Erst kapieren, dann kopieren

Ziemlich genau vor 90 Jahren verkauften die Opel-Brüder 80 Prozent der Unternehmensanteile an General Motors, und jeder befürchtete, dass mit dem Verlust des damals größten heimischen Automobilherstellers eine noch junge Zukunftsindustrie aus Deutschland abwandern würde. Zehn Jahre später schlug – als Projekt der Nationalsozialisten – die Geburtsstunde von Volkswagen, dem heute größten europäischen Automobilhersteller. Und als vor 45 Jahren die Kuwait Investment Authority bei Daimler-Benz einstieg, schien das Ende der deutschen Automobilindustrie wieder bevorzustehen. Stattdessen wurde Mercedes zur globalen Premium-Marke und Volkswagen begann mit seiner Einkaufstour, die dem Wolfsburger Konzern bis heute zwölf Weltmarken bescherte – und mit Moia eine dreizehnte Marke für Mobilitätsdienste.

Jetzt verbündet sich Volkswagen in Sachen Digitalisierung erst mit Microsoft und aktuell mit Amazon, um einerseits seine Fahrzeugflotte zu vernetzen und mit digitalen Services auszustatten, andererseits aber um die 122 rund um den Globus verteilten Werke besser zu integrieren und logistisch miteinander zu verknüpfen. Schon Ende des Jahres soll auf der Azure-Plattform von Microsoft das Geschäft mit Mobilitätsdienstleistungen für die elektrifizierte I.D.-Baureihe aufgenommen werden. Auch die Kooperation mit Amazon soll zum Jahresende erste Früchte tragen. Rund 140 Einzelprojekte wurden intern schon definiert.

Allerdings ist das erste und dringendste Einzelprojekt der Aufbau von Skill. Derzeit gibt es konzernweit 100 AWS-Spezialisten. Mehr als doppelt so viele sollen es werden, wenn die Volkswagen Industrial Cloud ihre Ziele erreichen soll: eine integrierte Produktionsplanung über alle 122 Werke hinweg, die Materialverfolgung auch auf dem Transportweg zwischen den Werken und die Einbeziehung aller rund 30.000 Niederlassungen des Volkswagen-Konzerns und der 1500 globalen Lieferanten möglich machen soll. Dafür sollen alle werkseigenen Unternehmenslösungen mit der Volkwagen Industrial Cloud synchronisiert werden.

Auch bei Amazon bedarf es der Qualifizierung und weiterer Investments, um das Giga-Projekt zu stemmen. Dazu soll auch Siemens mit seinem Know-how bei der Fertigungsautomation beitragen. Siemens ist damit vorerst der einzige deutsche Partner, der beim Volkswagen-Konzern in Sachen Digitalisierung zum Zuge kommt. Die beiden deutschen Haus-und Hof–Lieferanten – SAP und Deutsche Telekom –, die beide traditionell Volkswagen mit Unternehmenslösungen und Telekommunikationsleistungen versorgen, gehen offensichtlich erst einmal leer aus.

Und wieder regen sich die Befürchtungen, dass die Partnerschaft mit den beiden US-Konzernen Microsoft und Amazon Know-how in einer wichtigen Branche aus Deutschland abziehen könnte. Und diesmal dürfen sich die Sorgen auch keineswegs als unbegründet erweisen. Amazon ist bekannt dafür, sehr kreativ zu sein, wenn es darum geht, das Geschäftsmodell eines Kunden erst zu kapieren und dann zu kopieren. Im Logistiksektor und im Handel ist dies bereits gelungen. Es steht zu befürchten, dass die Wolfsburger ihren eigenen Konkurrenten an der Wolfsbrust nähren.

Der Deal mit Amazon wird auf einen hohen dreistelligen Millionen-Betrag geschätzt, bei dem beide Firmen noch kräftig in das Projekt investieren müssen. Die Vernetzung der Millionen Fahrzeuge aus den zwölf Volkswagen-Marken mit Microsofts Hilfe dürfte kaum kleiner ausfallen. Gerade eben hat die Nutzfahrzeug-Sparte von VW allein für dieses Jahr eine Investitionssumme von 1,8 Milliarden Euro für die Ausstattung der Trucks mit Mobilitätsdiensten genannt.

Beide Projekte zusammen – Mobilitätsdienste und Industrial Cloud – werden über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte angelegt sein und summa summarum einen Wert von mehreren Milliarden Euro darstellen. Im Vergleich dazu schauen die KI-Initiative (drei Milliarden Euro über Jahre verteilt) und die Industriepolitik (derzeit nur gute Worte) des Bundeswirtschaftsministers klein-klein aus. Auch der Wirtschaftsminister sollte von Amazon lernen – erst kapieren und dann kopieren. Vorreiter sind wir nämlich schon lange nicht mehr.

Teilen ist das neue Haben

Unsere gesamte Mobilitätsgesellschaft beruht auf dem uralten Wunsch, Menschen und Waren von A nach B zu transportieren. Komplizierter wird die Sache, wenn gleichzeitig auch der Wunsch besteht, Menschen und Waren von B nach A zu bewegen. Und richtig komplex wird die Sache, wenn auch noch ein Punkt C hinzukommt. Dann braucht man schon eine gescheite Infrastruktur, um die Komplexität zu bewältigen. Insofern ist es kein Wunder, dass ausgerechnet in Europa und Nordafrika die Wiege der Kultur liegt. Denn das Mittelmeer bot seit Jahrtausenden eine Transportinfrastruktur, die es erlaubte, ganze Weltreiche mit Waren und Menschen zu versorgen – von A bis O.

Logistik ist also ein Stück Menschheitsgeschichte, seit der erste Mensch auf die Idee kam, das erlegte Tier nicht vor Ort zu verschlingen, sondern in die heimische Höhle zu schleppen. Als dann auch noch die Faustkeil-Produzenten, die Feuer-Bewahrer und Kräuter-Sammlerinnen in den Prozess einbezogen wurden, war die erste Supply Chain geknüpft. Von da ab wurde praktisch nichts Neues mehr erfunden, solange in B gebraucht wurde, was in A vorhanden war.

Aber es wurde massiv optimiert bis zur heutigen multi-modalen Welt aus Transportwegen zu Wasser, zu Land und in der Luft mit Auto-Identifikation, Sendungsverfolgung, Hubs und Letzter Meile. Heute wird gepickt, gepackt und gepusht, getaktet, getracet, getrackt und getunet im Internet der Dinge und dank Cloud-Services, mit deren Hilfe immer mehr Eigenschaften in Richtung Software, Big Data und künstlicher Intelligenz abwandern.

Doch am Ende bleibt immer noch der Transportweg von A nach B. Deshalb steht neben dem digitalen Fußabdruck der Logistik immer und überall der CO2-Footprint im Raum, wie sich letzte Woche erneut auf dem 35. Kongress der Bundesvereinigung Logistik in Berlin zeigte. Die digitale Transformation verbindet die beiden Schwestern im Wirtschaftsstandort Deutschland – Industrie und Logistik – auf praktisch allen Ebenen. Je smarter Maschinen und Waren werden, je stärker Prozesse erst automatisiert und dann autonom werden, desto mehr verändern sich nicht nur die Produktions- sondern auch die Transportprozesse. Immer mehr Kunden-Zentrierung sorgt nicht nur dafür, dass Produkte, die keiner haben will, gar nicht erst produziert werden, sondern auch nicht an Orte geschafft werden, wo sie keiner will. Das Gegenstück zur Industrie 4.0 ist die Logistik der vierten Generation, betonte BDI-Chef Prof. Dieter Kempf in seinem Grußwort auf dem BVL-Kongress.

Dabei seien die Klimaziele der Bundesregierung zwar einerseits anspruchsvoll, andererseits aber zu schaffen, wenn Bund und Land, Wirtschaft und Wissenschaft bereit seien, rund 500 Milliarden Euro in die Hand zu nehmen. Dann sei im nationalen Alleingang auch ein Rückgang der CO2-Emissionen um 80 Prozent bis zum Jahr 2050 möglich. Dabei ist, so betonte BVL-Vorstandsvorsitzender Robert Blackburn, die Elektromobilität nicht allein der Weisheit letzter Schluss, um den CO2-Ausstoss beim Transport von A nach B zu reduzieren. Aber jede Fahrt, die eingespart wird, ist ein Dienst am Klima. Darum sind KI-getriebene Entscheidungsmechanismen zur Lenkung von Verkehrs- und Warenströmen eines der spektakulärsten Entwicklungen in der Logistik 4.0.

Deshalb stand der 35. Logistikkongress auch unter dem Motto „Digitales trifft Reales“. Denn zwar wandert immer mehr Wertschöpfung in die Digitalwirtschaft ab, deren CO2-Footprint deutlich kleiner ausfällt. Aber auch angesichts von dezentralisierten Produktionsmethoden wie 3D-Druck oder „Losgröße 1“ muss am Ende ein Motor gestartet werden, um den Transport zu übernehmen. Während autonome Lkw-Konvois auf der Langstrecke wie eine clevere Alternative zum Individualverkehr erscheinen, liegen die überzeugenden Konzepte im urbanen Straßengüterverkehr auf der letzten Meile noch nicht vor.

Vielleicht kommt der entscheidende disruptive Impuls auch gar nicht aus der Logistik 4.0 oder der Industrie 4.0, sondern aus der Gesellschaft 4.0. Denn die Digital Natives – also die Generation bis 30 – leben immer mehr nach dem Motto: „Teilen ist das neue Haben“. Die Sharing Economy verlangt weniger Transport, weil sie mit weniger Besitz auskommt, dafür aber mehr Kommunikation benötigt. Vielleicht steht nach einigen Hunderttausend Jahren in der Logistik doch eine echte Revolution bevor.

 

Verkehrte Welt

Nächsten Montag, am 23. April, öffnet die Industriemesse in Hannover ihre Pforten. Dann drehen sich wieder Kräne, rattern Bohrmaschinen, klappern Förderbänder, pochen Hammerwerke und surren die Fertigungsautomaten. Auf den ersten Blick wird sich gar nicht so viel geändert haben auf dem Messegelände in Hannover. Das Hochfest des deutschen Maschinen- und Anlagenbaus wird wieder einmal zeigen, dass der deutsche Exportüberschuss das Ergebnis harter Ingenieurskunst ist.

Doch es sind schon lange nicht mehr die Maschinen allein. Es sind die deutschen Tugenden wie Prozessoptimierung, Fertigungsautomation, integrierte Logistik und Materialkunde, die Produkte „Made in Germany“ international so beliebt machen. Daran werden wohl auch die Folterwerkzeuge eines amerikanischen Handelskrieges nicht viel ändern. Denn über den Preis hat der deutsche Maschinenbau noch nie verkauft – das wäre ein Wettlauf, den man hierzulande nur verlieren kann.

Wenn aber Functions und Features der deutschen Exportschlager immer mehr aus der Digitalisierung geschürft werden, dann wird die Innovationskraft immer stärker von der Frage abhängen, inwieweit deutsche Unternehmen in der Lage sind, den digitalen Wandel agil und zielorientiert zu betreiben. Das gilt für Anbieter und Anwender in gleichem Maße. Denn einerseits ist für die Fabrikautomation der Grundsatz “driven by Software” entscheidend. Andererseits sind die neuen GeschäftsModelle „driven by Data“. Beides sind hingegen US-amerikanische Tugenden.

Die wahre Industriemesse findet insofern eher in den Hallen statt. Und es ist nicht die klassische Hardware, die die Leistungsschau der HMI bestimmen wird, sondern die lautlose Software, die sich allenfalls in smarten Robotern, durch Gesten gesteuerte Handhabungsautomaten, durch Data Analytics optimiere Prozessketten vom Zulieferer des Zulieferers bis zum Kunden des Kunden manifestiert. So wie die Industrie, so wandelt sich auch die Industriemesse zu einer Digitalschau.

Wenn aber die Hannover Messe Industrie immer mehr den Charakter eines „CeFIT“ – eines Centrums für Fertigungsautomation, Informationstechnik und Telekommunikation – annimmt, wofür braucht’s dann noch des CeBITs? Das oder die Cebit war gut 30 Jahre lang der bürotechnische Aufgalopp zur Industriemesse. Hier wurden erst Computertrends und dann Softwaretrends gesetzt. Die Cebit zeigte Informationstechnik, die Industriemesse, was man daraus macht.

Heute hat die Industriemesse wieder zu sich selbst gefunden und damit zu einer Zeit zurück, in der Maschinen und Methoden eins waren. Nach dieser Wiedervereinigung muss die Cebit zu einer neuen Identität, zu einer neuen Mitte finden. Insofern ist die vielbelächelte Neuausrichtung als eventorientiertes Großereignis nur folgerichtig. Denn wo die Industriemesse das Zusammenspiel der digitalen Wirtschaft zeigt, wird die Cebit das Zusammenspiel unserer Gesellschaft in einer digitalisierten Welt beschreiben und vorleben. Und dieses Gesellschaftsspiel ist eventorientiert. Es setzt die Regeln einer teilenden, interaktiven, agilen und im Dauerdialog mit sich selbst befindlichen Gesellschaft um.
Erst Industriemesse, dann Cebit – der neue Messekalender erscheint nach drei Jahrzehnten wie einer verkehrte Welt. In Wahrheit stellt er aber die Dinge wieder vom Kopf auf die Füße.

Begegnungen der dritten Art

Das Jahr 2017 ist nun Vergangenheit – aber es ist nicht fort. Es bestimmt als gewesene Gegenwart die gerade eintreffende Zukunft. So viel populäre Philosophie ist wohl nötig, um zu erklären, was diesen Jahreswechsel von seinen Vorgängern unterscheidet: Denn – zumindest in meinem persönlichen Empfinden – sind die Debatten, die wir vor gerade erst zwölf Monaten geführt haben, aus heutiger Sicht ungemein gestrig…

Vor zwölf Monaten glaubten wir noch, die Digitalisierung wäre ein technisches Projekt, in dem es darum geht, analog arbeitende Maschinen durch moderne zu ersetzen, um möglichst viele Daten zu möglichst vielen Prozessen zu erhalten, die dann ausgewertet und genutzt werden können. Aber im Laufe des Jahres wuchs die Erkenntnis, dass Digitalisierung zugleich Dematerialisierung bedeutet: Immer mehr Eigenschaften eines Produkts oder eines Prozesses werden durch digitale Dienste aus der Cloud definiert. Ein Auto ist nicht einfach nur ein Fahrzeug, sondern ein mobiles Kommunikationsgerät; eine Uhr ist nicht einfach nur ein Chronometer, sondern ein Multifunktionsgerät.

Digitalisierung schafft lediglich die Infrastruktur, auf der die eigentliche Revolution allmählich Gestalt anzunehmen beginnt. Denn hinter den digitalen Diensten aus der Cloud steckt immer häufiger künstliche Intelligenz. Diese Systeme sind es, die in Wirklichkeit unser Leben verändern werden. Sie helfen Unternehmen dabei, sich mit ihren Angeboten besser auf unsere Wünsche einzustellen. Sie helfen Kliniken dabei, die wahren Ursachen unserer Krankheiten zu diagnostizieren. Und sie helfen sich selbst dabei, komplexe Strukturen und Regelwerke zu erlernen und damit Entscheidungen zu treffen, die geradezu übermenschlich sind…

Und diese Entwicklung hat ein Tempo angenommen, dass inzwischen wenige Monate wie Jahre wirken. Was wir gestern noch Machine Learning nannten, haben Wissenschaftler und Entwickler in Googles Schwestergesellschaft DeepMind jetzt mit einem neuen Begriff versehen: Reinforcement Learning. Das neuronale Netz AlphaZero lernt dabei Verhaltensmuster und Strategien aus sich selbst heraus – ohne dass es auf menschlichen Input angewiesen ist. In nur vier Stunden hat AlphaZero sich selbst Schachspielen angeeignet und es dabei zu einer Meisterschaft gebracht, die das bislang beste Schachprogram namens Stockfish wie einen Anfänger aussehen lässt. In einhundert Partien hat AlphaZero nicht ein einziges Mal verloren, aber 25 Siege davongetragen.

Das Revolutionäre daran ist, dass AlphaZero sich damit unabhängig von menschlichen Vorurteilen entwickeln kann. Sie gelten in vielen lernenden Systemen als ein Hemmnis, wenn es darum geht, neuen, bislang unbetretenen Denkpfaden zu folgen. Menschliche Voreingenommenheit ist aber umgekehrt auch die sicherste Methode, inhumane Entscheidungen durch künstliche Intelligenzen zu verhindern. Keine geringeren als Ginni Rometty (IBM), Vishal Sikka (damals Infosys) und Satya Nadella (Microsoft) haben auf dem World Economic Forum in Davos diese ethischen Fragestellungen zur Sprache gebracht. Es ist erst zwölf Monate her, aber es wirkt heute wie ein Ruf aus weiter Ferne.

Denn 2018 wird das Jahr sein, in dem wir überall eine Begegnung der dritten Art in Gestalt von künstlicher Intelligenz haben werden. Dass ihre überwiegend positiven Leistungen möglichst vielen Menschen zugutekommen sollen, ist das Ziel zahlreicher Initiativen. DeepMind ist eine davon. IBMs kognitiver Computer Watson erscheint tagtäglich in sympathischen Werbeeinblendungen mit freundlichen Fingerzeigen fürs tägliche Leben. Und Microsofts hat praktisch seine gesamte Produktpalette mit künstlicher Intelligenz aus der Cloud hinterlegt. „Demokratisierung von künstlicher Intelligenz“, nannte Microsofts CEO Satya Nadella diese Vision im vergangenen Sommer. Inzwischen ist sie Realität.

AlphaZero wird seine Milliarden-Investitionen nicht dadurch rechtfertigen, dass es andere Schachprogramme in Grund und Boden spielt. Reinforcement Learning kann dafür genutzt werden, komplexe Logistiknetzwerke zu optimieren oder Verkehrsströme zu lenken. Es kann an der Börse spekulieren oder unsere Kaufabsichten erahnen, wenn nicht gar beeinflussen. Es kann aber auch Drohnen lenken und auf menschliche Ziele ansetzen. Und es kann bei Null anfangend völlig eigene Denkstrukturen aufbauen. Tabula Rasa nennen das die Autoren des Fachartikels, der AlphaZeros mathematische Grundlagen beschreibt.

Der Begriff Tabula Rasa weckt ungute Assoziationen. Und er wirft – wie in der Begegnung der dritten Art – neue ethische Fragen auf, denen wir uns 2018 stellen werden.