Souveränität um jeden Preis

Die erste Nachricht: Lieber Open Source als einen starken Partner. Anfang November teilten Bundes-CIO Markus Richter sowie die IT-Verantwortlichen der Länder Baden-Württemberg, Bremen, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Sachsen-Anhalt und Thüringen mit, künftig auf Microsoft Office auf den Rechnern in den Behörden zu verzichten und auch langfristig eher auf Linux als Betriebssystem zu setzen. Grund für den großangelegten Partnertausch ist der Wunsch nach einem – wie es heißt – „souveränen Arbeitsplatz“.

Und die zweite Nachricht: Lieber ein starker Partner als weiter eine schwache Infrastruktur. Microsoft hat jetzt mit der belgischen Regierung eine weitreichende Vereinbarung getroffen, um im Rahmen des Projekts „Digital AmBEtion“ die digitale Infrastruktur des Landes voranzubringen. Drei Ziele hat Microsoft dabei formuliert: Errichtung einer leistungsfähigen Cloud-Infrastruktur, Aufbau von digitaler Kompetenz in der Bevölkerung und Schaffung eines nachhaltigen gesellschaftlichen Konsenses. Insgesamt soll die Initiative rund 60.000 Arbeitsplätze schaffen. Microsoft habe eine gute Wahl getroffen, indem Belgien als Standort der nächsten europäischen Datacenter-Region ausgewählt wurde, lobte Belgiens Premierminister Alexander de Croo.

Erstaunlich! Die Motivation für diese beiden völlig gegenläufigen Entscheidungen ist mehr oder weniger die gleiche: es geht um die digitale Transformation der öffentlichen Hand im Land, aus der eine Initialzündung für den ganzen Staat entstehen soll. Weniger Bürokratie und mehr Bürgernähe stehen schon länger auf der Agenda der (deutschen) Behörden als der Versuch, in den Ämtern in Land und Bund Unix und Open Source einzuführen. Denn nicht nur das – letztlich fehlgeschlagene – Projekt LiMux, in dem die Stadt München ihre Amtsstuben mit Linux-Rechnern statt mit Windows-Systemen ausstatten wollte, liegt schon eine Weile zurück. Auch der Wunsch nach Unabhängigkeit vom damals dominanten Computerstandard  IBM, die den Unix-Initiativen in den neunziger Jahren als Motiv zugrunde lag, war ein groß angelegter Versuch, mehr Souveränität durch Unabhängigkeit von marktführenden Anbietern zu erlangen. Und das um jeden Preis.

Und ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode. „Mehr Souveränität“ ist auch das Motiv hinter der europäischen Daten-Cloud Gaia-X, die bisher über Blaupausen und Standarddebatten nicht hinausgekommen zu sein scheint. Zugleich wird in ihr die gleiche Grundsatzdebatte geführt – nämlich die über die Frage, ob man US-amerikanische Marktführer dauerhaft außen vor halten sollte oder nicht. Der Preis für eine transatlantische Partnerschaft ist die Korruption der hehren europäischen Datenschutzziele, die vor allem im Schremp II-Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum Ausdruck kommen. Der Preis für einen europäischen Alleingang ist dagegen der Zeitverlust von mindestens drei Entwicklungsjahren. Denn technologisch hängt die europäische Daten-Cloud – oder zumindest das, was von ihr schon existiert – hinter den US-amerikanischen Cloud Service Providern zurück.

Wie soll man also souverän entscheiden? Belgien sieht seine Zukunft in der Partnerschaft mit einem US-Anbieter. Und Deutschland sieht seine Zukunft darin, genau diese Partnerschaft aufzukündigen. Wir erleben gerade, wie gefährlich es ist, sich zu sehr von ausländischen Lieferungen abhängig zu machen. Die zerbrechlichen beziehungsweise schon zerbrochenen Lieferketten rund um Ressourcen- und Chip-Knappheit, der peinliche Verlust von nationalen Kernkompetenzen in der Pharmazie, im Automobilbau, in der Elektroinfrastruktur oder die Aufgabe von Expertise bei der Planung und Durchführung von komplexen Projekten – all das ruft nach Insourcing nach langen Jahrzehnten des Outsourcings. In diesem Sinne ist die Zurückerlangung von Souveränität eine nationale Aufgabe.

Aber es gilt auch die Positionierung im internationalen Wettbewerb. Wir können es uns gar nicht leisten, auf den Entwicklungsvorsprung von drei Jahren zu verzichten. Wir können nicht nur die Corona-Pandemie nicht im Alleingang und damit „souverän“ bezwingen. Wir können auch nicht gegen die Bedrohung aus dem Cyberspace im souveränen Alleingang obsiegen. Wir brauchen nicht mehr Souveränität, sondern mehr Dynamik.

Und genau das ist es, was Open Source verspricht. Kaum ein digitales Großprojekt kommt auf die Schiene ohne den kollektiven Esprit von Open Source-Entwicklern. Allein die internationale, cloud-basierte offene Entwicklerplattform GitHub, die zahllose gemeinfreie Programmbibliotheken bereithält und das collaborative Arbeiten rund um die Uhr und rund um den Globus unterstützt, zählt heute bereits 80 Millionen eingeschriebene IT-Spezialisten. Und GitHub gehört inzwischen zum Microsoft-Konzern, der praktisch im Wochenrhythmus sein Bekenntnis zu Open Source wiederholt. Denn nicht einmal Microsoft kann es sich noch leisten, in einer proprietären Welt zu verharren. In einer Zeit, in der Teilen das neue Haben wird, ist auch das ein Ausdruck von Souveränität.

Schreib die Regeln neu

Wie es um Corona-Deutschland steht, lässt sich derzeit besonders gut beim FC Bayern München beobachten. Cheftrainer Julian Nagelsmann musste vor Wochen trotz vollständiger Impfung in Quarantäne und konnte aus seiner voll digitalisierten, zum Studio umgebauten Küche dennoch mittelbar Einfluss auf das Spielgeschehen im Stadion nehmen. In der Vereinsführung zeigte man sich überrascht, dass der Trainer sich trotz Impfung mit dem Corona-Virus anstecken konnte. Zu lange hat sich die Mär in den Köpfen gehalten, dass diese Impfung vollständig schützt. Dabei senkt sie nur erstens die Wahrscheinlichkeit der Ansteckung und mildert zweitens den Krankheitsverlauf.

Der Leistungsträger Joshua Kimmich hingegen musste ungeimpft und damit selbstverschuldet in Quarantäne und blieb deshalb dem Arbeitsplatz fern. Prompt verlor der FC Bayern gegen die abstiegsbedrohten „Gelbfüßler“ aus Augsburg.  Sein Arbeitgeber erwägt nun, dem Impfverweigerer das Gehalt zu kürzen und ansonsten die Impfpflicht im Verein durchzusetzen. Der „Umsatzausfall“ in Form dreier verlorener Punkte ist jedoch ein irreparabler Schaden für das Unternehmen FC Bayern. Und Joshua Kimmich wird sich fragen lassen müssen, ob er sich beim nächsten harten Tackling auch erst Sorgen um mögliche Langzeitfolgen dieses Eingriffs machen wird.

Im Süden des Freistaats Bayern, dort wo das Misstrauen gegen „die da oben“ genauso ausgeprägt ist, wie im Süden des Freistaats Sachsen, haben die Impfverweigerer nun die Sieben-Tage-Inzidenz auf über 1000 ansteigen lassen. Dort, wo Querdenker und Reichsbürger in bedauernswert großer Zahl zu finden sind, riskiert man, dass ein ganzes Land in den Lockdown zurück muss, nur weil der eigene Irrglaube stärker wiegt als der gesunde Menschenverstand. Ähnlich egoistisch handeln diejenigen, die es einfach nicht auf die Reihe kriegen, zwei oder drei Impftermine einzuhalten und aus Chuzpe die gesamte Volkswirtschaft gefährden. Die alte Volksweisheit, „Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt“, ist längst um ein fatales Satzzeichen ergänzt worden: „Der brave Mann denkt an sich – selbst zuletzt!“

Der individuelle Eigensinn ist längst einem allgemein verbreiteten Egoismus gewichen, in dem sich große Bevölkerungsteile ihre Regeln neu schreiben und dem Grundsatz folgen, dass Regeln immer nur für die anderen gelten. Deshalb funktioniert vieles, das einmal als selbstverständlich gegolten hat, in unserer Gesellschaft nicht mehr. Das aber ist zugleich der direkte Weg in die allgemeine Impfpflicht, mit der mangelnden Einsicht durch die Einschränkung von Freiheiten überwunden werden muss. Jetzt muss durchgesetzt werden, was sich nun mal partout nicht in den Köpfen festsetzen will.

Da ist die Corona-Krise kein Einzelfall. Soeben wurden härtere Strafen für Verkehrsübertretungen beschlossen, weil die Verrohung auf den Straßen immer weiter zunimmt. Wo Autofahrer schon damit überfordert sind, ihre Fahrzeuge nicht auf Geh- und Radwegen oder vor Feuerwehrzufahrten abzustellen, da ist auch die gemeinschaftliche Bildung einer Rettungsgasse nicht mehr möglich. Und wenn Rettungskräfte doch am Einsatzort ankommen, dann werden sie auch noch durch Gaffer behindert, die noch schnell ein Selfie mit dem Unfallopfer schießen wollen.

Und nach dem Einsatz finden die Rettungskräfte immer seltener im nahegelegenen Krankenhaus das notwendige Intensivbett, weil diese – und damit schließt sich der Egomanen-Kreis – von Ungeimpften mit schwerem Corona-Verlauf belegt sind. Unter Pflegekräften macht sich inzwischen eine gefährliche Dialektik gegen eine berufsgruppenbezogene Impflicht breit: „Warum soll ich mich impfen lassen, wenn es meine Patienten auch nicht tun?“ In Sachsen liegt die Zahl der geimpften Pflegekräfte in Senioreneinrichtungen teilweise noch immer unter 50 Prozent! Man kann da nur im übertragenden Sinne antworten: „Wo bleibt deine Rettungsgasse, mein Freund?“

Es ist offensichtlich zu komplex für den minderbegabten Karnevalsjeck am 11. November, für den Partykracher an Wochenenden oder für den Weihnachtsmarktbesucher in der jetzt anlaufenden Adventszeit: In einer Zeit von Kontaktbeschränkungen – also im vergangenen Frühjahr – gab es nicht viel mehr, als daheim rumzusitzen. In diesem Herbst ist das Risiko, mit dem Virus in Kontakt zu kommen, viel höher – nicht trotz, sondern wegen der Impfungen. Denn sofern man geimpft war, glaubten alle, wäre auch das Risiko geringer. Entsprechend laxer waren bislang die Regeln.

Diesen komplexen Zusammenhang nicht stärker und vor allem konsequenter kommuniziert zu haben, ist den Politikern aller Parteien vorzuwerfen. Sie folgten und folgen ihrem eigenen Egoismus. Im Wahlkampfmodus sollten nicht die möglicherweise entscheidenden zwei Prozent Wählerstimmen riskiert werden. Nach dem Wahltag, in den noch immer anhaltenden Zeiten des Koalitionsgerangels, will man nicht riskieren, den womöglich entscheidenden Partner zur Mehrheitsbildung zu verlieren. Dabei ist eines sicher: wir werden nicht darum herumkommen, die Regeln neu zu schreiben. Die Impfpflicht wird kommen – und der nächste Lockdown wird nicht ausbleiben. Dann steuern wir alle wieder wie Nagelsmann das Spielgeschehen aus der Küche. Hoffentlich ist die dann auch voll digitalisiert.

Geimpft, getestet, genervt

Mit den an diesem Wochenende gemeldeten Corona-Erkrankten ist die Gesamtzahl der bekannten Corona-Fälle seit Ausbruch der Pandemie auf mehr als fünf Millionen Menschen in Deutschland gestiegen. Zwei Prozent dieser Corona-Patienten sind im Zusammenhang mit dem Virus verstorben. Darunter ist der Anteil der Achtzigjährigen und Älteren besonders hoch, weil bei ihnen die Wahrscheinlichkeit einer Vorerkrankung ebenfalls besonders hoch ist.

Darüber gibt es jedoch nur Schätzungen und Mutmaßungen, weil aus Datenschutzgründen diese Vorerkrankten nicht erfasst oder zumindest nicht personifiziert hinterlegt sind. Dabei wäre es für die künftigen Maßnahmen gerade wichtig, hier Genaueres zu wissen. Aber der Datenschutz ist uns nun mal heilig. Heiliger offensichtlich als eine datengestützte Medizin.

Wie hoch die Zahl der tatsächlich Erkrankten ist, können wir ebenfalls nur schätzen. Dies liegt aber nicht am Datenschutz, sondern daran, dass viele Erkrankungen von überforderten Ärzten nicht als Corona-Fälle erkannt werden oder weil routinemäßige Tests der Bevölkerung nicht mit unserer Auffassung von Freiheit zusammengehen. Immerhin hat jetzt Jan Fuhrmann vom Institut für Angewandte Mathematik der Universität Heidelberg eine fachlich gut begründete Schätzung abgegeben. Der Experte für mathematische Epidemiologie geht davon aus, dass die Dunkelziffer – also die Zahl der nicht als solche erkannten Corona-Erkrankten – noch einmal so groß ist wie der vom Robert-Koch-Institut bestätigte Wert. Also noch einmal fünf Millionen.

Das wäre unfassbar viel. Träfe das tatsächlich zu, wäre in Deutschland jeder Achte bereits einmal ernsthaft von dem Virus befallen worden. Es würde aber auch bedeuten, dass unserem Gesundheitswesen jeder zweite Erkrankte durch die Lappen geht, wir also von völlig falschen Daten – wenn überhaupt von Daten – ausgehen und auch unsere Maßnahmen basierend auf völlig falschen Annahmen beschlossen werden – wenn überhaupt welche beschlossen werden. Dass die Dunkelziffer so hoch sein kann, liege daran, dass Geimpfte erstens nur selten einen negativen Test brauchen, zweitens häufiger einen nahezu asymptomatischen Krankheitsverlauf haben und drittens oft der Fehleinschätzung unterliegen, sie könnten sich dank der Impfung gar nicht mehr infizieren. Mit anderen Worten: der Impfschutz ist bei weitem nicht so wirksam wie erhofft – erst recht gegenüber der Delta-Variante. Und das macht das Boostern noch dringlicher – und zwar für alle.

Dass Deutschland als digitaler Sonderschüler weitgehend datenlos von der vierten Welle überrollt werden wird, ist schon schlimm genug. Dass wir uns angesichts einer handlungsunfähigen alten Bundesregierung und einer noch nicht handlungswilligen neuen Bundesregierung auch noch tatenlos von dieser Welle überrollen lassen, ist ein Politskandal ersten Ranges. Das hörte sich nicht nach einer Ruck-Rede an, als sich der mögliche achte Kanzler dieser Bundesrepublik, Olaf Scholz, vor dem Bundestag in vagen, alles relativierenden Phrasen erging. Und es hörte sich auch nicht nach der krisengestählten Kanzlerin an, als Angela Merkel vor einem drohenden Lockdown zumindest für Ungeimpfte noch vor Weihnachten warnte.

Datenlos, tatenlos, unfähig und unwillig – wenn man dazu noch ein freundliches Gesicht machen muss, „dann ist das nicht mehr mein Land“. Ich bin in diesem katastrophalen Corona-Herbst, in dem wir so tun, als hätten wir nichts dazu gelernt, nicht nur geimpft und getestet, sondern vor allem: genervt. Genervt von einer Politik, in der Fehleinschätzungen auf mangelndem Datenmaterial und Fehlverhalten auf mangelnder Handlungsbereitschaft beruhen.

Und ich bin nicht allein. Laut ZDF-Politbarometer findet jeder zweite Deutsche (49 Prozent), dass die Corona-Maßnahmen härter ausfallen müssten – mehr als doppelt so viele wie noch im Oktober. Und nur noch ein knappes Drittel (32 Prozent) ist mit der Corona-Politik einverstanden. Dass das Volk inzwischen konsequenter urteilt als die Volksvertreter zeigt diese Zahl: 67 Prozent fordern eine bundesweite 2G-Regelung – unter den 2G-Gegnern halten sich die meisten für eine „Alternative für Deutschland“.

Und nachdem unsere Nachbarn in Österreich und den Niederlanden längst gehandelt und schärfere Maßnahmen für ihre Bürger beschlossen haben, scheint sich auch in der amtierenden Bundesregierung ein schwacher Handlungswille zu regen. Der Entwurf zur Überarbeitung des Infektionsschutzgesetzes sieht eine erheblich strengere Kontrolle am Arbeitsplatz vor. Demnach müssen Arbeitnehmer bei Betreten ihrer Arbeitsstelle ihren Impfstatus offenlegen. Und plötzlich lässt sich auch der Datenschutz aufweichen: „Zu diesem Zweck dürfen personenbezogene Daten sowie Daten zum Impf-, Sero- und Teststatus in Bezug auf die Coronavirus-Krankheit-2019 (Covid-19), verarbeitet werden“, heißt es in dem Entwurf. Zusätzlich sollen 2Gplus-Regeln für Veranstaltungen umgesetzt werden. Ein ähnlicher Entwurf wurde den Ampel-Koalitionäre als „Formulierungsvorschlag“ zugeschickt.

Das hätte alles längst passieren können. Und auch, wenn doch vor Weihnachten der Lockdown für Ungeimpfte kommt – oder Schlimmeres – werden wir wieder konstatieren müssen: zu wenig, zu spät. Es bleibt dabei: Geimpft, getestet, genervt.

Niemand ist eine Insel

Die Inzidenz nähert sich dem Höchststand aus dem vergangenen Dezember und der CO2-Ausstoß der Wirtschaft hat wieder das Niveau zu Zeiten vor der Pandemie erreicht. Es ist, als hätten wir nichts erreicht in den vergangenen zwölf Monaten, nichts gelernt und nichts geschafft, um uns auf die vierte oder fünfte Welle in diesem Winter vorzubereiten. Und nach Rom und Glasgow lassen wir weiter Kohle und Gas glühen, als gäbe es kein Morgen. Aber wenn wir so weiter machen, gibt es auch kein Morgen mehr.

Denn wir leisten uns Kindergarten-Argumente wie: „Ich brauche mich um meinen persönlichen CO2-Abdruck nicht zu bekümmern, solange China auch nichts unternimmt“ oder „Ob ich mich durchs Impfen schützen möchte, ist allein meine Entscheidung“. Wir pochen auf eine Haltung, in der jeder glaubt, für sich allein entscheiden zu können, was zu tun ist. Dabei gibt es neben dem Recht auf Individualität auch die Pflicht zum Gemeinwohl. Und diesem Interesse haben wir uns alle unterzuordnen. Sonst kommt die Quittung – wie in Sachsen, Thüringen und Bayern, wo die Inzidenzen schneller steigen als das Wasser im Ahrtal. Ob Virus oder Klima – beide halten uns einen Spiegel vor, in dem wir unsere eigene Unfähigkeit erkennen müssen, logisch und zielgerichtet zu handeln.

Niemand möchte es laut aussprechen, aber wir laufen sehenden Auges auf einen weiteren Lockdown zu, der uns bis in den kommenden Frühling im Würgegriff halten wird. Dass dies nach 2G-Rgeln ein „Lockdown nur für Ungeimpfte“ sein könnte, weckt schon jetzt die Empörungsbereiten zu Shitstorms und Hass-Tweets. Aber es sind die ungeimpften Bedenkenträger und Corona-Leugner, die die Betten der Intensivstationen blockieren und die Pflegekräfte an den Anschlag ihrer Leistungsfähigkeit bringen. Am Ende wird dann doch bei aller selbstbestimmten Individualität die Solidargemeinschaft angebettelt, die helfen muss.

Dabei hätten wir vorbereitet sein können: mehr Druck auf Impfunwillige, Impfpflicht für Risikogruppen und Pflegepersonal, bessere Ausstattung der Schulen, innovative Arbeitsmodelle in den Unternehmen und mehr digitale Prozesse in Wirtschaft und Verwaltung, ein straffer geordnetes Gesundheitswesen und nicht zuletzt mehr Engagement bei der Verkehrswende und höhere Investitionen in unsere Infrastruktur. All das hätten wir in Angriff nehmen können, wenn wir mehr Bereitschaft hätten, alles völlig neu zu denken.

Denn weder der Kampf gegen das Virus, noch das Ringen um Nachhaltigkeit kann ohne Strukturwandel, ohne Systemwechsel erfolgen. In den USA gelingt es dem US-Präsidenten Joe Biden gegen härteste Widerstände endlich, ein billionenschweres Infrastrukturpaket durchzuboxen, das die Reparatur oder den Neubau von maroden Straßen, Brücken, Tunneln, Wasserleitungen und das Breitbandinternet vorsieht. Es soll Versäumnisse eines halben Jahrhunderts ausgleichen. Aber es ist zu befürchten, dass mit diesen 1750 Milliarden Dollar im wahrsten Sinne des Wortes nur der Status quo auf den Highways und Interstates zementiert wird.

In Deutschland wird praktisch zeitgleich zur Entscheidung im US-Kongress die Salzbachtalbrücke der A66 gesprengt, weil sie nicht mehr sanierungsfähig ist – ein Ersatz wird erst in fünf Jahren zur Verfügung stehen. Sie ist eine von 2500 Brücken an Deutschlands Fernstraßen, die als dringend sanierungsbedürftig gelten. Dafür sind neun Milliarden Euro veranschlagt. Das Bundesverkehrsministerium hat wenige Tage vor der Wahl gerade mal zwei Milliarden bereitgestellt – bis 2026. Auch hier wird nur der Ersatz geplant, statt eine Verkehrswende einzuleiten.

Oder tut sich doch etwas? Aus den Ampel-Verhandlungen sickert durch, dass die Deutsche Bahn aufgespalten werden soll, damit Betrieb und Infrastruktur voneinander getrennt werden können. Ein attraktiver Streckenausbau wäre demnach gut für den Wettbewerb auf der Schiene und damit für attraktivere Angebote. Aber wie lange wird das dauern?

Wir haben zu lange mit der notwendigen Strukturwende gewartet, dass nun kaum noch Zeit bleibt. Wir zögern bei Maßnahmen gegen den Klimawandel, obwohl auch hier kaum noch Zeit bleibt. Und wir  verdaddeln die Vorbereitung auf die vierte Corona-Welle, obwohl genug Zeit gewesen wäre.

Ein Jahr ohne nennenswerten Fortschritt bei der Pandemie, ein Jahr ohne zielführende Maßnahmen gegen den Klimawandel, ein Jahr, ohne dass die digitalen Innovationen wirklich umgesetzt werden. Wir können es uns nicht mehr leisten, auf andere zu warten. Jeder hat die individuelle Pflicht, für das Gemeinwohl zu arbeiten. Denn Niemand ist eine Insel.