Hum? War was?

1913 wird ja unter führenden Feuilletonisten als das Wunderjahr bezeichnet, in dem praktisch auf allen Gebieten der Kunst und Wissenschaft Bahnbrechendes geleistet wurde. Nur auf dem diplomatischen Parkett war das Jahr bedauerlicherweise eine politische Tiefschlafphase, was sich aber erst ein Jahr später so richtig negativ auswirkte.

Ganz anders steht dagegen das Jahr 2013 da: Auf diplomatischer Ebene wurde uns gerade noch mit der Freilassung Michail Chodorkowskijs vorgeführt, was der altliberale „Genschman“ noch so alles drauf hat. Das Feuilleton in diesem Jahr jedoch beherrscht ein Mann, der ebenfalls ganz gern ein Visum für Deutschland hätte: Edward Snowden. Seine Enthüllungen dominierten die geisteswissenschaftliche Debatte ebenso wie die politischen Auseinandersetzungen des Jahres 2013. Wenn es in der Rückschau einen Titel für das zu Ende gehende Jahr gibt, dann der: „2013 – das Jahr, in dem wir aufwachten“.

Ohne die wirklichen menschlichen Tragödien (Bürgerkrieg in Syrien, Flutkatastrophe auf den Philippinen) verniedlichen zu wollen – die Erkenntnis, dass auch unter Freunden auf Vertraulichkeit kein Verlass ist, dass Privatsphäre eine Utopie ist, dass das technisch Machbare längst das Undenkbare überholt hat, diese Erkenntnis hat uns aus einem naiven Dämmerschlaf der Ahnungs- und Sorglosigkeit gerissen.

Dabei hätten wir es wissen müssen – hätten wir nur unseren Tom Clancy richtig gelesen…

In vielen seiner Bücher beschreibt der in diesem Oktober verstorbene US-Schriftsteller Geheimdienstaktivitäten. In seinem 2000 erschienen Buch „Im Zeichen des Drachen“ (englisch: The Bear and The Dragon) beschrieb er die Abhörmethoden der NSA, die allerdings aus heutiger Sicht geradezu harmlos wirken. Aber 2000 – da waren wir ja noch mit dem Jahrtausendfehler („Y2K“) beschäftigt.

Jetzt leiden wir unter dem Jahrtausendfehler mangelnder Sicherheit im Web – und mit uns zahllose vielversprechende Konzepte. Cloud Computing gehört ebenso zu den Kollateralschäden wie möglicherweise Industrie 4.0. Das muss aber nicht so sein. Es ist schon Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet hinter diesen Visionen einer vernetzten Wirtschaftswelt sich auch der Wille erhebt, auf deutscher und europäischer Ebene Gegenstandards für mehr Datenschutz, Datensicherheit und Privatsphäre im Web zu etablieren. Der europäische Tiger will auch beißen können.

Es passt irgendwie ins Bild, dass das IT-Jahr 2013 neben Edward Snowden einen zweiten Dauerhelden hervorbrachte: Steve Ballmer. Sein Ringen, mit Microsoft in der dynamisch sich entwickelnden Welt des Mobile Computing Anschluss zu finden, hatte in den letzten zwölf Monaten die Züge einer klassischen Tragödie, an deren Ende der Held abdankt, die Welt aber gerettet wird.

Demnach wäre hier Nokia der Kollateralschaden. Oder war es doch eher eine Rettung in letzter Minute? Das freilich wäre ein Element der Komödie. Und in der Tat: Microsofts Ringen um eine Migrationsstrategie vom Personal Computing zum Mobile Computing oszilliert zwischen Tragödie und Komödie. Wir werden erst 2014 wissen, wie die Geschichte ausgeht – und unter wessen Führung.

Ansonsten: Twitter ist an der Börse.

War da was?

In die Wege leiten

Der Ton aus Washington war eher ätzend: Deutschlands Exportüberschuss wirke wettbewerbsverzerrend. Und schuld daran sei vor allem die schwache Binnenkonjunktur. Die Einschätzung aus Brüssel war im Ton deutlich freundlicher, in der Sache aber kommen die EU-Kommissare zu einem ähnlichen Urteil: Nicht dass die deutsche Industrie von Exportrekord zu Exportrekord eile, sei das Problem, sondern die Tatsache, dass die Binnennachfrage äußerst zurückhaltend bleibe.

Dabei ist die Nachfrage riesig – sie wird nur nicht gestillt.

Wir haben zum Beispiel eine enorme Nachfrage nach einem funktionierenden Schienennetz, dessen Erneuerung um 20 Jahre hinterherhinkt und bereits heute unter einem Investitionsrückstau von 30 Milliarden Euro leide, wie Bahnchef Rüdiger Grube vorrechnet. Und sollte sich am derzeitigen Investitionsplan nichts ändern, dann werde sich der Rückstau auf 50 Milliarden Euro im Jahr 2020 verlängern, klagt Grube.

Wir haben zum Beispiel auch erhebliche Nachfrage nach intakten Brücken und Kreuzungsbauwerken, nach schlaglochfreien Innenstadtstraßen und vernünftigen Verkehrsleitsystemen, die uns rechtzeitig vor Staus warnen oder dafür sorgen, dass sie gar nicht erst entstehen. Der geschäftsführende Verkehrsminister kündigt Milliardeninvestitionen in die Erneuerung der Straßen an, aber bis 2030 wird sich das Verkehrsaufkommen in Deutschland verdoppeln, rechnet der Deutsche Industrie- und Handelskammertag vor. Wir haben einen Bedarf, dass der drohende Verkehrsinfarkt – der Superstau – vermieden wird.

Die Nachfrage nach zusätzlichen Energiebrücken und –trassen, mit denen die Verteilungsprobleme mit Wind- und Sonnenkraft  ausgeglichen werden können, beläuft sich auf 1800 Trassenkilometer. Aber davon seien erst gut 200 realisiert, bemängeln die Industrie- und Handelskammern.

Und es besteht rege Nachfrage nach einer flächendeckenden Breitbandversorgung. Doch während in den Städten mehr als 50 MBit/s angeboten werden, kommen manche Landstriche nicht einmal auf eine Bandbreite von 2 Mbit/s. Und wie steht es mit abhörsicheren Routern, Glasfaserverbindungen und zentralen Internet-Knoten?

Wir haben in der Tat eine gigantische Binnennachfrage nach Erneuerung unserer Infrastrukturen auf ein Qualitäts- und Sicherheitsniveau, das unser eng getaktetes, hoch entwickelten Gemeinwesen nicht behindert, sondern zu mehr Wertschöpfung führt. Doch 57 Prozent der im Auftrag von „Bild“ befragten Unternehmen fühlen sich durch die Infrastrukturmängel behindert.

Wir fahren, surfen und verteilen mit angezogener Handbremse.

Da ist es nur folgerichtig, wenn jetzt in den Verhandlungen, die in Berlin zur dritten großen Koalition der Bundesrepublik führen sollen, auch über den Zuschnitt der Ministerien neu verhandelt wird. Infrastrukturentscheidungen werden bislang zwischen Zuständigkeiten und Finanzierungsvorbehalten  zerredet und auf die lange Bank geschoben. Energienetz im Umweltministerium, Datennetze im Wirtschafts- oder Innenministerium, Verkehrsnetze im Verkehrsministerium. Es führt in die falsche Richtung, wenn zwischenzeitlich erst ein Internetminister gefordert und dann ein Energieminister in die Debatte geworfen wird.

„Ausgerechnet Gabriel“ titelte jetzt die FAZ, als sie dem SPD-Vorsitzenden Siegmar Gabriel das Verdienst zuerkannte, jetzt einen ersten Schritt auf ein Infrastrukturministerium zu wagen, in dem die Themen Energie und Wirtschaft zusammengefasst werden. Aber warum nicht gleich alle Netzstrukturen zusammenfassen? Die Bundesnetzagentur sieht ihre Aufgabe offensichtlich ganzheitlicher als das sie führende Ministerium. Sie übt ihr Mandat für mehr Wettbewerb und gegen diskriminierenden Netzzugang heute schon für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und die Eisenbahnen aus. Analog wäre ein Bundesnetzministerium für den forschen Ausbau dieser Infrastruktur zu sehen.

Es wird Zeit, dass ein Bundeswirtschaftsministerium aus seinem jahrzehntelangen Dornröschenschlaf erwacht und mehr leistet, als gut gemeinte Anregungen für die Kollegen in den Fachministerien zu formulieren. Das Projekt „Industrie 4.0“ ist vor allem ein Projekt „Infrastruktur 4.0“. Es wird Zeit, dass es eine Heimat bekommt. Es käme einer großen Koalition zu, ein solches Mammutprojekt in die Wege zu leiten.

Ciao CIO

Fast möchte man mit der bösen Königin fragen: „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Wichtigste im Land?“ Und der Spiegel in Walt Disneys Märchenschloss in Orlando würde unweigerlich zu antworten haben: „Frau Königin, Ihr seid die wichtigste hier. Aber der CIO hinter den sieben Servern ist noch tausendmal wichtiger als Ihr!“ Nirgendwo sonst wird der Chief Information Officer so hofiert wie auf dem Gartner Orlando Syposium/ITxpo, das soeben zu Ende ging. Und mit immerhin 500 Einzelsessions mit zusammengenommen 8500 Besuchern ist das auch die größte Ansammlung von CIOs weltweit. Jeder vierte Gast, rund 2100 Besucher, nannte diese Berufsbezeichnung.

Gartners Vizepräsident Peter Sondergaard brachte es in seiner Keynote auf den wunden Punkt: Der oder die CIO repräsentiert deshalb das wichtigste Amt im Unternehmen, weil aus den disruptiven Kräften der Informations- und Kommunikationstechnologie die entscheidenden Impulse für das zukunftsorientierte Unternehmen kommen – egal, ob in der Industrie, in der Dienstleistung oder im Finanzsektor.

Denn jedes Unternehmen ist unabhängig von seiner Kernkompetenz, seinen Kernmärkten und seinen Kernprodukten zunächst einmal eine technologiegetriebene Firma. Und Technologie meint hier insbesondere: ITK. Alle Zukunftsentscheidungen, so Sondergaards Credo, werden demnach von der IT-Strategie beeinflusst. Deshalb sagt Gartner auch eine Umwertung der Werte voraus: Künftige Finanz- und Investitionspläne im Unternehmen sind vor allem IT-Budgets.

Cloud Computing, Social Collaboration, mobiles Internet und das Internet von so gut wie fast Allem – einschließlich großen Datensammlungen aus dem Input von Search Engines und Sensoren, Aktoren und Autoren – werden jede langfristig strategische und kurzfristig taktische Entscheidung beeinflussen. Ja, sie sind im Grunde genommen die wahren Treiber dieser Entscheidungen. Sondergaard ist sich sicher, dass zum Beispiel Konsumgüterhersteller in zunehmendem Maße ihr Produktdesign direkt aus dem Feedback ihrer über das Web verbundenen Kunden assimilieren. Was gut ist und was nicht, das entscheidet künftig nicht mehr das Marketing, sondern die Schwarmintelligenz der weltweiten Kunden. Schon übernächstes Jahr, ist sich Gartner sicher, werden Konsumgüterhersteller, die sich vom Schwarm steuern lassen, leicht besser abschneiden als die, die noch auf die eigene Marktintelligenz setzen.

Das klingt happig, ist aber noch nicht einmal die alarmierendste aller Voraussagen, mit denen Gartner die Bedeutung des Chief Information Officers, der also eigentlich ein Chief Sourcing Officer sein wird, untermalt.  Bis zum Jahr 2017 nämlich, so mutmaßt Gartner, werden 75 Prozent der privaten Konsumenten ihre personenbezogenen Daten zusammenstellen und gegen Rabatte bei ihren wichtigsten Lieferanten eintauschen. Statt also mehr Verbrauchersicherheit und Datenschutz zu verlangen, geht es den gläsernen Käufern künftig nicht um mehr Anonymität, sondern um mehr Kreditwürdigkeit. Das ist Transparency in einer völlig neuen Auslegung.

Die wird sich laut Gartner auch in Bezug auf Datensicherheit ins völlige Gegenteil umkehren. Der Chief Information Officer des Jahres 2020 wird sich im Kampf um Geheimhaltung unternehmenskritischer Daten geschlagen geben, weil er erkennt, dass er Dreiviertel des Daten- und Mailaufkommens schlichtweg nicht vor dem Zugriff Dritter schützen kann. Die Sicherheitsstrategie im dritten Jahrzehnt dieses Jahrtausends wird also lauten: Lasset die Raubkopierer zu mir kommen.

Und nicht nur die Daten werden zum Gemeingut – ein Großteil der Produkte selbst wird es auch. Dazu führt unweigerlich das Aufkommen von 3D-Druckern, die es Wettbewerbern und Kunden, die in den Besitz von gerenderten Produktansichten kommen – und wer sollte das in der multimedialen Welt des Jahres 2020 nicht schaffen? –, erlauben, sich ihre eigenen Raubkopien zu produzieren. Nur Hightech-Produkte sind dann noch vor der Reproduktion aus dem Drucker geschützt. Aber so ein Designerteil wie, sagen wir, eine „Nana“ von Niki de Saint Phalle wäre dann schnell gemacht. Schade nur, dass die sich als Mitbringsel auch nicht mehr eignet. Die hat sich ja dann schon jeder selbst gedruckt.

Am Ende aber – und das sagte Gartner auf dem Symposion in Orlando nicht – wird auch der Chief Information Officer nicht zu retten sein. Denn wenn Daten und Güter frei durchs Web – oder wie das Internet of Everything dann auch immer gerade heißen wird – mäandern, dann ist auch die individuelle IT-Strategie frei verfügbar. IT ist so disruptiv, dass es sogar die Kinder der eigenen Revolution frisst.

Apropos: Microsofts Noch-CEO Steve Ballmer gab auf dem Gartner Symposion eine seiner letzten großen Keynotes – launig, spritzig, witzig. Die CIOs des Jahres 2013 werden ihn vermissen – bis sie selbst verschwinden…