Microsoft: von Multiplan zum Metaverse

Die Informationstechnik ist ein weitgehend geschichtsvergessener Technologiesektor. An Biertischen oder bei Sektempfängen erinnert man sich schon mal gern daran, was ein Megabyte Speicherplatz gekostet haben mag, welche Produkte als Gamechanger die Welt veränderten oder welche sagenhaften Karrieren in dieser Immer-bergauf-Branche möglich waren – und welche Abstürze. Wo fängt man also an, wenn man an eine vierzig Jahre vergangene Zeit erinnern möchte? Am besten bei sich selbst.

Ich habe mein Unternehmen (die heutige GUS Group) im August 1980 gegründet – in einer Zeit, in der unser Denken von IBM, Siemens oder Nixdorf dominiert wurde, und fünf Jahre, nachdem Bill Gates die Microsoft Corp. in Albuquerque, New Mexico, gegründet hatte. In einer Zeit, als die BASF noch Großrechner nachbauen ließ, Heinz Nixdorf Kassensysteme baute und Siemens auf ein Betriebssystem setzte, das parallel zu Unix ein Nischendasein fristen sollte: Xenix. Die Lizenz für das Produkt hatten die Siemensianer für eine Million Dollar von einem kleinen Unternehmen in Unterhaching eingekauft: Microsoft Deutschland GmbH. Deren wichtigstes Produkt war – nein: nicht MS-DOS – sondern eine Tabellenkalkulation für den Apple II: Multiplan.

Sechs Mitarbeiter um den Deutschland-Statthalter Joachim Kempin bezogen am 4. Mai 1983 ihre bescheidenen Büroräume als Untermieter der Firma Zilog, die es tatsächlich als Marke heute noch gibt. Damals war sie ein Gigant, der mit dem Z80-Mikroporzessor die IT-Welt zum Leben erweckte: Sinclair ZX80, Amstrad CPC, Commodore 64, Tandy TRS-80 – alle mit dem Betriebssystem CPM-80:  das waren die von Zilog-Mikroprozessoren unterstützten Produkte, die unsere Phantasien beflügelten. Jedenfalls im Privatleben – beruflich setzte die GUS wie die Mehrzahl der Unternehmen weltweit auf IBM, Nixdorf und – zumindest im Falle der GUS – auf einen Exoten namens Cromemco. Das war unsere Entwicklungsumgebung – bis mein Technologiechef Rolf Eckertz auf den Tisch haute und rief: Wir brauchen IBM PCs mit MS-DOS!

Aber die waren teuer, sehr teuer – und alles andere als Mainstream. Nicht einmal die IBM-Berater, die sich bei uns die Klinke in die Hand gaben, nahmen dieses Produkt ernst. Dennoch: ab 1984 waren diese Personal Computer schon das meistverkaufte Computersystem in Deutschland – und natürlich auch weltweit. Time Magazine kürte den Rechner am Ende des Jahres zur „Person of the Year“. Und das, obwohl Steve Jobs noch zu Beginn des Jahres zur teuersten Superbowl-Werbezeit den IBM PC mit Big Brother verglich. Logisch – im Orwellschen Jahr 1984.

Was folgte, war der Niedergang von IBM, Nixdorf und – sorry – Siemens als Big Tech-Companies und der Aufstieg von Microsoft, das mit MS-DOS ab 1985 durchs Window kroch und dabei beinahe steckenblieb. Denn Windows 1.0 war eine Katastrophe, Windows 2.x nicht der Rede wert. Erst mit Windows 3.1 im Jahre 1992 und dem von uns allen geliebten Minesweeper begann der wahre Siegeszug. Und er wurde mit Excel, Word und Co zusätzlich unterfüttert. Microsoft – ein Unternehmen mit Lösungen für den Privatgebrauch. Kann man machen, muss man aber nicht haben. Dann kam SQL Server und Microsoft etablierte sich bei großen Unternehmen als Spezialist für den Datenschatz.

Nichts von alledem wurde in Deutschland programmiert. Microsoft war eine US-amerikanische Firma mit deutscher Vertriebsorganisation, die allerdings zwischenzeitlich zur wachstumsstärksten Auslandsorganisation des Konzerns avancierte. Bis dahin galt die alte VWL-Regel: Europa generiert zehn Prozent des US-Umsatzes, und Deutschland zehn Prozent des europäischen. Doch mit der Wiedervereinigung und dem damit verbundenen Aufholbedarf im Osten änderte sich das. Man könnte sagen, der Wiederaufbau in den fünf neuen Bundesländern gelang auch durch und mithilfe von Microsoft Deutschland. Ja: mit zwischenzeitlich 30.000 kleinen und mittelständischen Partnerunternehmen allein in Deutschland ist Microsoft Deutschland ein deutsches Ökosystem. Nichts – oder beinahe nichts – würde in den meisten Organisationen heute ohne Windows oder Office, SQL-Server oder Mail-Server funktionieren. Und ganze Karrieren basierten zur Jahrtausendwende auf Programmierkenntnissen rund um DotNet.

Doch es ist anstrengend, wenn es immer bergauf geht – und man sich keine Zeit nimmt, nach links und rechts zu schauen. Als Steve Jobs 2010 die Ära der Smartphones eröffnete, war die Dominanz von Microsoft auf den Desktops gefährdet. Denn das Wort des 21. Jahrhunderts lautet: Mobilität. Kurz zuvor hätte Microsoft bereits beinahe das World Wide Web verschlafen. Und auch die dritte große Technologiewelle – das Cloud Computing – wurde nicht unbedingt von Microsoft eingeleitet.

Doch heute sind es die Zukunftstechnologien wie Cloud Computing, Quantum Computing, Artificial Intelligenz, das Industrial Internet of Things und das Multiverse, die von Microsoft dominiert werden. Daran hat auch die Tatsache Anteil, dass Microsoft Deutschland – mehr noch als beispielsweise IBM, SAP oder Siemens – im deutschen Mittelstand verankert ist. Das wäre allerdings ohne die 30.000 Partner nicht möglich gewesen. Insofern ist Microsofts Erfolg in Deutschland auch ein Erfolg des mittelständischen IT-Pragmatismus: Erst der Return on Investment rechtfertigt das Investment.

40 Jahre nach seiner Gründung in Deutschland ist Microsoft eine gesellschaftliche Größe – auch wenn Datenschützer eine Dauerdebatte um die Vereinbarkeit eines US-Unternehmens mit den Bestimmungen der Datenschutz-Grundverordnung führen. Dass die mutmaßlich in die USA abfließenden Daten auch dazu beitragen, deutsche Behörden vor Cyber-Angriffen aus dem Kreml oder anderen Schurken-Organisationen zu schützen, sollte dabei nicht übersehen werden. Dass künstliche Intelligenz längst dazu beiträgt, Leben zu retten, sollte in der Güterabwägung schwerer wiegen als rechtliche Bedenken.

Doch am wichtigsten scheint mir dieses: Wir können die Deutschlandgeschwindigkeit nur dann auf Weltniveau beschleunigen, wenn wir uns in der digitalen Transformation, beim Antizipieren von neuen Technologien wie künstlicher Intelligenz und bei der Durchsetzung neuer Geschäftsmodelle im Sinne einer Plattform-Ökonomie etwas mehr beeilen als das in den letzten 20 Jahren der Fall war. Man kann von Microsoft auch lernen, wie verpasste Chancen wieder wettgemacht werden können.

Insofern: Herzlichen Glückwunsch zu 40 Jahren Microsoft Deutschland an die Deutschland-Chefin Dr. Marianne Janik und ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Es ist ein Glückwunsch, der auf uns selbst zurückfällt. Gut, dass es euch gibt.

SAP im Cloud-Paradox

Vor zwölf Jahren versammelten sich Millionen US-Amerikaner vor ihren Fernsehgeräten, um mitzuerleben, wie sich ihr Champion gegen seinen Herausforderer schlägt. Der Champion, das war ein gewisser Ken Jennings, der über mehrere Jahre hin das beliebte Fernseh-Quizz „Jeopardy“ gewonnen hatte. Der Herausforderer war eine künstliche Intelligenz namens Watson, die in den Laboratorien der IBM entstanden und mit Tausenden von Lexika und Enzyklopädien gefüttert worden war. In der Sendung war nur ein Monitor zu sehen – doch der eigentliche Watson war eine ganze Flucht an Rechnern im IBM Forschungslabor in Yorktown Heights.

Am Tag nach dem grandiosen Sieg der Maschine Watson über den Menschen Jennings waren die Zeitungen und Nachrichtensendungen voll von Ahnungen und Befürchtungen über die Zukunft. Doch der Hype verflog so schnell, wie er gekommen war. Nachdem die für das Gesundheitswesen optimierte KI „Watson Health“ in mehreren Projekten floppte, entschied sich IBM für eine Milliardenabschreibung und einen Neuanfang – unter dem Namen „Watsonx“.

Dieser Neuanfang zeichnet sich jetzt in einer soeben geschlossenen Partnerschaft mit SAP ab – auch wenn sich das Ganze noch recht schwammig anhört: „SAP-Kunden werden dadurch von neuen KI-gestützten Einblicken und Automatisierungen profitieren und in der Lage sein, Innovationen zu beschleunigen. Anwendern wird so ein effizienteres Arbeiten im gesamten SAP-Portfolio ermöglicht.“ Das sagt irgendwie alles und nichts.

Konkret soll Watsonx SAP-Kunden dabei helfen, sich in den Cloud-Angeboten der Walldorfer besser orientieren zu können. „Über SAP Start als zentralen Einstiegspunkt haben Anwender einen einheitlichen Zugriff auf die Cloud-Lösungen von SAP“, heißt es in einem offiziellen Statement. „Sie können damit Apps, die in SAP-Cloud-Lösungen und SAP S/4HANA Cloud bereitgestellt werden, suchen, aufrufen und interaktiv nutzen.“

So weit, so langweilig! In einer Omdia-Studie aus dem vergangenen Jahr ließ sich SAP noch als „Nummer Drei“ unter den Unternehmen, die „Embedded AI“ anbieten, feiern. Damals waren weder Watsonx noch Chat-GPT von OpenAI am Horizont erkennbar. Vor allem Microsoft mischt dank seines Engagements bei OpenAI die KI-Szene derzeit auf und bietet Chat-GPT als „Copilot“ in nahezu allen Cloud-Produkten an. Auch beim CRM-Spezialisten SalesForce, der als Cloud-Pionier früh auf Software as a Service gesetzt hat, tut Chat-GPT bereits seine Dienste. Grund genug für SAP, noch vor dem eigenen Kunden-Event Sapphire eine tiefergehende Kooperation mit Microsoft rund um Chat-GPT beziehungsweise den „Copiloten“ anzukündigen. Hier soll die KI zunächst in die Personalmanagement-Lösung SuccessFactors integriert werden.

Die vermeintliche Nummer Drei in Sachen KI kauft also kräftig dazu, um konkurrenzfähig zu bleiben. Das hat inzwischen traurige Tradition. Die letzte echte Innovation aus den Walldorfer Entwicklungslabors – nämlich Business by Design – konnte ihr Marktpotenzial nie ausschöpfen. Bei der Ankündigung dieser ersten lupenreinen SaaS-Lösung konnte man noch glauben, dass SAP mit Volldampf in die Cloud manövriert. Was dann kam, war ein Hin und Her zwischen OnPremises und OnDemand. Das lag nicht nur daran, dass die Kunden ihre millionenschweren Investitionen nicht in die Cloud verlagern wollten, sondern vor allem daran, dass in Walldorf überhaupt nicht die Rechenzentrums-Ressourcen zur Verfügung standen und auch heute wohl kaum stehen, um massiv anspruchsvolle Anwendungen aus der Cloud performant und zu wirtschaftlich interessanten Konditionen zu bedienen.

Da kann es nicht überraschen, dass mit IBM und Microsoft zwei Cloud-Giganten Hilfestellung für die Walldorfer leisten. Denn KI-Systeme sind große Ressourcenfresser, die sowohl bei der Datenmenge als auch bei der Energiemenge einen nach oben offenen Bedarf entwickeln. Zusammen mit Amazon und Google bilden IBM und Microsoft zumindest in der westlichen Welt die unangefochtenen Gatekeeper, die allein in der Lage zu sein scheinen, dem Daten- und Rechenhunger der KI-Transformation in den Unternehmen zu begegnen. Das führt zu einer geradezu paradoxen Machtverteilung. Denn diese Zentralisierung der IT- und KI-Infrastruktur führt ganz offensichtlich gleichzeitig zu einer Demokratisierung und Dezentralisierung der Nutzung: KI für jedermann.

Wenn schon SAP kaum in der Lage zu sein scheint, den Cloud-Bedarf seiner Kunden zu decken, wie sollten dann mittelständische Unternehmen diese Infrastruktur stemmen? Sie profitieren aber als Kunden von KI- und IT-Lösungen, die ihnen OnDemand zur Verfügung gestellt werden. Sie mieten oder abonnieren den „Brennstoff der Zukunft“, indem sie Rechenzentrums-Ressourcen für ihre Daten und Rechenpower für ihre KI-Anwendungen buchen. Also mehr Cloud für alle durch mehr Cloud von wenigen.

Und so finden wir SAP inmitten eines Cloud-Paradox, das zugleich als Perspektive dienen kann. Es wäre utopisch anzunehmen, Walldorf könnte weltweit Data-Center errichten, die die bestehende Kundenbasis aus globalen Konzernen bedienen könnten. Das geht nicht mehr ohne Microsoft oder IBM oder vielleicht noch mit der Deutschen Telekom. Aber SAP kann den deutschen Mittelstand beziehungsweise das globale Small and Medium Business bedienen. Das wäre ein Wachstumspotential, auf dem man auch Aktionärsphantasien aufbauen könnte.

Mit diesem Cloud-Paradox kann man sich abfinden. Aber dann muss man sich auch damit abfinden, dass die Infrastrukturen nicht europäisch, sondern im Idealfall US-amerikanisch sind. Das wäre dann immer noch besser als eine Abhängigkeit gegenüber China. Europäische Träume von digitaler Souveränität sind damit so oder so nicht zu verwirklichen. Dass Politiker davon immer noch träumen und reden, ist auch paradox.

Geheimniskrämerei aus Datenschutzgründen

Seit beinahe drei Jahren hangeln sich der Bundesdatenschutzbeauftragte und seine sechzehn Kollegen aus den Ländern mit dem Unternehmen Microsoft um die Frage, ob Landes- und Bundesbehörden, die kommunale Verwaltung oder öffentliche Einrichtungen wie Schulen und Universitäten Cloud-basierte Produkte des Anbieters aus Redmond einsetzen dürfen. Microsoft möchte – wen kann das überraschen – natürlich ein großes Paket mit der öffentlichen Hand in Deutschland schnüren. Und die Datenschützer blockieren das wegen einiger Bedenken zum Datenschutz im Allgemeinen und zur Konformität mit der Datenschutz-Grundverordnung im Besonderen.

Der Streit schwelt, seit in den Vereinigten Staaten nur wenige Wochen nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center der sogenannte US Patriot Act unter der Präsidentschaft von George W. Bush verabschiedet wurde, der einerseits die Rechte von US-Bürgern und Einreisenden aus der EU einschränkt, sondern andererseits auch US-Behörden wie dem FBI, der NSA oder der CIA nicht nur den Zugriff auf die Server von US-Unternehmen ermöglichta. Auch ausländische Tochterfirmen – wie zum Beispiel die Deutschlandniederlassungen von Microsoft, Google, Amazon oder Apple, sind nach dem US-Gesetz verpflichtet, Zugriff auf ihre Server zu gewähren; selbst dann, wenn lokale Gesetze dies untersagen. Und genau so ist es: In allen Fällen, in denen personenbezogene Daten auf Servern von US-Töchtern gespeichert werden, verstößt dies theoretisch und putativ gegen deutsches und europäisches Recht. Das hat auch der EuGH in zwei Urteilen nach Klagen des österreichischen Datenschutz-Aktivisten Max Schrems bestätigt – auch, nachdem der Patriot Act 2015 durch den sogenannte US Freedom Act abgelöst wurde. Der Freedom Act zielt also auf das exakte Gegenteil von Freiheit – deren Einschränkung nämlich.

Da Microsoft seine Lösungen wie Windows, Office oder Teams aus der Cloud anbietet, ist die Problematik nun für die gesamte Microsoft-Palette anhängig. Hinzu kommt, dass Microsoft durch Monitoring zum Beispiel Nutzungsdaten mitschreibt, die für einen besseren Schutz gegen Cyber-Angriffe, zur Fehlerbehebung und zur Performance-Messung verwendet werden. Den Datenschützern geht das zu weit – beziehungsweise gehen ihnen die Beteuerungen von Microsoft, die Daten nur für die genannten Zwecke zu verwenden, nicht weit genug.

Deshalb wurde ein Gutachten (an eine nicht näher identifizierte Stelle) in Auftrag gegeben, das die Einsatzmöglichkeiten von Microsofts Cloud-Lösungen unter Datenschutzgesichtspunkten in Behörden untersucht. Das Gutachten liegt jetzt vor – und wird unter Verschluss gehalten. Der Tech-Redaktion von golem.de ist es zu verdanken, dass diese Geheimniskrämerei jetzt öffentlich wird. Sie hatte im Rahmen des Transparenz-Gesetzes um Freigabe des Gutachtens gebeten.

Abgesehen von formaljuristischen Aspekten gibt es eine zentrale Begründung für die Ablehnung: Man würde die Verhandlungsposition gegenüber Microsoft schwächen, wenn jetzt Details aus dem Gutachten zur Rechtskonformität der Microsoft-Produkte aus der Cloud veröffentlicht würden. Aber ist das nicht gerade der Geist der Transparenz-Gesetze, dass durch Veröffentlichung geheim gehaltener Informationen Chancengleichheit hergestellt wird und die Position der privaten Wirtschaft gegenüber dem staatlichen Machtapparat gestärkt werden kann? Oder haben wir da was missverstanden?

Nun ist es gar nicht mal wahrscheinlich, dass das Gutachten zu einem anderen Ergebnis kommt als dem, dass die durch die US-Gesetzgebung geschaffene Schieflage bestätigt wird. Demnach wären Cloud-Produkte von US-Anbietern immer noch nicht rechtskonform, gemessen an den Standards der DSGVO. Im Schreiben der nordrhein-westfälischen Datenschützer, das die Verweigerung der Herausgabe begründet, wird allerdings von einer „Reduzierung“ der Standards gesprochen, so dass die Datenschützer offensichtlich Verhandlungsbereitschaft signalisieren, wenn die Gegenseite – also Microsoft Deutschland – sich ebenfalls entgegenkommend zeigt.

Das Absurde an der Situation ist aber, dass niemand die Behörden zwingt – oder zwingen kann – Microsoft-Produkte einzusetzen oder ganz grundsätzlich Cloud-basierte Lösungen von wem auch immer zu nutzen. Es ist aber nun mal die Verbeugung vor den Vorzügen der Cloud, dass auch die deutschen Behörden nach langem Weigern nun endlich in die Cloud wollen und eine allgemein verfügbaren Lösung für ihre Geschäftsprozesse und die Kommunikation mit Bürgern und Unternehmen nutzen wollen. Raus aus dem Fax-Zeitalter, rein in das Digital Age: Auf diesem Niveau befindet sich die IT im behördlichen Deutschland – da ist von Aufholjagd im digitalen Ranking der europäischen Länder nun wirklich noch nicht die Rede.

Es ist aber auch ein zweites: Nach den jahrzehntelangen Debatten um Open Source – angefangen bei Unix und nicht enden wollend bei Apache Open Office – verbeugen sich die öffentlich-rechtlichen Nutzer vor der Attraktivität der Microsoft-Angebote. Niemand muss die Angebote aus Redmond kaufen oder nutzen. Aber mit der Bereitstellung von KI-Funktionen durch die ChatGPT-gestützten Copiloten hat Microsoft binnen weniger Monate eine völlig neue Anwendungs-Suite geschaffen, deren Produktivitätsvorteile auch einen Bürokratie-Moloch wie die deutschen Behörden nicht kalt lassen kann.

Mein Vorschlag: Hört auf mit dem Rumeiern. Der Vorteil für die deutsche Wirtschaft, wenn die Behörden aus dem Fax-Zeitalter in die Ära der künstlichen Intelligenz durchstarten würden, wäre ungemein größer als der potenzielle (und ohnehin hypothetische) Schaden. Wenn der deutsche Mittelstand jetzt Tempo aufnimmt, sollte er nicht durch deutsche Behörden wieder ausgebremst werden. Geheimniskrämerei ist jetzt das absolut falsche Signal. Es dient nicht dem Datenschutz, sondern dem Bestandsschutz der ewig Gestrigen.

Ein Jeep für alle Fälle

Es ist immer bedenklich, wenn man eine Lösung für praktisch alles serviert bekommt. Denn die allein seligmachende Lösung gibt es seit der Vertreibung aus dem Paradies nicht mehr. Aber Künstliche Intelligenz hat tatsächlich etwas von einer „Silver-Bullet“ – einem Werkzeug für praktisch alles. Das liegt in der Tatsache begründet, dass eine Technologie wie Generative AI das vielleicht generellste Tool nach der menschlichen Sprache, der Kraft von Bildern, der Beherrschung des Feuers und der Erfindung des Rades ist, das die Menschheit je geschaffen hat. KI ist demnach so etwas wie ein Jeep – geeignet für jedes Gelände: General Purpose eben.

In jüngster Zeit poppen vermehrt Smartphone-Apps hoch, mit denen Menschen mit Behinderungen mehr Teilhabe ermöglicht wird – also Handy-Apps gegen Handicaps, sozusagen. Dazu gehört die Fähigkeit des KI-Modells DALL-E, digitalisierte Bilder zu beschreiben und damit Sehbehinderten oder Blinden zusätzliche Informationen zukommen zu lassen. Eine spezialisierte App bietet die Möglichkeit, einen beliebigen Gegenstand zu fotografieren, sodass die KI Informationen dazu abgeben kann – zum Beispiel, welche Texte auf einer Konservendose stehen, ob die Banane bereits braune Stellen aufweist oder ob der ausgewählte Pullover farblich zur Hose passt. Hörgeräte können immer ausgefuchster aktives Zuhören unterstützen, indem sie Umgebungsgeräusche oder Gespräche am Nachbartisch ausfiltern und lediglich die Stimmen in der nächsten Umgebung durchlassen. Menschen mit Mobilitätsbehinderungen werden bereits seit langem durch Collaboration-Lösungen besser in Teams integriert. Und Menschen mit einer Lese- oder Schreibschwäche werden nicht mehr bei der Kommunikation mit Schriftsprache ausgesperrt. Im Ergebnis können sich mehr Menschen mit ihren besonderen Fähigkeiten verwirklichen – ohne dass Handicaps eine unüberwindliche Barriere darstellen.

Das zeigt sich auch bei harter körperlicher Arbeit, bei der KI-gestützte CoRoboter oder intelligente Exoskelette den Menschen davor bewahren, schnell zu ermüden und bleibende chronische Schäden davonzutragen.  Gerade auf der Hannover Messe im April konnte man Roboter sehen, die sich sicher durch die Besuchermassen in den Gängen bewegten, weil sie in der Lage waren, den Menschen auszuweichen. In einer Fertigungsumgebung bietet das ungeahnte Vorteile, weil Roboter nicht länger in einem abgesperrten Bereich für sich arbeiten, sondern dem Menschen im wahrsten Sinne des Wortes zur Hand gehen können, ohne ihn durch „unbedachte“ Bewegungen zu verletzen.

Ohnehin sind KI-Systeme die sicherste Maßnahme gegen den immer weiter ausufernden Fachkräftemangel in Deutschland. Denn ob und inwieweit Migrationsgesetze tatsächlich wirken, ist angesichts des weltweiten Wettbewerbs um schlaue Köpfe und fleißige Hände durchaus fraglich. Doch wenn KI-gestützte Sprachassistenten Entwickler dabei unterstützen, komplexen Programmcode zu entwickeln, oder Menschen ohne Programmierkenntnisse befähigen, eigene Maschinensteuerungen zu programmieren oder individuelle Apps für die Beschleunigung ihrer Geschäftsprozesse zu entwickeln, ist dies von volkswirtschaftlicher Bedeutung.

Dass wir dadurch in die Lage versetzt werden, unsere Produktion noch flexibler und effizienter zu gestalten, weil ganze Fertigungsstraßen interaktiv zusammenarbeiten können und auf eventuelle Störungen in der Lieferkette oder bei einem geänderten Nachfrageverhalten zu reagieren, wird den Produktionsstandort Deutschland stärken und auch im Vergleich zu Billiglohnländern besser positionieren.

Und tatsächlich steht hinter der KI-gesteuerten Fertigung auch die Vorstellung von einer vollautomatisierten Produktion, wie sie in vielen für den Menschen ungesunden Umgebungen heute schon gang und gäbe ist. Auf lange Sicht scheint dies der einzige Weg zu sein, aus dem klassischen Gesellschaftsmodell des durch Arbeit finanzierten Lebens auszubrechen. Am 1. Mai stand bereits die Vision von der Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich im Fokus. Wie man auch immer dazu stehen mag, finanzieren ließe sie sich nur dadurch, dass die Maschinenarbeit besteuert wird und nicht die menschliche Arbeitszeit. Nur so – noch weiter gedacht – ließe sich auch das voraussetzungslose Grundeinkommen gegenfinanzieren.

Schon heute helfen KI-Systeme in der Fertigung dabei, ressourcenschonend zu produzieren und sich den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen anzunähern. Leerfahrten vermeiden, weniger Müll und weniger Ausschuss produzieren, Energie bewusster nutzen und alternative Materialien einsetzen, das sind sämtlich Aufgaben der Industrie, bei denen KI-Systeme den entscheidenden Unterschied machen können. Das gleiche gilt für die Hoffnung auf eine nachhaltige Produktion von Nahrungsmitteln durch eine exaktere Bewässerung und Düngung der Ackerflächen und die Beobachtung des Pflanzenwuchses durch intelligente Drohnen.

Dies sind Beispiele jenseits der immer wieder vorgebrachten Lösungsbausteine wie bessere Diagnose und Therapie im Gesundheitswesen, schnellere Bearbeitung von Formularen und Anträgen in den Behörden oder die unselige Debatte über Hausaufgabenhilfen durch Sprachassistenten. KI hat das Zeug zum Krisenkiller.

Oder ist künstliche Intelligenz doch die Keimzelle für die eine ganz große Krise – nämlich die, die das Ende des Homozäns einläutet, in der sich die Menschheit versklavt und mit Ego Shootern, Sex, Drugs und Crime abgespeist wird. Die Mahner dieser Welt sehen uns an der Schwelle zu jener Zeit, in der die ärgsten Science-Fiction Distopien vom Schlage der Matrix wahr werden. Sie fordern Auszeiten, Regulierungen und eine Selbstbeschränkung der KI-Konzerne.

Ich glaube, dass KI-Systeme sich ganz allmählich einschmeicheln in unser Leben – wie es bereits die Smartphones getan haben, die viele Menschen nicht mehr missen möchten. Es sind die kleinen Annehmlichkeiten wie die Rechtschreibhilfe, der intelligente Kalender, die Unterstützung von Kreativität und die Messung jedes einzelnen Herzschlags, die uns an künstliche Intelligenz ebenso gewöhnen werden, wie dies schon bei den Smartphones der Fall war. KI wird so sympathisch wie der Jeep der US-Soldaten, der für jeden Einsatzfall gebaut war. KI als Jeep für alle Fälle.