an der schlechten Ausstattung der Schulen, die vier von fünf Befragten für nicht ausreichend halten. Das zeigt sich aber auch in der mangelhaften Bereitstellung von Bürger-Portalen für digitale Behördengänge, die entweder nicht vorhanden oder aber unübersichtlich und schwer verständlich sind.
So konsequent die Bundesregierung in der Corona-Krise zu handeln versteht, so inkonsequent ist sie in der Digital-Krise, auf die Deutschland ungebremst zusteuert. Zur Rettung der Unternehmen wurde fast ausschließlich auf arbeitsmarktpolitische Werkzeuge zurückgegriffen. Auf einen Digitalpakt gegen Corona, der kritische Branchen wie das Gesundheitswesen zusätzlich befähigen könnte, wurde abgesehen von ein bisschen Telemedizin verzichtet. Dafür bezahlt der Steuerzahler mittels Kurzarbeitergeld auch diejenigen Mitarbeiter, die zum Beispiel in der Automobilindustrie ohnehin von einem digitalen und elektromobilen Strukturwandel betroffen wären. Es werden also auch Firmen dafür belohnt, dass sie den digitalen Wandel erfolgreich aussitzen.
Diese Aufschieberitis ist vielleicht gefährlicher als das Corona-Virus. Wir sind ein Land von digitalen Aussitzern geworden – eine Prokrasti-Nation.

Big Blue, der Rote Riese

Die Nachricht gibt Anlass, grundsätzlich zu werden: IBM wird sich bis zum Ende des Jahres 2021 in zwei Gesellschaften aufteilen. Das wird interne Kosten von fünf Milliarden Dollar verursachen – eine Größenordnung, an der die meisten Organisationen auf dieser Welt schlicht zerschellen würden. Nicht aber IBM. „Too big to fail“, zu groß, um zu scheitern – irgendwie steht dieser Satz in weißblauen Streifen wie das IBM-Logo über mehr als einem Jahrhundert der Geschichte der Informationstechnik. Sie ist länger als die 109 Jahre, die geschichtsvergessene Kolumnisten jetzt ausrechnen. Die Geschichte reicht bis ins vorvergangene Jahrhundert zurück, als der Heilige Hollerith, der Schutzpatron aller Nullen und Einsen, in den Vereinigten Staaten eine Volkszählung auf Lochkarten durchführen ließ. Dabei traten schon – und das kann wohl nur würdigen, wer wie ich 75 Jahre dieser Geschichte leibhaftig miterlebt hat – genau die Tugenden zutage, die heute den Erfolg der neuen IBM bringen sollen: Big Data, Analytics, ein ganz kleines bisschen künstliche Intelligenz – und irgendwas mit Cloud.

Ich kann nicht anders: ich muss die Geschichte der IBM eng verknüpft mit meiner eigenen Geschichte als Software-Unternehmer sehen. Als Big Blue sich Anfang der achtziger Jahre entschied, sich aus dem Geschäft mit der Anwendungssoftware zurückzuziehen – eine der ganz großen Eseleien in der strategischen Ausrichtung dieses IT-Methusalems –, wurde mein Softwarehaus der europaweit erste Mittelstands-Partner der IBM. Vorher hatten schon andere – Dietmar Hopp, Hasso Plattner und weitere – als Anwendungsprogrammierer erkannt, dass die Ausbeutung ihres Erfindungsreichtums durch IBM weniger lukrativ ist als die Selbstausbeutung. So wurde SAP. Und so entstand der Multi-Milliarden-Markt der Softwareindustrie – einfach nur deshalb, weil IBM diesen Markt verlassen hatte.

Das gleiche passierte mit dem Personal Computer und seiner gigantischen Software-Umgebung bis hin zu lokalen Netzwerken, die nur deshalb den freien Marktkräften überlassen werden konnte, weil die Chef-Etage in Armonk, New York State, das Potenzial hinter dem Betriebssystem DOS nicht erkannte und auch diesen Markt aufgab. Damals war IBM so marktbeherrschend, dass sie eigene Namen für ansonsten generische Produkte durchsetzen konnte. Statt Disk oder Festplatte hieß es DASD – sprich: Däsdie – Dynamic Access Storage Device. Das klang nach High Performance und nach richtig wichtig. Was sollte da ein Personal Computer oder ein von einem Bill Gates zusammengeschustertes Billig-Betriebssystem, das ohne großen Wartungsvertrag mit jahrelanger Kundenknebelung – pardon: Kundenbindung – auf einem Satz von acht Zoll großen Floppy Disks ausgeliefert werden konnte. Da war doch keine Marge zu holen! Doch! – und zwar gerade weil IBM diesen Markt verlassen hatte.

Marge – das war gleichbedeutend mit Mainframes! Und Big Blue war der Godfather der Großrechner. Die Herren im blauen Anzug beschäftigten sogar eine eigene Organisation zur Desinformation, um die sogenannten Plug Compatible Manufacturer, die steckerkompatiblen Wettbewerber wie Amdahl, Fujitsu und – auch das ein Treppenwitz der Geschichte – deutsche Anbieter wie BASF, Siemens und Nixdorf über die weitere technische Entwicklung der /370-Architektur in die Irre zu führen: „We do not speculate about unannounced products“, lautete das Mainframe-Mantra. Aber Big Blue, der Erfinder der Timesharing-Rechenzentren, erkannte nicht die Zeichen der Zeit, als im Hintergrund des World Wide Web übergroße Service-Rechenzentren entstanden, deren Computing Power nicht auf Mainframes, sondern auf Abertausenden von PC-Chips beruhte. Zu diesem Zeitpunkt – und das ist ein weiterer „Armonk-Lauf“ des Unternehmens –verkaufte IBM seine PC-Sparte als Lenovo nach China. Ausgerechnet China! Von dort verkabelt jetzt Huawei die IT-Infrastruktur weltweit. Und damals? – wer gehörte damals zu den größten Server-Herstellern weltweit? Ein Nobody namens Google, der ausschließlich für den Eigenbedarf produzierte. Wieder entstanden Märkte alleine dadurch, dass IBM sie verließ.

Alles verdaddelt und verdellt. Irren bleibt menschlich – IBM.

Und doch: 77 Milliarden Dollar Umsatz machte dieses Unternehmen, das von IT-Fettnäpfchen zu IT-Fettnäpfchen torkelt, im vergangenen Jahr. Und vor zwei Jahren konnte Big Blue sogar für 34 Milliarden Dollar Big Red kaufen, den Unix-Spezialisten Red Hat. Einfach so. Aus der Portokasse! Doch es wurde nicht der große Befreiungsschlag, den die glücklose Ginny Rometty so dringend gebraucht hätte. Angesichts des geringen Impacts, den der Kauf auf die Firmenkultur bisher zu haben schien, galt die Übernahme als hemmungslos überteuert. Ein Verzweiflungskauf, mehr nicht.

Aber jetzt scheint sich der Rote Riese innerhalb von Big Blue durchzusetzen. Die alte Cash-Cow, das Mainframe-orientierte Service-Geschäft mit rund 19 Milliarden Dollar Umsatz wird in eine neue Gesellschaft ausgelagert. Doch der Rote Riese soll als Big Blue, also unter dem Namen IBM, weitermachen – mit Cloud Computing, künstlicher Intelligenz, Blockchain und Quantum-Computing. Das wäre schon jetzt dreimal so groß wie die Service-Gesellschaft – und könnte den Zugriff auf einen 1000 Milliarden Dollar großen Markt eröffnen.

„Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt“, soll der Duke of Wellington zu Blücher gesagt haben, als der mit seiner Armee vor Waterloo erschien und den Sieg über einen übermächtigen Gegner ermöglichte. Ob IBM das auch gelingen wird, spät aufzuschlagen und dann aber gegen solche Cloud-Giganten wie Google, Amazon oder Microsoft zu obsiegen, darf bezweifelt werden. Aber IBM ist unkaputtbar. In Big Blue steckt jetzt ein Roter Riese. Am Ende sollte sich diese Übernahme doch auszahlen.

Tage des Internets

Etwas Positives lässt sich der Corona-Krise letztlich doch abgewinnen: Da Großveranstaltungen abgesagt bleiben und die Events nun virtuell stattfinden, kann man auch an Ereignissen teilnehmen, die zeitlich und räumlich konkurrieren. Sonst wäre es wohl nicht möglich gewesen, in den USA an einer Microsoft-Konferenz teilzunehmen und trotzdem den Tag der Industrie nicht zu verpassen. „TDI“, wie der Bundesverband der Deutschen Industrie den Event inzwischen wohl in einer Verneigung vor der Automobilindustrie zu nennen beliebt, steht damit nicht nur für Turbocharged Diesel Injection, sondern erst recht für „Tag des Internets“.

Und es wird wohl noch viele Tage des Internets geben angesichts der Hotspots in den Großstädten. Wir hängen am seidenen Faden – und der besteht aus der Bereitschaft in der Bevölkerung, sich an die Eindämmungsmaßnahmen gegen das Coronavirus zu halten. Doch die Nachrichten von kommerziell veranstalteten Kellerparties, die geradezu mit dem Verstoß gegen die Pandemie-Regeln werben, geben nicht unbedingt Anlass zu Optimismus. Und so wird der Leitsatz des BDI-Positionspapiers zur Wirtschaft in der Pandemie nur ein frommer Wunsch bleiben. Er lautet: „Die Wirtschaft muss davon ausgehen können, dass ein flächendeckender Lockdown
ausgeschlossen werden kann. Planungssicherheit und Vertrauen sind unerlässlich
für diese Phase der Stabilisierung.“

Das ist weniger an die Politik gerichtet, als vielmehr an die Unbelehrbaren. Sie gefährden den Wiederanlauf der Wirtschaft. Und sie gefährden letztlich sogar mutwillig ihre eigenen Arbeitsplätze. Sie gefährden ihren eigenen Wohlstand durch den Wunsch nach einem zweifelhaften Wohlgefühl. Doch maskenfrei im Alkoholrausch menschliche Nähe zu suchen, ist kein Menschenrecht, sondern ein Vergehen an der Gesellschaft. Dass es sich bei diesen „Feier-Biestern“ in der Regel um den gleichen Teil der Bevölkerung handelt, der zugleich vehement nach staatlicher Unterstützung ruft, wenn der eigene Wohlstand gefährdet ist, sei hier nur angemerkt. Es ist nicht das Thema dieses Blogs…

Das Thema ist vielmehr das Wort „Optimismus“, das wie ein Leitstern über dem Tag der deutschen Industrie hing, der dank eines ausgefeilten Hygienekonzepts doch nicht ganz körperlos stattfinden konnte. Und so war es auch durchaus körperbetont, wie BDI-Präsident Dieter Kempf die Wirtschaft in die Pflicht nahm und ihre Bereitschaft betonte, die mit dem Klimawandel und der Digitalisierung verbundenen Herausforderungen anzunehmen, ja sogar positiv anzupacken. „Wir packen´s an“, sagte er und griff damit – wohl ohne es zu wollen – ein Wort der Kanzlerin aus dem Jahr 2015 auf. Und vielleicht ist dieses „wir packen´s an“ die wesentliche Botschaft nicht nur für diesen Herbst, sondern auch für die Erreichung der Klimaziele bis 2030, 2040 oder 2050.

Das geht aber nicht, wenn die Digitalisierungsziele ebenfalls so lapidar bis 2030, 2040 oder 2050 prolongiert werden. Seit einem halben Jahr beweisen uns die digitalen Großveranstaltungen, dass man über Bandbreite mehr Menschen erreichen kann als über Ausstellungsfläche. Das Messewesen ist bereits vor Corona in einer Sinnkrise gewesen – und die Zwangsvirtualisierung weist ihnen einen Weg in die Zukunft. Doch wer den „Tag des Internets“ ruckelfrei erleben wollte, musste schon in einer der bevorzugten Gegenden Deutschlands leben. Nie wurde uns die mangelhafte Ausstattung mit 5G-Bandbreiten lebhafter vor Augen geführt, als in diesen Lockdown- beziehungsweise Beinahe-Lockdown-Zeiten.

Aber wir stehen nicht nur vor einer Technologie-Wende. Wir stehen auch vor einer Wende im gesellschaftlichen Gefüge. Dieter Kempf hat dies sehr weise angesprochen: es geht um den Erhalt des globalen gesellschaftlichen Konsenses, der sich im freien Handel und im Austausch von Ideen äußert – nicht in Schutzzöllen und alternativen Fakten. Und es geht um die Frage, wie jene Menschen, die durch die Globalisierung und die Digitalisierung ihre Arbeitsplätze verlieren, dauerhaft für neue Aufgaben qualifiziert werden können.

Wie in einem Brennglas fokussiert das Corona-Virus unsere eigentlichen Probleme in einem Punkt. Sie wurden am Tag der Industrie sichtbar. Aber lösbar werden sie erst in den kommenden Tagen des Internets.

 

 

 

World Wide Wiedervereinigung

In der Woche vor dem 3. Oktober, dem 30. Jahrestag der Wiedervereinigung, konnte man auf praktisch allen Kanälen noch einmal Einblicke nehmen, wie – ja sagen wir es ruhig – verkrustet, bräsig und spießig die Gesellschaft damals war. Das gilt für den Westen nicht weniger als für den Osten, in dem noch der massive Renovierungsrückstau der Infrastruktur und die erschütternde Paralyse einer in ihrer Ideologie gefangenen Gesellschaft hinzukamen. Und beim Blick in schmucke Innenstädte, auf intakte Autobahnen, rausgeputzte Bahnhöfe und im Angesicht einer Bevölkerung, die sich weniger in Ost und West teilt, als immer noch behauptet wird, könnten wir uns doch ein wenig selbstzufrieden auf die Schulter klopfen. Wir haben in den 30 Jahren in die Erneuerung des Landes mehr investiert als bei den Rettungsmaßnahmen in der Finanzkrise, der Flüchtlingskrise und der Covid-Pandemie zusammen.

Aber gleichzeitig tun sich neue Gräben auf – nicht nur der zwischen den angeblich Zurückgelassenen oder Nicht-Abgeholten und der Elite, sondern der Graben zwischen Armen und Reichen oder die Kluft zwischen Bildung und Unbildung. Und es gibt eine tiefe Schlucht zwischen den Technologie-Aversen und den Technologie-Adepten. Alle vier Konflikte – der zwischen Ost und West, zwischen Arm und Reich, zwischen Bildung und Unwissenheit und der zwischen Analogen und Digitalen – sind nicht deckungsgleich, sondern überlagern sich in einem föderalen Flickenteppich. Hier gibt es keine einfachen Lösungen, sondern hundertfache Sonderwege in Berlin, München, Rhein/Ruhr, auf dem Land in Mecklenburg-Vorpommern oder in Hessen.

Das ist mein Erklärungsversuch für die so schmerzlich zu beobachtende Unfähigkeit in diesem Land, einen Durchbruch in wenigstens einem der Megatrends zu schaffen. Wir feiern zwei, drei Biotechfirmen, die jetzt ganz vorne in der Impfentwicklung gegen das Coronavirus mitmischen, aber von der ehemaligen Apotheke der Welt sind wir meilenweit entfernt. Wir können stolz sein auf vergleichsweise wenig Corona-Tote, leisten uns aber ein Gesundheitswesen, das auch deshalb so kostenintensiv ist, weil es so ineffektiv ist. Wir gehören (immer noch) zu den führenden Forschungsnationen der Welt, schaffen es aber nicht, die Ergebnisse der Grundlagenarbeit auch in innovative Produkte umzuwandeln. Und wir laufen mit unseren Initiativen bei künstlicher Intelligenz, 5G-Ausbau, Daten-Cloud, autonomen Systemen oder in der Energiewende hinter den Peer-Nationen her, mit denen wir uns eigentlich auf Augenhöhe treffen müssten.

Doch in der jetzt von den Ökonomen der Wirtschaftshochschule IMD erneut aufgelegten Studie zur infrastrukturellen und technologischen Ausstattung von 63 untersuchten Ländern rangieren wir gerade noch im oberen Drittel – auf Platz 18. Im Vergleich zur Vorgängerstudie von 2016 ist Deutschland sogar von Platz 16 zurückgefallen. Und gleichzeitig ist auch der Abstand zu den Top Ten noch größer geworden als es die acht Ranglistenplätze deutlich machen. Die zehn innovativsten Länder – darunter nicht nur die üblichen Verdächtigen wie die USA und China, sondern auch Lettland und Dänemark – rücken insgesamt gesehen von der Verfolgergruppe ab.

Es macht keinen Spaß, über diesen fortdauernden schleichenden Niedergang zu schreiben. Und wahrscheinlich macht es auch keinen Spaß, darüber zu lesen. Aber es ist nötig, dass wir über diesen Dauerzustand endlich Klartext reden und vernünftige Rahmenbedingungen schaffen, in denen Unternehmertum, Gründergeist, Risikobereitschaft, Bildungswille und ja: Empathie gedeihen können. Es ist wichtig, ausführlich über die Ethik hinter Algorithmen nachzudenken. Aber wir dürfen darüber das Handeln nicht vergessen. Es ist richtig, die digitale Souveränität einzufordern, aber dazu müssen wir einen jahrzehntelangen Rückstand aufholen. Es ist notwendig, die mangelnde Ausstattung unserer Bildungseinrichtungen anzuprangern und zu beheben, aber wir dürfen dabei nicht die Bildungsinhalte für die Themen und Berufe von morgen vergessen, die es zu vermitteln gilt. Es ist nicht verkehrt, über die Auswirkungen von Robotern am Arbeitsplatz zu sprechen, aber wir dürfen dabei nicht die Chancen zerreden, die sich daraus ergeben.

Wir brauchen eine Wiedervereinigung im Geiste – die nicht Ost und West zusammenschmiedet, sondern den gesunden Menschverstand wieder über Verschwörungstheorien und alternative Fakten einsetzt. Am 9. November vor 30 Jahren hat der Fall der Mauer Europa verändert. Aber am 12. März vor 30 Jahren hat die erste Nachricht über das World Wide Web die physische und die virtuelle Welt verändert. Wir müssen endlich zur Kenntnis nehmen, dass diese Revolution vielleicht doch die mit den größeren Folgen ist. Wir brauchen eine World Wide Wiedervereinigung.