Fluch der „Akribik“

Vor einem Vierteljahrhundert veröffentlichte der Harvard-Professor Clayton Christensen ein Buch, das zur „Manager-Bibel“ des Silicon Valleys werden sollte – sein Titel prägte und prägt die Kultur aller erfolgreichen Unternehmen: „Innovator´s Dilemma“. Inspiriert vom legendären Machtkampf zwischen Pepsi und Coke in den siebziger Jahren und dem unfassbaren Niedergang von IBM in den neunziger Jahren beschrieb Christensen, warum erfolgreiche Unternehmen in marktführenden Positionen dazu neigen, innovationsfeindliche Entscheidungen zu treffen. Sie werden risikoavers und  bürokratisch. Statt Innovationen voranzutreiben tüfteln sie an Monitoringsystemen, um die eigene Performance mit Akribie genau und genauer zu messen. Es ist der „Fluch der Akribik“.

Auch die jüngste Wirtschaftsgeschichte ist voll von diesen Dilemmata der (ehemaligen) Innovatoren. Anfang dieses Jahrtausends hätte wohl niemand in Microsoft ein agiles Unternehmen erkannt – allzu sehr waren die Redmonder dem Erhalt ihrer auf Windows beruhenden Marktführerschaft verpflichtet. Das Innovator´s Dilemma kann sogar eine ganze Branche befallen, wie die Diskussion um Elektromobilität und autonomes Fahren beweist. Statt sich an die Spitze der Bewegung zu setzen, stellten die deutschen Autobauer auf stur, um ihr fein austariertes Geschäftsmodell rund um den Verbrenner zu schützen, und versuchten eher über ihre Modellpolitik Minimalinnovationen gewinnmaximierend einzuführen. So machten sie den Weg frei für Tesla.

Und ganz aktuell dürfte Google als Beispiel für das Dilemma eines Innovators dienen. Mit einem Marktanteil von mehr als 90 Prozent im Suchmaschinenmarkt hat sich das Management im Googleplex darauf eingerichtet, diesen Status quo zu verteidigen, statt neue Technologien offensiv voranzutreiben. So konnte Microsoft seinen Überraschungscoup mit der um den KI-gestützten Sprachassistenten ChatGPT erweiterten Suchmaschine Bing setzen. Zwar ist Bing mit Abstand zweitplatziert im Search-Ranking. Aber das Momentum ist jetzt auf der Seite der Redmonder.

Dabei ist es nicht so, als hätte Google den KI-Markt verschlafen. Im Gegenteil: Die Transformer-Theorie, auf der ChatGPT und andere Sprachassistenten beruhen, stammt aus Googles Brain Labs. Und mit dem Sprachmodell LaMDA verfügt Google selbst über ein mächtiges KI-Werkzeug, das aber lange nicht zum Einsatz kam. Der Grund: Der Suchmaschinen-Riese hat angesichts der jetzt auftretenden Kinderkrankheiten von KI-gestützter Suche viel mehr zu verlieren als Microsoft. Und es ist abzusehen, dass Tools wie ChatGPT das bewährte und gewinnträchtige Geschäftsmodell mit der Suche im Internet angreifen – und die jetzige Cash Cow schwächen.

Es ist faszinierend zu beobachten, wie Google in den letzten Jahren geradezu akribisch die im Buch „Innovator´s Dilemma“ beschriebenen Fehler wiederholt. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Gründer Larry Page und Sergey Brin ihren Mitarbeitern verordneten, 20 Prozent ihrer Arbeitszeit eigenen Projekten zu widmen. Googles ehemaliger Top-Manager Praveen Seshadri, der dem Konzern sichtlich frustriert den Rücken gekehrt hat, zeichnet das Bild einer inzwischen behäbig gewordenen Organisation, in der Entwickler unzählige Genehmigungsstufen durchlaufen müssen, wenn sie eine Programmzeile ändern wollen. „Wie Mäuse sind sie gefangen in einem Labyrinth aus Genehmigungen, Einführungsprozessen, rechtlichen Überprüfungen, Leistungsbeurteilungen“ und anderen bürokratischen Hürden, schreibt er in seinem Blog.

Die wahren Innovationen finden dort statt, wo diese bürokratischen Hürden nicht existieren – in Googles Schwestergesellschaften im Mutterkonzern Alphabet. Oder beim ChatGPT-Erfinder OpenAI, zu dem inzwischen ein knappes Dutzend frustrierter Google-Spezialisten gewechselt ist. OpenAI ist eines der vielen strategischen Kooperationen, die Microsoft mit innovativen Startups eingegangen ist. Offenheit für Partnerschaften ist tatsächlich eine neue Kultur bei Microsoft, die Microsofts CEO Satya Nadella seit seinem Amtsantritt 2014 eingeführt hat. GitHub, Nuance, LinkedIn und die noch laufende Akquise von Activision sind Beispiele dafür. Wichtiger noch ist die interne Kulturrevolution, die mit den verhassten und hässlichen „Stack Rankings“ ein Ende machte, bei denen Manager ihre Teammitglieder auf einer Normalverteilung in „Underperformer“ und „Overachiever“ einteilen mussten.

Vorbei ist auch die vergiftete Kultur des „Alle gegen Alle“, die eher dazu geführt hatte, Innovationen anderer zu verhindern als die eigenen Neuerungen zu forcieren. Und nicht zuletzt wurde Windows als allein seligmachende Cash Cow durch mehrere Produktsparten abgelöst, die sämtlich auf Cloud-Technologie beruhen. Da ist es nur konsequent, dass Microsoft inzwischen daran arbeitet, den Sprachassistenten ChatGPT auch in diejenigen Produktangebote einzubauen, in denen das Unternehmen eine gewisse Marktdominanz genießt: Office 365 und Teams zum Beispiel. Und dem Vernehmen nach soll die KI auch in der Unternehmenssuite Dynamics ihren Dienst antreten.

Innerhalb von zehn Jahren hat sich Microsoft erfolgreich aus der Innovationsfalle befreit, die immer dann droht, wenn einst erfolgreiche Unternehmen stärker in die Verteidigung ihrer Marktdominanz investieren als in den Angriff auf neue Marktchancen. Statt Risiken einzugehen, bauen sie Bürokratien auf. Möglicherweise lässt sich dieser „Fluch der Akribik“ auch bei Behörden und Regierungen finden. So ließe sich die seit Jahrzehnten in Deutschland anhaltende Bräsigkeit bei Innovationen und Bürokratieabbau erklären. Vielleicht sollte man den Ampel-Koalitionären Christensens Buch „Innovator´s Dilemma“ aufs Kopfkissen legen.

…und alle Fragen offen

Vom Weltwirtschaftsgipfel in Davos im Januar bis zur Münchner Sicherheitskonferenz im Februar spannt sich ein Bogen der Ungewissheit. Wie und wann wird der Krieg in der Ukraine enden? Wie werden sich die Außenhandelsbeziehungen mit China entwickeln? Bekommen wir die Inflation in den Griff? Können wir den Energiemix neu gestalten? Werden wir den Klimawandel überleben, nachdem wir ihn offensichtlich nicht verhindern wollen oder können? Und ganz neu: Was sollen wir angesichts von leistungsfähigen KI-Chatbots wie ChatGPT noch glauben?

Weder in Davos, noch in München hat es dazu verlässliche Antworten gegeben. Es ist eher so, wie Bertolt Brecht formulierte: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Das einzig Gewisse ist die Unsicherheit.

Denn wenn nun Bundeskanzler Olaf Scholz sagt, dass die Ukraine nicht verlieren darf, und Verteidigungsminister Boris Pistorius davon spricht, dass die Ukraine gewinnen müsse, offenbart das die ganze Unschärfe der westlichen Strategie. Würde die Nato ihr „Kriegsziel“, mit dem sie Putins Russland entgegentreten wollen, definieren, wäre nur dem Machthaber im Kreml gedient. Er wüsste dann, woran er mit uns ist und welche Mittel der Westen noch einzusetzen bereit ist.

Nicht anders – wenn auch nicht in einer militärischen Auseinandersetzung – läuft es im Verhältnis zu China. Dessen Hegemonialstreben vor allem im globalen Süden ist einzudämmen – aber ohne unsere Außenhandelsbeziehungen zu gefährden und den Schulterschluss der Chinesen mit Russland zu befördern. Und auch bei der Energiewende sollen die erneuerbaren Energien ausgebaut werden, aber ohne Stromtrassen nach Bayern zu verlegen und im Wattenmeer LNG-Terminals zu errichten. Wir befinden uns permanent in der Situation, das eine zu wollen, ohne es zu können, und das andere zu tun, ohne es zu wollen.

Nie waren wir in unserer Handlungsfreiheit so eingeschränkt wie in diesem post-pandemischen Jahr, von dem wir hofften, alle Freiheiten zurückzugewinnen. Nicht einmal im Karneval kommen wir ohne Restriktionen aus. Da brauchen wir zusätzliche Ordnungshüter, um das närrische Treiben, das ursprünglich aus dem Protest gegen Polizei und Armee entstand, nicht in Alkoholexzesse ausarten zu lassen.

Inmitten dieser Unsicherheiten und Widersprüche braucht es Pragmatismus, der sich mit den lösbaren Problemen befasst, solange die globalen Fragen ungeklärt bleiben. Da stimmt es hoffnungsfroh, dass vor allem mittelständische Entscheider ausweislich der aktuellen Konjunkturbarometer wieder hoffnungsfroher in die Zukunft schauen und neue Absatzchancen in Südamerika und Asien erkennen. Und selbst aus den aktuellen Konflikten lassen sich positive Nachrichten generieren: Etwa 86.000 Menschen aus der Ukraine haben der Bundesagentur für Arbeit zufolge eine Beschäftigung in Deutschland. Die Zahl wird noch zunehmen, sobald die anstehenden Sprachkurse absolviert sind, denn, wie es bei der Agentur für Arbeit heißt, „der deutsche Arbeitsmarkt ist aufnahmebereit.“

Doch schon drohen neue Gefährdungen – diesmal von innen. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz warnten Datenschützer und IT-Sicherheitsexperten vor einer weiter anwachsenden Welle von Angriffen aus dem Cyberspace, die sich sowohl gegen Unternehmen als auch gegen die Infrastruktur richten. Schon mehren sich mysteriöse Systemausfälle in Stadtverwaltungen, bei der Bahn oder der Lufthansa, die sämtliche auch rein technische Ursachen haben können – oder aber einen anderen, feindlichen Ursprung haben.

Und als wäre die Bedrohung durch Trolle und Hacker, die von Schurkenstaaten ermuntert werden, ihr Unwesen auf deutschen Datenautobahnen zu treiben, nicht genug, warnen Sicherheitsexperten vor den Gefährdungen, die der IT-Sicherheit durch künstliche Intelligenz zugemutet werden könnten. So warnt der Beauftragte der Bundesregierung für die Informationstechnik, Markus Richter, dass hierzulande Investitionen in Milliardenhöhe notwendig seien, um die technische Infrastruktur vor russischen Cyberangriffen zu schützen.

Und damit nicht genug. Schon warnen Sicherheitsexperten wie der Sophos-Sicherheitsanalyst Chester Wisniewski vor Cyberattacken, die durch KI-gestützte Tools wie ChatGPT optimiert werden. Denn mithilfe des Sprachassistenten können Cyberterroristen ihre Ransom- und Phishing-Mails viel glaubhafter formulieren und damit sogar Geschäftskontakte vortäuschen. Die Zeiten, in denen allein unzureichende Grammatik und Rechtschreibung den zweifelhaften Ursprung solcher Mails, mit denen Malware in die Systeme eingeschleust werden, verrieten, sind vorbei. Gut, dass nahezu zeitgleich KI-gestützte Systeme auftauchen, die relativ zweifelsfrei einen durch Chatbots erstellten Text als solchen identifizieren können.

Aber das Misstrauen gegen alles und jeden nimmt weiter zu. Der Krieg, den Putins Russland nicht nur gegen die Ukraine führt, sondern gegenüber dem ganzen Westen, hat uns längst erreicht – durch Energiekrisen, Cyberattacken und Destabilisierung. Die Unsicherheit nimmt weiter zu – das ist sicher.

Software-Markt aufgemischt

Nach Alexa, Siri oder Cortana jetzt also Sydney? Sydney selbst jedenfalls sagt, er (oder eigentlich es) könne nicht bestätigen, dass Bing Search den internen Codenamen Sydney führe. Diesen Namen hatte ein Stanford-Student durch eine trickreiche Diskussion mit der seit letztem Dienstag freigeschalteten Suchmaschine von Microsoft herausgefunden. Eine Microsoft-Sprecherin schließlich hatte den internen Namen bestätigt und gleichzeitig angekündigt, das Wissen um diesen Codenamen nun allmählich aus Sydneys Wissensschatz zu entfernen. Warum eigentlich?

Und warum interessiert uns das überhaupt? Ganz ähnlich wie bei der Einführung von Googles Suchmaschine und Amazons Sprachassistent versuchen jetzt wieder die Nerds rund um den Globus, das KI-gestützte Bing Search an seine Grenzen – und darüber hinaus – zu führen. Es hat etwas durchaus Kindisches an sich, das durch ChatGPT geboosterte Bing überlisten zu wollen. Aber neben dem Spieltrieb steckt wohl auch der Wunsch dahinter, sich auf die Antworten der KI blind verlassen zu dürfen. Weil Menschen wissen wollen, wie weit man ihr trauen kann, wird die Software ausgetestet, ausgetrickst und zweckentfremdet. Nein, sagt die Suchmaschine über sich selbst, Songtexte, Gedichte oder Witze könne Bing Search nicht erfinden – dafür aber finden. Und das besser als jeder bisherige Algorithmus.

Der Wettlauf um die nächste beste (nicht nächstbeste) Suchmaschine hat ein höheres Niveau erklommen: von nun an liefern lernende Maschinen den Suchenden nicht nur Treffer, sondern Informationen. Dabei ist Bing Search erstaunlich treffsicher – auch wenn der Informationsstand, wie manche Tests nahelegen, vorerst irgendwie auf dem Stand von 2021 stehengeblieben ist. Bing Search muss also noch nachsitzen. Aber Microsoft hat letzte Woche ein Rennen eröffnet, in dem eigentlich Google mit Bard von der Pole-Position starten wollte.

Doch die schnell anberaumte Microsoft-Präsentation hat Google nicht nur den Start versaut. Auch die peinlichen Fehler bei der Vorstellung der Google-KI haben dazu geführt, dass das Feld nun von Microsoft angeführt wird. Seit 20 Jahren warte er darauf, mit Google auf dessen Hometurf konkurrieren zu können, sagte Microsofts CEO-Satya Nadella bei der Ankündigung von Bing Search nicht ohne Genugtuung.

Allerdings: Noch beherrscht Google geschätzte 92 Prozent des Suchmaschinenmarkts, dessen Geschäftsmodell darin besteht, kostenlose Services durch Werbeeinnahmen querzufinanzieren. Dieses Quasi-Monopol mag die Aufmerksamkeit vom Management im Googleplex zu lange und zu intensiv auf die Weiterentwicklung des Google Assistants gelenkt haben, wo die KI-Entwicklung zu spät in Angriff genommen wurde. Dabei war man gewarnt, nachdem Microsoft vor Jahren die erste Milliarde Dollar in das Startup OpenAI gepumpt hatte. Ein „Code Red“ für eine die Marktposition von Google bedrohende Technologie hat Google damals intern schon gegen das Startup verhängt. Aber das war auch alles.

Jetzt ist Bing Search so etwas wie Microsofts „iPhone-Moment“ – und zugleich eine ungewohnte Position für Bing, die unter Suchmaschinen lange Zeit nur unter „ferner liefen“ rangierte. Doch getreu dem Marketing-Grundsatz – „lieber in einem neuen Markt der Erste als in einem alten Markt ewiger Zweiter“ – hat sich Microsoft vorerst an die Spitze der Bewegung gesetzt. Und dieser neue Markt der KI-gestützten Suche und Sprachassistenz verspricht ein Milliarden Euro schweres Business zu werden. Die zehn Milliarden Dollar, die Microsoft in den ChatGPT-Erfinder OpenAI investiert hat, werden sich noch als Schnäppchen erweisen.

Denn Chatbots, Spracherkennung und lernende Maschinen werden praktisch jede heute existierende Software-Sparte revolutionieren. Schon länger hilft KI bei der Abwehr von Cyberangriffen – allerdings auch beim Ausspionieren von Passwörtern. Schon lange durchforstet KI große Datenmengen, um Analysen und Schlussfolgerungen zu liefern – zum Beispiel im Gesundheitswesen. Aber jetzt wird künstliche Intelligenz auch die Leistungsfähigkeit von klassischen Produktivitätslösungen wie Textverarbeitung, Tabellenkalkulation oder Mail zu neuen Horizonten führen. Und auch Unternehmenslösungen wie Customer Relationship Management oder Enterprise Resource Planning werden jetzt den Sprung ins 21. Jahrtausend tun. Überall dürften die Märkte aufgemischt werden. Keine gute Nachricht für in die Jahre gekommene Platzhirsche.

Die Chancen, die sich daraus gerade für mittelständische Anwender ergeben, sind gigantisch. Weil sie nicht die Personalstärke haben, um ganze Abteilungen mit Anforderungen des Gesetzgebers zu beschäftigen, sind sie durch Bürokratie besonders stark belastet. Schon die Formulierung eines Förderantrags bei der KfW bindet so viel Expertise, die im täglichen Geschäft fehlt, dass sich für viele die Suche nach einer Investitionshilfe zumal bei ungewissem Ausgang gar nicht mehr lohnt. Nicht auszudenken, wenn sich dies künftig durch einen KI-gestützten Chatbot bewerkstelligen ließe. Auch Aufgaben wie Nachweispflichten und Dokumentationen interner Abläufe könnten künftig durch KI-gestützte Produktivitätstools deutlich vereinfacht werden.

Und diesen Markt geht Microsoft nun an allen Fronten an – nicht nur bei der Suchmaschinen-Technologie. Kurz zuvor wurde die Collaboration-Software Teams in der Premium-Version mit KI-Funktionen unterlegt. Und in den nächsten Wochen kommen KI-Funktionen in die Office-Suite im Rahmen von Microsoft 365. Aber mit Ernie hat sich auch der chinesische Datenriese Baidu schon ins Rennen um KI-gestützte Lösungen geworfen – und auch dort wird im ersten Schritt der Suchmaschine Baidu neues Leben eingehaucht.

Das alles sind an sich gute Nachrichten – wäre da nicht die bittere Erkenntnis, dass diese Entwicklungen wieder einmal außerhalb von Europa stattfinden. Ganz zu schweigen von Deutschland, wo sich mit dem Hype um ChatGPT auch gleich der Abwehr-Hype einstellte. KI ist nun mal für viele der Gottseibeiuns. Aber wenn wir diese Haltung beibehalten sollten – geraten wir eher in Teufels Küche. Denn wenn im Software-Markt die Karten jetzt gemischt werden, könnte es sein, dass die heimische Software-Szene nicht einmal mehr am Spieltisch sitzt.

Medizin auf dem Weg zur exakten Wissenschaft

Seit mehreren Jahrzehnten erobert ein kleiner Drache Schritt für Schritt – oder Wort für Wort – die Arztpraxen rund um den Globus. Die Software „Dragon Naturally Speaking“ erlaubt es Ärzten, ihre Diagnosen oder Verschreibungen einfach zu diktieren und automatisch einer Patientenakte hinzuzufügen. Die „Voice-to-Text-Software“ Dragon ist in einer Home-Version auf den Sprachgebrauch eines Normalbürgers ausgelegt und lernt mit jedem Diktat dazu. In der Spezialversion für den Gesundheitssektor aber beherrscht Dragon von Anfang an komplizierteste medizinische Fachbegriffe .

Microsoft hat diese Software im Jahr 2021 für 19,4 Milliarden Dollar übernommen, um erstens seine eigene Gesundheitslösungen durch Speech-Recognition zu erweitern, zweitens aber auch, um seine Office-Angebote wie zum Beispiel Teams zu befähigen, automatisch Transkripte des in Meetings Besprochenen niederzuschreiben. Davon profitierten während der Corona-Lockdowns weltweit die im Homeoffice sitzenden Büroangestellten – aber eben auch internationale Ärzteteams, die sich – ganz im Sinne der Telemedizin – an ihren Bildschirmen zusammensetzen, um einen komplizierten Fall oder Studienergebnisse durchzusprechen. Man könnte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach nach seinen Erfahrungen mit Voice-to-Text fragen, denn seine Verbindungen nach Harvard und anderen Denkschulen finden ebenfalls meist Online statt.

Doch was wäre, wenn eine künstliche Intelligenz künftig aus den diktierten ärztlichen Diagnosen für Laien verständliche Ärztebriefe formulieren würde? Genau das ist das Potential, das in der neuesten Generation von KI-gestützten Sprachlösungen wie ChatGPT steckt. Diese „Generative KI“ ist in der Lage, auf der Basis von Stichworten eigenständig Texte zu entwickeln, die sowohl das Niveau von Hausaufgaben, Klausuren aber eben auch von populären Fachbeiträgen erreichen könnten. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie aus vorliegenden Studien eine seriöse Sekundärstudie entwerfen kann. ChatGPT ist sozusagen der große Bruder von Dragon – und auch hier hat Microsoft mit zehn Milliarden Dollar ein nennenswertes Investment in das dahinter stehende Startup OpenAI getätigt.

Auch KI-Lösungen wie IBMs Watson haben schon dabei geholfen, Tausende von Studien zu durchforsten und neue Erkenntnisse zu schürfen.

Die Auswertung von bildgebenden Verfahren wie Röntgen oder Computertomografie erfolgt mit Hilfe von KI exakter, weil die Bilderkennungssoftware aus Millionen von vergleichbaren Aufnahmen gelernt hat und auch für das menschliche Auge nur schwer zu erkennende Abweichungen sofort identifizieren kann. Und nicht zuletzt kann KI auch dabei helfen, die von sogenannten Fitness-Trackern produzierten Daten so zusammenzufassen, dass belastbare Aussagen nicht nur über den einzelnen Patienten, sondern über ganze Studiengruppen getätigt werden können.

Bei so vielen Einsatzmöglichkeiten ist es nicht überraschend, dass beispielsweise ein Unternehmen wie VinBrain jetzt eine umfassende Kooperation mit Microsoft geschlossen hat, um eine KI-basierte Komplettlösung für das Gesundheitswesen im eigenen Land aufzubauen. Ein Ergebnis ist DrAid TM, eine bereits von der amerikanischen Food and Drug Administration freigegebene Software für die Röntgendiagnostik. Basis für die Software ist ein Datensatz von 2,3 Millionen Röntgenbildern aus den USA, Europa und Asien sowie die von Radiologen markierten Befunde.

Auch das Unternehmen SK Group will mit Microsoft umfassende Lösungen im Medizin- und Pflegesektor entwickeln und dazu auf künstliche Intelligenz zurückgreifen. Ein Anwendungsfeld, das bereits im Einsatz ist, sind Diagnosen bei Computertomographie und Magnetoresonanztomographie, deren Genauigkeit medizinischer Studien zufolge bereits über 70 Prozent liegt. Ein weiteres Einsatzfeld ist „Medical Insight Plus Cerebral Hemorrhage“ zur Analyse von Gehirnblutungen, die über die Azure Cloud allen Krankenhäusern des Landes zur Verfügung steht.

Nur: VinBrain ist ein vietnamesisches Unternehmen, die SK Group wiederum hat ihren Sitz im südkoreanischen Seoul. Entsprechende Vereinbarungen in Deutschland sind dagegen allenfalls im Stadium des Visionären. Denn genau hier wird eine Grenze überschritten, die durch die europäische Datenschutz-Grundverordnung und die noch darüber hinausgehende Dataphobie der deutschen Datenschützer gezogen wird. Denn die achten das Recht der informationellen Selbstbestimmung höher als die Chance, durch KI-gestützte Datenanalyse bessere Diagnosen, Therapien und Vorsorge zu treffen und damit womöglich Menschenleben zu retten.

Abhilfe könnte hier das Projekt ODELIA schaffen, das mit Beginn des neuen Jahres ins Leben gerufen wurde. Das Open Consortium for Decentralized Medical Artificial Intelligence will in den nächsten fünf Jahren die Hindernisse bei der Datenerfassung im Gesundheitswesen durch den Einsatz von Schwarmlernen überwinden. Zu diesem Zweck werden die Verbundpartner KI-Modelle trainieren, ohne persönliche Patientendaten weitergeben zu müssen. Das ODELIA-Projekt wird von der Europäischen Union im Rahmen des Forschungs- und Innovationsprogramms Horizon Europe mit insgesamt 8,7 Millionen Euro gefördert.

Jahrtausendelang lebten Diagnose und Therapie im Gesundheitswesen von der Intuition der Ärzte und Pfleger. Deshalb wird der Medizin mitunter das Etikett einer exakten Wissenschaft – wie etwa der Physik – abgesprochen. Mit künstlicher Intelligenz könnte sich das ändern und einer datengestützten Medizin Raum geben. Wir müssen den Lösungen nur trauen – und uns trauen.